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Das Briefwerk Uwe Johnsons

von Jasmin Rittler (Autor:in)
©2016 Dissertation 272 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin befasst sich mit Uwe Johnsons bislang in der Forschung wenig beachteten Briefen. Sie untersucht seine Korrespondenzen mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, den Schriftstellerkollegen Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Max Frisch, Fritz J. Raddatz, Walter Kempowski, Martin Walser, der Philosophin Hannah Arendt und den Professoren Lotte Köhler und Manfred Bierwisch.
Mit dieser Untersuchung wird Johnson als Briefeschreiber greifbar, sein soziales Netzwerk sichtbar und die Bedeutung der Briefe hinsichtlich seiner Literaturproduktion erkennbar. Die Autorin zeigt in diesem Band erstmals auch Johnsons Stellung im DDR-Überwachungsstaat anhand abgefangener Briefe.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • 1. Einleitung
  • 2. Johnson als Briefschreiber
  • 2.1 Johnsons Briefwerk im Kontext der Briefkultur des 20. Jahrhunderts
  • 2.2 Versuch einer Bestandsaufnahme
  • 2.3 Briefe und Briefwechsel in der Forschung
  • 2.4 Material
  • 2.5 Johnsons Umgang mit dem Medium Brief – individuelle Besonderheiten
  • 2.5.1 Das Briefgeheimnis
  • 2.5.2 Das verletzte Briefgeheimnis und seine Folgen
  • 2.5.3 Der Brief als Ausdruck von Lebensweise und Literaturproduktion
  • 2.5.4 Briefformalitäten und ihre Bedeutung
  • 2.5.4.1 Ort und Datum
  • 2.5.4.2 Begrüßung
  • 2.5.4.3 Abschied
  • 2.5.5 Johnsons autobiografische Selbstinszenierung im Brief
  • 3. Die Briefpartner
  • 3.1 Briefwechsel mit Siegfried Unseld
  • 3.1.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.1.2 Starthilfe in ein neues Leben
  • 3.1.3 Zwischen Freundschaft und Geschäftsbeziehung
  • 3.1.4 Der Streit um das Erbe Johnsons und die Belebung einer Legende
  • 3.1.5 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.2 Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger
  • 3.2.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.2.2 Gemeinsames Arbeiten, politisches Debattieren und freundschaftliche Gesten
  • 3.2.3 Das Ende einer Freundschaft – Der Skandal um die Kommune I
  • 3.2.4 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.3 Briefwechsel mit Günter und Anna Grass
  • 3.3.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.3.2 Nachbarschaftshilfe – Der Skandal um die Kommune I
  • 3.3.3 Briefkorrespondenz mit Anna Grass
  • 3.3.4 Briefkorrespondenz mit Günter Grass
  • 3.3.5 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.4 Briefwechsel mit Max Frisch
  • 3.4.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.4.2 Von Werksdebatten und Ehebruchsdiskussionen
  • 3.4.3 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.5 Briefwechsel mit Fritz J. Raddatz
  • 3.5.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.5.2 Thematische Darstellung der Briefinhalte
  • 3.5.3 Das Scheitern der Ehe Uwe Johnsons
  • 3.5.4 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.6 Briefwechsel mit Hannah Arendt
  • 3.6.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.6.2 Thematische Darstellung der Briefinhalte
  • 3.6.3 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.7 Briefwechsel mit Walter Kempowski
  • 3.7.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.7.2 Mecklenburgische Verbundenheit?
  • 3.7.3 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.8 Briefwechsel mit Lotte Köhler
  • 3.8.1 Zahlen, Fakten, Daten
  • 3.8.2 Trauer um Hannah Arendt
  • 3.9 Briefkorrespondenz mit Manfred Bierwisch
  • 3.9.1 Das bedrohte Briefgeheimnis
  • 3.9.2 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 3.10 Martin Walser
  • 3.10.1 Der geheime Briefkasten: Korrespondenz mit Martin Walser und Günther F. Seelig
  • 3.10.2 Verknüpfung zwischen Werk und Brief
  • 4. Fazit und Ausblick
  • 5. Literaturverzeichnis
  • 6. Abbildungsverzeichnis
  • 7. Siglenverzeichnis
  • 8. Anhang
  • 8.1 Literaturangaben zu Johnsons Briefen und Briefwechseln in der Sekundärliteratur
  • 8.2 Vorläufige Liste der Briefpartner
  • 8.3 Über eine Haltung des Protestierens
  • 8.4 Ein Brief aus New York
  • 8.4.1 Johnsons erster Entwurf aus dem Briefwechsel mit Enzensberger
  • 8.4.2 Johnsons zweiter Entwurf aus dem Briefwechsel mit Enzensberger
  • 8.4.3 Johnsons Umsetzung der Entwürfe in den Jahrestagen
  • 8.5 Offener Brief
  • 8.5.1 Hans Magnus Enzenbergers Offener Brief
  • 8.5.2 Johnsons Reaktion auf Enzensbergers Offenen Brief in den Jahrestagen
  • 8.6 Vorfassung der Skizze eines Verunglückten im Briefwechsel mit Max Frisch
  • 8.7 Zitatensammlung zu Johnsons Abschiedsformen
  • 8.8 Zitatensammlung zum Brief

Jasmin Rittler

Das Briefwerk Uwe Johnsons

Autorenangaben

Jasmin Rittler studierte Germanistik und Psychologie an der Universität Regensburg. Sie ist aktuell als Psychologin tätig.

Über das Buch

Die Autorin befasst sich mit Uwe Johnsons bislang in der Forschung wenig beachteten Briefen. Sie untersucht seine Korrespondenzen mit dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, den Schriftstellerkollegen Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Max Frisch, Fritz J. Raddatz, Walter Kempowski, Martin Walser, der Philosophin Hannah Arendt und den Professoren Lotte Köhler und Manfred Bierwisch.

Mit dieser Untersuchung wird Johnson als Briefeschreiber greifbar, sein soziales Netzwerk sichtbar und die Bedeutung der Briefe hinsichtlich seiner Literaturproduktion erkennbar. Die Autorin zeigt in diesem Band erstmals auch Johnsons Stellung im DDR-Überwachungsstaat anhand abgefangener Briefe.

Zitierfähigkeit des eBooks

Diese Ausgabe des eBooks ist zitierfähig. Dazu wurden der Beginn und das Ende einer Seite gekennzeichnet. Sollte eine neue Seite genau in einem Wort beginnen, erfolgt diese Kennzeichnung auch exakt an dieser Stelle, so dass ein Wort durch diese Darstellung getrennt sein kann.

1. Einleitung

In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Veränderungen und Fortschritte in der Uwe-Johnson-Forschung ergeben. Das Johnson-Archiv ist im Jahr 2009 von seinem ursprünglichen Standort in Frankfurt am Main nach Marbach am Neckar umgezogen und war dort zwischenzeitlich untergebracht.1 Die Uwe Johnson-Gesellschaft mit Sitz in Rostock wurde am 26. Februar 2010 ins Leben gerufen. Der Unternehmer Dr. Ulrich Fries übernahm im Jahr 2012 das Uwe Johnson-Archiv von der Suhrkamp-Stiftung und brachte es in eine Stiftung ein. Seit Oktober 2012 befindet sich das Archiv in seinen neuen Räumlichkeiten der Universitätsbibliothek Rostock und wird nun sowohl der Universität Rostock als auch der Uwe Johnson-Gesellschaft für wissenschaftliche Forschungsprojekte und Erschließungsarbeiten zur Verfügung gestellt.2 Zahlreiche Neuerscheinungen haben zudem die Forschungsliteratur bereichert: So ist im Jahr 2009 der Briefwechsel zwischen Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger erschienen, und Katja Leuchtenberger brachte im Dezember 2010 eine neue Johnson-Biografie auf den Markt. Es folgten die Publikation des 16. Johnson-Jahrbuches im Februar 2011 sowie die im März 2011, im Dezember 2011, im November 2012 und 2013 herausgegebenen Johnson-Jahrbücher der Uwe Johnson-Gesellschaft. Auch Johnsons Bedeutung im Kontext der DDR-Geschichte wird zum einen durch Beiträge des Uwe Johnson-Symposiums Klütz mit dem Titel Uwe Johnson und die DDR-Literatur, zum anderen durch den von Burkhart Veigel herausgegebenen Band Ich wollte keine Frage ausgelassen haben. Gespräche mit Fluchthelfern beleuchtet. Der erstgenannte Band setzt sich primär mit Johnsons Bezug zur DDR-Literatur auseinander und versucht zu klären, ob Johnson aus heutiger Sicht als ostdeutscher Autor3 verstanden wird und wie sich←11 | 12→ dies auf die Bedeutung seiner Person und seiner Werke nach dem Scheitern des DDR-Systems auswirkt.4 Die von Veigel herausgegebenen Interviews Johnsons mit den Fluchthelfern der Girrmann-Gruppe entstanden aus der Absicht Johnsons heraus, ein Buchprojekt zu diesem Thema umzusetzen, was letztlich nicht umgesetzt wurde. Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und nun erstmals in Buchform herausgegeben. Veigel liefert in seinem Nachwort Gründe für Johnsons nachdrückliche und nahezu skeptische Interviewführung und gelangt letztlich zu dem Schluss, dass Johnson nicht an die Existenz von Menschen mit echte[m] Altruismus5 geglaubt habe. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass die Beschäftigung mit Johnsons Biografie sowie die Analyse seiner sozialen Beziehungen häufig Raum für Vermutungen schaffen, was schlicht an Johnsons Verschwiegenheit liegt.

Seit das Uwe Johnson-Archiv sowie die Uwe Johnson-Gesellschaft ihren Sitz in Rostock haben, hat die Forschungsintensität zugenommen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll ebenfalls ein Beitrag zu den fortschreitenden Prozessen in der Uwe-Johnson-Forschung geleistet werden. Da bisher lediglich Rezensionen und wissenschaftliche Diskussionsbeiträge zu den Briefwechseln Uwe Johnsons vorliegen,6 sollen Johnsons Briefe nun in einer Monografie behandelt werden mit dem Schwerpunkt darauf, seine brieflich gepflegten Beziehungen zu untersuchen, vor allem um den Raum des Spekulativen einzugrenzen. Des Weiteren versucht diese Arbeit mehrere Forschungsrichtungen miteinander zu verflechten, denn die Briefe liefern wertvolle Erkenntnisse, die auch für andere Fachrichtungen, wie beispielsweise die Psychologie, Soziologie, Geschichte und Politik, interessant sein könnten. Die johnsonschen Briefe stellen eine historische Quelle in Bezug auf die DDR-Politik dar, sie liefern Kenntnisse über den durch das politische System beschränkten Literaturbetrieb. Sie zeigen einen Autor, der aus psychologischer Sicht aufgrund seines zwanghaften Vorgehens bei der Arbeit, seines Bagatellisierungsverhaltens und durch seine Trinkgewohnheiten psychopathologisch auffällig ist, und sie spiegeln das Sozialverhalten einer speziellen Literatengruppe wider. Die literaturwissenschaftliche Analyse greift bei der Auseinandersetzung mit Johnsons Briefwerk auch die Beschäftigung mit der von Michel Foucault geprägten Begrifflichkeit der Autorfunktion7 auf, wobei hier primär die neueren literaturwissenschaftlichen Strömungen eine Rolle spielen: Konkret ist im Rah←12 | 13→men der Untersuchung ein Bezug zu Dirk Niefangers Thesen hergestellt worden, der nach dem realen Autor und dessen Selbstinszenierung fragt.8

Es ist nicht einfach den vorliegenden Forschungsbeitrag einer eindeutigen Forschungsmethode zuzuschreiben, da eben mehrere Forschungsrichtungen als auch Methoden bei der Untersuchung zum Tragen gekommen sind. Da die Arbeit ein umfangreiches Untersuchungsspektrum liefert, wobei primär literarische und historische Aspekte dargeboten werden, ist die Arbeit am ehesten im Kontext der Verflechtungsgeschichte einzuordnen.9 Johnson, der sich selbst nicht mit der Formel Dichter beider Deutschland10 identifizierte, wird jedoch aus heutiger Betrachtung als ein Paradebeispiel für die deutsch-deutsche Geschichte herangezogen.11 Die Arbeit schafft durch die Perspektivenvielfalt ein komplexes Bild von Uwe Johnson als Briefeschreiber, was dazu einlädt, die Briefe anhand neuer Forschungsarbeiten aus fachlich benachbarten Betrachtungswinkeln heraus zu analysieren.

Hübsch wie schnell die Post geht, oder?,12 mit dieser rhetorischen Frage beschließt Johnson am 11. Dezember 1962 seinen Brief an Siegfried Unseld. Die Vorzüge, die der schnelle Briefaustausch im 20. Jahrhundert zu bieten hatte, nutzte Johnson eifrig, um seine schriftliche Kommunikation voranzutreiben.13 Es befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung etwa 80 Kästen mit Briefmaterial im Uwe Johnson-Archiv,14 die als Beweis für Johnsons umfängliches Korrespondenznetzwerk gelten. Johnsons überlieferter Briefverkehr setzt im Jahr 1952 ein und endet mit seinem Tod im Jahr 1984. In diesen 32 Jahren des Briefeschreibens hat sich Johnson eine eigene Briefkultur geschaffen. Historisch prägende Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg15 werden in seinen Briefen thematisiert und diskutiert, wie vor allem die Briefkorrespondenzen mit Hannah Arendt, Manfred Bierwisch, Hans←13 | 14→ Magnus Enzensberger und Siegfried Unseld belegen. Doch neben der brieflichen Darstellungsweise der aktuellen politischen Situation zeichnet sich Johnsons Konstrukt seines persönlichen Erlebens ab. Letzteres meint vor allem auch Johnsons Inszenierung seines eigenen Selbstbildes. Um dieses bestimmte Bild von sich und seiner Umwelt kreieren zu können, arrangierte er die Darstellung seiner Biografie, seines literarischen Schaffens und seine sozialen Beziehungen.

Natürlich ist bei einem Schriftsteller zu berücksichtigen, dass die Darstellung seines Lebens, seiner Werke und seiner Mitteilungen Inszenierungscharakter aufweisen können, denn der Literat ist sich seiner öffentlichen Position meist bewusst. Overlack vergleicht den Dichterbrief mit einer kleine[n] Bühne,16 auf der die Beteiligten ihre Stücke selbst inszenieren. Wie der Adressat reagiert, das heißt also, ob er die Darstellungsweise des Senders mitträgt oder nicht, sagt etwas über das Verhältnis der beteiligten Briefpartner zueinander aus. Dies wird beispielsweise an Johnsons brieflichen Schilderungen seines Herzinfarktes deutlich. Seine Bagatellisierungsversuche rufen unterschiedliche Reaktion hervor. Arendt lehnt Johnsons Darstellung strikt ab und fordert ernst zu nehmende Auskünfte,17 während Kempowski sich brieflich gar nicht äußert.18 Kritiker könnten die unterschiedlichen Mitteilungszeitpunkte als Ursache für die ungleichen Reaktionen anführen, was allerdings keine hinreichende Erklärung für Johnsons unterschiedliche Darstellungsweisen liefern würde, da primär die verschiedenen Beziehungsqualitäten für die jeweiligen Briefreaktionen verantwortlich zu machen sind.

Wie bereits erwähnt, ist sich der Literat seiner Rolle im Brief bewusst. Er weiß, dass der Leser, und damit ist nicht nur der eigentliche Adressat, sondern ein lesendes Publikum gemeint,19 von ihm literarisches Agieren in den Briefen erwartet. Der Literat weiß außerdem, dass seine Briefe von der Nachwelt gelesen werden können, vor allem weil der Brief oft eine, laut Täubrich, modifizierte Form des Voyeurismus [ist], der die Verkaufszahlen jedes neu veröffentlichten Briefwechsels bekannter historischer Persönlichkeiten in die Höhe schnellen läßt.20 Es sei der un←14 | 15→mittelbare Zugang zum Leben und Empfinden anderer Menschen,21 der ein derartiges Verhalten auslöse. Um die Neugier und die Neigung des Menschen, sich für private Belange anderer zu interessieren, wusste Johnson.

Inwieweit er beabsichtigte, seine Briefkorrespondenzen zu publizieren, soll an einem Briefauszug mit Martin Walser verdeutlicht werden.22 Dort schreibt Johnson, dass sich eine Publikation zumindest für die Nachfahren lohnen würde. Es finden sich aber in den Briefkorrespondenzen vereinzelt Ausschnitte, in denen Johnson fordert, der Briefpartner solle seine Briefe vernichten,23 andererseits thematisiert er aber beispielsweise mit Unseld, wie ein veröffentlichter Briefwechsel gestaltet sein könnte.24 Da Johnson bereits mit 49 Jahren verstarb, ist es nicht möglich zu eruieren, ob und in welchem Umfang Johnson beabsichtigte, seine Korrespondenzen zu veröffentlichen, deshalb werden lediglich Tendenzen präsentiert, die Johnsons Einstellung zur Briefpublikation wiedergeben.

Teilweise verfasste Johnson Briefe mit der Absicht, sie später einmal zu publizieren, weshalb die Briefe Johnsons hinsichtlich der Gestaltung und der Inhalte kritisch zu beurteilen sind: Es gilt zu beachten, dass Johnson seine Briefe bis ins kleinste Detail penibel plante und dass die Adressaten, die überwiegend Literaten, Künstler und Akademiker waren, sich selbst ebenfalls in Szene zu setzten wussten. Um den ‚tatsächlichen‘ Gehalt solcher Briefe erfassen zu können, werden bei der Analyse der Briefe folgende grundsätzliche Fragestellungen berücksichtigt: Welche Perspektive möchte der Schreiber den Leser einnehmen lassen und was soll dadurch betont und hervorgehoben und was im Verborgenem bleiben beziehungsweise was soll verschleiert werden? Warum wird eine bestimmte Situation genauso geschildert und nicht anders? Inwiefern sind die dargestellten Gefühle und Berichte eines Schreibers authentisch? Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, muss zuerst erschlossen werden, welcher ‚brieflichen Standards‘ sich der Literat bedient. Also etwa, welche Briefmaterialien er überwiegend verwendet, welche Begrüßungs- und Abschiedsformen er wählt, wie er prinzipiell von Ereignissen und persönlichen Erlebnissen berichtet und natürlich, mit welchen Menschen er verkehrt. Erst durch die Gewinnung solcher Fakten können Abweichungen erkannt und Besonderheiten erschlossen werden.

Die leitende Fragestellung bei der Analyse von Johnsons Briefwerk lautet daher: Was können die Briefe über Johnson aussagen beziehungsweise welches Bild kann von Johnson als Briefeschreiber gewonnen werden? Gegenstand der←15 | 16→ Untersuchung sind die bislang veröffentlichten Briefkorrespondenzen von Uwe Johnson mit Siegfried Unseld, Hans Magnus Enzensberger, Günter und Anna Grass, Max Frisch, Fritz J. Raddatz, Hannah Arendt, Walter Kempowski sowie der nicht in einer eigenen Edition erschienene Briefwechsel mit Lotte Köhler.25 Auch die Korrespondenz mit Jochen Ziem wird in die Analysen eingehen, allerdings aufgrund der fehlenden Adressaten-Schriftstücke nicht gesondert betrachtet. Des Weiteren werden bislang unveröffentlichte Briefe von Manfred Bierwisch, Martin Walser und Günther F. Seelig mit in die Untersuchungen einfließen. Das hier behandelte Material besteht insgesamt aus 1308 Briefen sowie mehreren Grafiken und neuem Fotomaterial.

Um einen ersten Zugang zu den johnsonschen Briefen zu erhalten, wird zunächst das Briefmaterial an sich untersucht, denn oft sind es eben nicht nur die tatsächlich niedergeschriebenen Worte und Inhalte, die den ‚wahren‘ Kern einer Mitteilung an die Oberfläche transportieren. Zum Beispiel lässt sich an einem Brief, der auf zerknittertem Papier geschrieben wurde und zahlreiche Fehler enthält, erkennen, dass der Schreiber bestenfalls in Eile war oder er sein Gegenüber nicht genügend wertgeschätzt hat. Bei Johnson entstehen diese Tippfehler, für die er sich auch zumeist entschuldigt, wenn er entweder eine neue Schreibmaschine benutzt26 oder seine Schreibmaschine technische Defekte aufweist.27 Ein Brief hingegen, verfasst auf hochwertigem Papier und womöglich noch mit Siegel oder einem speziellen Briefkopf geziert, zollt dem Adressaten Respekt und stellt den Absender als ehrenwert und den Anlass als wichtig heraus. Dies gilt auch für Johnson, der stets auf hochwertiges Briefpapier achtete.28 Bei Frisch gelingt es ihm einmal nicht, und er schreibt: bitte, verzeihen Sie mir solche Sorte Papier […] es sind Umstände einer Vorlese-Reise […].29

Das Erscheinungsbild eines Briefes sagt somit auch immer einiges über den Schreiber selbst aus: Ist er chaotisch, schlampig, gewissenhaft, romantisch, verträumt, sachlich oder überaus korrekt? All dies lässt sich an seiner Briefgestaltung erkennen – daran, welches Briefpapier verwendet, ob der Brief handgeschrieben oder maschinell erstellt wurde und wie schnell Antwortbriefe versendet wurden.30←16 | 17→

Im Rahmen der Untersuchung soll deshalb zuerst das Offensichtliche ermittelt werden: Welches Papier, welche Tinte und welcher Schreibmaschinentyp wurde von Johnson verwendet, um dann im nächsten Schritt durch dessen Analyse zu den nicht sofort offensichtlichen Informationen zu gelangen. Die Beobachtung, dass Johnson beispielsweise anfänglich per Hand mit schwarzer Tinte auf Leinenpapier schreibt und später mit der Schreibmaschine auf Verlagspapier tippt, legt offen, dass es zwischenzeitlich eine Veränderung in Johnsons Lebensweise gegeben haben muss. Hier fallen gleich mehrere Aspekte zusammen, etwa dass Johnson vom Studenten zum Schriftsteller wurde, der durch seine Verbindungen zum Suhrkamp-Verlag nun auch Zugang zu qualitativ hochwertigem Papier hatte, dass er sich das handschriftliche Schreiben nur noch für Postkarten vorbehielt, zum einen weil er wegen seiner Handschrift getadelt wurde, zum anderen weil er durch seine Frau Elisabeth in den Besitz einer Schreibmaschine gekommen war – dies sagt im Übrigen auch etwas über das frühe Beziehungsstadium der Eheleute aus. Die Wahl von stets gutem Briefpapier zeigt, welchen Stellenwert das Briefeschreiben für Johnson hatte. Anhand der verschiedenen Schreibmaschinentypen und der verwendeten Briefformate lassen sich Johnsons Reiselust und seine Auslandsaufenthalte erkennen. Auch das Verwahren der Durchschläge in eigens angelegten Ordnern lässt auf Johnsons Persönlichkeitsstruktur und auf Ängste, die sich durch ein starkes Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis äußerten, schließen. Es wird bereits an dieser Stelle deutlich, wie tief diese zum Teil trivial wirkenden Aspekte des Briefes mit Johnsons Gefühlsleben, seinen persönlichen Wahrnehmungen und Anschauungen verwoben sind.

In einem weiteren Analyseschritt wird anhand verschiedener Aspekte versucht zu ermessen, welchen Zweck die Briefe für Johnson erfüllen und welches Bild er von sich selbst in den Briefen zeichnet. Hierzu wird zunächst die Anzahl der Briefe, die Johnson zu Lebzeiten verfasste, ermittelt, um Aussagen über sein Kommunikationsverhalten treffen zu können, wie beispielsweise ob er ein eifriger oder mäßiger Briefeschreiber war. Auch die Beobachtung, mit wem und wie lange Johnson brieflichen Kontakt hielt, liefert Auskünfte zu seiner Person. Es ist, wie bereits erwähnt, auffallend, dass Johnson scheinbar nicht ohne Grund mit zahlreichen Künstlern und Literaten im Kontakt stand, zumal seine Briefaktivitäten besonders ausgeprägt sind, wenn er an einem literarischen Werk arbeitete beziehungsweise wenn eines seiner Werke erschienen war.31 Viele Briefkontakte Johnsons hielten über mehrere Jahrzehnte an, was deutlich macht, dass Johnson an verlässlichen und dauerhaften Bindungen interessiert war. Da zudem seine Briefpartner überwiegend männlichen←17 | 18→ Geschlechts sind, nehmen die Korrespondenzen mit Frauen eine Sonderstellung ein, die sich auch in Johnsons Briefgestaltung deutlich abzeichnet.32 Eine weitere Besonderheit der Briefgestaltung zeigt sich, wenn Johnson mit älteren Personen im schriftlichen Kontakt steht wie beispielsweise mit Max Frisch oder Hannah Arendt.33 Die Untersuchung des sozialen Netzwerkes belegt, dass Johnsons Korrespondenzen stets übergeordnete Zwecke zu erfüllen haben. Dazu zählt vor allem Johnsons Kreierung eines sich selbst auferlegten Images wie zum Beispiel das des literaturverständigen Kritikers und des politisch versierten Bürgers, der sich für seine ‚Heimaten‘ engagiert.34 Die Schaffung einer selbst gewählten und für die Öffentlichkeit brauchbaren Dichterbiografie scheint eines seiner wichtigen Ziele bei der Verfassung seiner Briefe gewesen zu sein. Dabei versucht Johnson, persönliche und vertrauliche Komponenten durch verschiedene Strategien zu kontrollieren, um so ein Bild von sich zu schaffen, das einen skandalfreien, moralisch korrekten und sprachgewandten Autor zeigt. Des Weiteren dienten die Briefe zur Inspiration, was vor allem in den Jahrestagen zum Tragen kommt, denn Johnson verwendet dort Briefinhalte zur Gestaltung der entsprechenden Einträge.35 Teilweise wurden die Briefe, um eine finanzielle Einnahmequelle zu schaffen, verfasst, wie aus manchen Briefkorrespondenzen hervorgeht.36

Aufgrund des hohen Stellenwertes, den die Briefe in Johnsons Leben aus verschiedensten Gründen einnahmen, wird Johnsons Umgang mit dem Medium Brief untersucht, um dabei zu klären, wie beispielsweise Johnson seine Post bearbeitete und welche Kriterien ihm beim Briefeschreiben wichtig waren.37 Die Beleuchtung dieser Aspekte könnte das Bild von Johnson, der sich in der Diskrepanz befand, einerseits ein Briefeschreiber aus Leidenschaft zu sein und andererseits ein Dichter, der Briefe hauptsächlich im Bewusstsein der öffentlichen Zurschaustellung verfasste, erweitern und präzisieren.←18 | 19→

Nach Auswertung der ‚äußeren‘ Briefkriterien wird anhand der ausgewählten acht Briefwechsel nachgezeichnet, wie Johnson seine Beziehungen im Brief gestaltet und welche Strategien er dabei anwendet. Zunächst wird erneut von dem ‚Offensichtlichen‘ ausgegangen. Das beinhaltet unter anderem die Untersuchung der Briefformalitäten und ihrer Funktionalität. Unter den Begriff der Briefformalitäten fällt die Analyse der Rubriken ‚Ort und Datum‘, ‚Begrüßung‘ und ‚Abschied‘.38 Johnson schafft es durch seine kreative und individuelle Nutzung dieser banalen Formalitäten, seine emotionale Verbundenheit zum Briefpartner, unabhängig der Wertung (positiv vs. negativ), zum Ausdruck zu bringen. Oftmals sind hier Johnsons authentische Gefühle eingearbeitet, und er erreicht mit dieser spezifischen Schreibart, auf subtile Art und Weise, eine enorme Wirkung, die anhand der Antwortschreiben der Adressaten deutlich wird. Wer mit Johnson in Kontakt stand, musste ein feines Gespür für dessen Chiffrierungsversuche entwickeln, vor allem deshalb, weil Johnson wenig von sich preisgab, und wenn er dies tat, dann kontrolliert, wie die Auswahl und die systematische Abarbeitung immer wiederkehrender Themen im Brief sichtbar machen.39 Es soll in diesem Zusammenhang auch herausgearbeitet werden, inwiefern Johnson, der in seinen brieflichen Mitteilungen sehr wohl auch klare Worte findet, hier den Brief als Medium für den Übergang von privaten Mitteilungen zum Werk nutzt.

Es ist gewissermaßen natürlich, dass Briefe versteckte Botschaften beinhalten, da der Brief im engeren Verständnis stets ein Geheimnis, das nur einer bestimmten Person beziehungsweise einem bestimmten Personenkreis offenbart werden soll, in sich birgt. Das Briefgeheimnis wird rechtlich seit 1949 durch das Grundgesetz mit dem Artikel 10 geschützt.40 Trotz dieser Regelung wurde die Post sowohl in der BRD als auch in der DDR überwacht und das Briefgeheimnis gebrochen.41 Täubrich stellt folgerichtig dar, dass es genau diese Art von Geheimnis selbst ist, die [h]armlose Neugier, (An-) Teilnahme, Mitwissen-Wollen, Schnüffelei, Intrige, Spionage, Kontrolle [und] Zensur42 verursachen kann. Bezüglich Spionage und Kontrolle machte Johnson seine eigenen Erfahrungen: Er musste erleben, wie er durch das DDR-←19 | 20→System eingeschränkt wurde, und ahnte, dass seine Briefe von der Stasi überwacht wurden. Wie Johnson zum Briefgeheimnis steht und wie er es zu schützen versucht, wird anhand seiner Testamentsentwürfe43 und an den von der Stasi abgefangenen Briefen deutlich. Diese Briefe stellen zudem Johnsons politisches Agieren im DDR-System dar und zeichnen ein Stück Kulturgeschichte nach.44

Doch Johnsons Verdienst reicht weit über die bloße Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in seinem Briefwerk hinaus, wie Fritz J. Raddatz in seinem Nachruf angesprochen hat:

Da hat nun einer sich von uns wegbegeben, der nie wirklich >>da<< war, Teil von irgend jemandem schon gar nicht: ein Autor, dessen Prosakunst – das steht längst fest und ist ganz unumstößlich – die Literatur dieses Jahrhunderts prägte; eine eher peinliche Platitüde inzwischen, spätestens nach Vollendung dieser grandiosen Sondierung unser aller Versehrung, die Jahrestage heißt.45

Dieses Zitat rühmt einerseits Johnsons Leistungen, offenbart aber zugleich, wie Johnson von seinen Zeitgenossen, hier im Falle von Raddatz, eingeschätzt wurde. Johnsons verschwiegene und oft unnahbare Art wird von vielen seiner Briefpartner thematisiert, und der Wunsch nach Nähe und Vertraulichkeit wird in deren brieflichen Mitteilungen deutlich. Es wurde bereits angedeutet, dass diese Distanziertheit eine von Johnson eingesetzte Strategie ist, um einerseits sein Selbstbild entsprechend nach außen zu gestalten. Andererseits stellt dies eine Taktik dar, um den Briefpartner zu manipulieren. Um das erkennen zu können, stehen im ersten Analyseabschnitt die allgemeingültigen Aspekte zu Johnsons Briefwerk im Vordergrund. Es werden Johnson Briefbestand, das Material, die Briefgestaltung und die behandelten Themen, unter Berücksichtigung der politischen Zeitgeschehnisse, untersucht. Der zweite Schritt beinhaltet die Untersuchung von Johnsons Sozialkontakten hinsichtlich ihrer individuellen Beschaffenheit,46 in der Annahme, dabei auf wichtige Strategien und Techniken zu stoßen, die Johnson in den Briefen anwendet, um seine Wirklichkeit darzustellen. Bei diesen Strategien und Techniken handelt es sich unter anderem um ‚Verschleierungsstrategien‘, einen bewusst eingesetzten ‚Nähe-Distanz-Wechsel‘ und um ‚kontrollierte Emotionalität‘, die Johnson primär zur Erreichung seiner Ziele einsetzt.←20 | 21→

Durch die hier sogenannte ‚Verschleierungsstrategie‘ bewirkt Johnson in seinen Briefen, dass er durch unpräzise Angaben, wie beispielsweise bei der Darstellung seines Herzinfarkts oder bei der Trennung von seiner Frau, den Briefpartner dazu verleitet, weitere Fragen zu stellen. Meist lässt er diese Nachfragen unbeantwortet oder erteilt bruchstückhaft Auskunft, was häufig dazu führt, dass Briefpartner mit Nachdruck Informationen von Johnson einfordern. Das Verschleiern führt häufig dazu, dass Johnson auf seine Briefpartner verschlossen, geheimnisvoll und unnahbar wirkt, was allerdings den Effekt hat, das Kommunikationsbestreben beim Adressaten zu steigern. Des Weiteren stellt er mit dieser Strategie sicher, dass seine Biografie nicht deutlich an die Oberfläche gelangt, denn er lässt durch die Fragen seiner Briefpartner Raum für Spekulationen. Er lässt sie vermuten, wie es ihm gehe, ohne dabei selbst etwas zu sagen. Als Hannah Arendt dieses Vorgehen einmal beim Namen nennt, freut sich Johnson über ihre Beobachtungsgabe, was wiederum ein Beweis für Johnsons taktisches Vorgehen beim Schreiben ist. Diese Methode bewirkt zudem, dass auch ein später lesendes Publikum sich kein eindeutiges Bild von Johnson erschließen kann, denn der zeitliche Abstand erschwert den Zugang zu den brieflichen Mitteilungen, zumal auch das Verständnis für Johnsons Persönlichkeit und dessen Handlungsweisen weiter in die Ferne rückt.

Der sogenannte ‚Nähe-Distanz-Wechsel‘ bewirkt, wie die ‚Verschleierungsstrategie‘, dass der Adressat verunsichert wird, denn einmal ist ihm Johnson so nahe und im nächsten Moment auch wieder nicht. Dieser Wechsel sorgt dafür, dass die Freundschaft nicht statisch bleibt, man sich umeinander bemühen muss, wobei meist Johnson ‚umworben‘ wird, da er sich häufig ungerecht behandelt fühlt und bei seinem Briefpartner Schuldgefühle auslöst. Es ist etwa zu beobachten, dass, immer wenn Johnson ein bestimmtes Anliegen bei seinem Gegenüber anbringen möchte, er Nähe suggerierende Bausteine in seine Briefe einfließen lässt wie Scherze, herzliche Anreden, Betonen von Gemeinsamkeiten und herzlichen Abschied. Dieser Wechsel an Emotionen führt auch dazu, dass die Personen, die Johnson um Rat fragt, vor allem nach einer Distanzphase, sich aufgrund der plötzlichen Zuwendung wichtig fühlen und ihre Meinung wertgeschätzt glauben und sich daher noch mehr engagieren, um Johnsons Bitte nachzukommen. Dieser Wechsel zeigt aber auch, wie schwer es für Johnson ist, Nähe und freundschaftliches Interesse zu ertragen, denn sobald ein brieflicher Austausch zu sehr in die emotionale Tiefe zu gleiten droht, zieht sich Johnson zurück. Dies tut er auch, wenn er sich in seiner emotionalen Ausdrucksweise missverstanden fühlt.

‚Kontrollierte Emotionalität‘ meint das Phänomen, dass Johnson seine eigenen Emotionen nur soweit mitteilt, wie er es für dienlich erachtet. Er ist in sei←21 | 22→nen Briefen darum bemüht, das der Situation angemessene Maß beim Ausdruck emotionaler Botschaften zu finden, was zum Beispiel daran zu erkennen ist, dass Johnson, wenn er einen emotionsgeladenen Brief verschicken möchte, vorab mehrere Entwürfe verfasst, bis er schließlich seine entsprechende Version gefunden hat. Diese Briefentwürfe wirken dann oft wie eine Art Ventil für Johnsons erste emotionale Reaktion, die sich von Entwurf zu Entwurf verändert und abschwächt. Auffallend ist, dass bei Johnson überwiegend zwei Emotionen vorherrschen, nämlich entweder Wut oder Melancholie. Die Strategie der ‚kontrollierten Emotionalität‘ meint aber auch, dass Johnson brieflich nicht auf emotional negative beziehungsweise problematische Ereignisse seiner Briefpartner reagiert. Grundsätzlich ist festzustellen, dass Johnson bemüht ist, Emotionalität gekonnt und dosiert in seinen Briefen einzusetzen. Dies kann in jedem der hier untersuchten Briefwechsel beobachtet werden, woraus sich auch die verschiedenen Abhängigkeitsgefälle der Briefpartner in der Analyse erkennen lassen.

Insgesamt betrachtet führt die Analyse der Briefkorrespondenzen zu der Erkenntnis, dass Johnsons Briefe äußerst konstruiert sind, zum einen was den Rahmen selbst, sprich die gewählten Formalitäten, zum anderen was die Gestaltung der emotionalen Belange betrifft. Des Weiteren wird Johnsons Kontrollbedürfnis durch verschiedene, seinen Briefen beigelegte Dokumente, wie zum Beispiel Kopien von Briefen, die er aus Sicherheitsgründen einer weiteren Person zukommen ließ, und auch diverse Zeitungsausschnitte, deutlich. Johnsons akribischer Umgang mit der Post, angefangen von der Abholung beim Postamt, der Sortierung der Briefe, der Beachtung einer Reihenfolge beim Verfassen der Antwortschreiben, der Einbeziehung seiner Ehefrau in den Briefverkehr sowie die Personifizierung seiner Schreibmaschine, um nur einige Punkte zu nennen, lassen erkennen, wie wichtig Johnson das Briefeschreiben war. Es sind die kleinen Details, die zeigen, was Johnson über das Briefeschreiben transportieren möchte. Es zeichnet sich ein vielseitiges Bild von Johnson, dem Briefeschreiber ab: Man findet in seinen Briefen einen weltoffenen, reiselustigen, charmanten, politisch und historisch geprägten Literaten wieder, der durch seine Wortgewandtheit und seine sprachkünstlerische Ausdrucksweise seine Briefpartner zu fesseln weiß. Er zeigt sich in seinen Briefen gern auch von der Seite des literarisch bewanderten, scharfen Kritikers, der mit analytischem Sachverstand die Werke anderer Schriftsteller rezensiert. Obwohl Johnson über seine Familie nur wenig Informationen offenbart, finden sich Mitteilungen, die Johnson als einen familienbetonten und treuen Menschen auszeichnen. Auch wenn die Briefe private und persönliche Inhalte aufweisen, sind sie doch eher zweckgebunden und dem Literaturbetrieb verschrieben.←22 | 23→

Des Weiteren ist erkennbar, dass Johnsons Briefwerk aufgrund der hohen Literarizität, die die Briefe aufweisen, in Verbindung mit seinen Werken zu bringen ist. Es liegt die Vermutung nahe, dass Johnson seine Briefe gezielt verwendete, um seine Werke weiter voranzutreiben. Inwiefern dieser Prozess stattgefunden hat und wie er sich unter Umständen im Werk widerspiegelt, soll an Johnsons Werk Jahrestage und an der Skizze eines Verunglückten nachvollzogen werden. Die Darstellung dabei ist nicht auf Vollständigkeit angelegt. Es sollen nicht jeder einzelne Brief und nicht jeder Eintrag der Jahrestage dargestellt werden, sondern es werden lediglich die wichtigsten Aspekte herausgegriffen und ein Gesamteindruck vermittelt. Ziel der Arbeit ist es, Johnson als individuellen Briefeschreiber dargestellt, seine Strategien und Absichten erkennbar gemacht zu haben und die Antwort auf die Eingangsfrage, nämlich was sagen die Briefe über Johnson aus, gefunden zu haben.

Vielleicht bestätigt sich Raddatz’ Eindruck, dass Johnson nie wirklich da war, auch in den Briefen, und die Untersuchung zeigt womöglich, dass man dort nur die bloße Hülle von Johnsons selbst geschaffenem Konstrukt vorfindet.←23 | 24→ ←24 | 25→


1 Das Johnson-Archiv wurde von mir im Jahr 2010 besucht, daher stammen auch alle neu gewonnenen Briefmaterialien ursprünglich aus der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, was in den nachfolgenden Ausführungen mit den Siglen DLA-Marbach abgekürzt wird. Die Signaturen für die jeweiligen Schriftstücke, die des Weiteren mit Uwe Johnson-Archiv Rostock, UJA/H/ [Nr., Bl.] versehen sind, stammen jedoch nachträglich, aufgrund des Umzuges des Archivs im Jahr 2012 vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach nach Rostock, aus dem sich aktuell befindlichen Uwe Johnson- Archiv in Rostock (Depositum der Johannes und Annita Fries Stiftung).

Details

Seiten
272
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631700631
ISBN (PDF)
9783653072525
ISBN (MOBI)
9783631700648
ISBN (Hardcover)
9783631677384
DOI
10.3726/978-3-653-07252-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Briefwechsel DDR-Geschichte Literaturproduktion Selbstinszenierung Briefgeheimnis Brieffreundschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. IIC, 272 S., 27 Abb.

Biographische Angaben

Jasmin Rittler (Autor:in)

Jasmin Rittler studierte Germanistik und Psychologie an der Universität Regensburg. Sie ist aktuell als Psychologin tätig.

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Titel: Das Briefwerk Uwe Johnsons
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