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Zur Frage der gesetzlichen Tatbestandsmäßigkeit bei rechtlich relevantem Sexualverhalten

von Sara Thienhaus (Autor:in)
©2016 Dissertation 326 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin befasst sich mit dem Vorliegen menschlicher Sexualität und nimmt dabei Bezug auf deren rechtliche Relevanz. Neben der geschichtlichen Entwicklung des Sexualstrafrechts erörtert sie dazu insbesondere die Formen und Ausprägungen von Sexualität (Paraphilien) sowie die Frage nach der Schuld des Täters. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Aufzeichnung aktueller Missstände im Bereich des Sexualstrafrechts sowie auf der Erstellung eines Reformvorschlags für ein kommendes, liberaleres Sexualstrafrecht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Teil: Einführung
  • I. Einleitung
  • II. Untersuchungsgegenstand und Gang der Arbeit
  • 2. Teil: Historie des Sexualstrafrechts
  • I. Entwicklung und Wandel
  • II. Immoralität vs. Sozialschädlichkeit
  • 1. Ein Blick in die Geschichte
  • 1.1 Moral und Recht im Rahmen religiöser Glaubensvorstellung
  • 1.2 Vom Mittelalter bis in die Neuzeit
  • 1.3 Neue Lehren – Von der Aufklärung bis hin in die Moderne
  • 1.4 Das Sexualstrafrecht auf dem Weg in die Moderne
  • 1.4.1 Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871
  • 1.4.2 Die Sittlichkeitsdelikte innerhalb des Strafgesetzbuches zu Beginn des 20. Jahrhunderts
  • 1.4.3 Das Sexualstrafrecht im Dritten Reich in den Jahren 1933–1945
  • 1.4.4 Weitere Entwicklungen in den Jahren 1945 bis heute: Die Strafrechtsreform- und Strafrechtsänderungsgesetze
  • 2. Delikte wider die Sittlichkeit
  • 3. Wesen und Zweck von Strafe; die Lehre vom Rechtsgüterschutz
  • 3.1 Der Rechtsgütergedanke nach Birnbaum
  • 3.2 Weitere Strömungen in der Strafrechtswissenschaft
  • 3.2.1 Der Schulenstreit
  • 3.2.2 Lombrosos Lehre
  • 4. Zusammenfassung
  • III. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
  • 1. Entwicklungsstufen
  • 1.1 Gesetzliche Entwicklung
  • 1.1.1 Wiederaufnahme der großen Strafrechtsreform
  • 1.1.2 Das 4. Strafrechtsreformgesetz
  • 1.1.3 Weitere Strafrechtsänderungsgesetze
  • 1.1.4 Das 33. Strafrechtsänderungsgesetz als Vorbote der Reform sowie das 6. Strafrechtsreformgesetz
  • 1.1.5 Abschließende Änderungen
  • 1.2 Gesellschaftliche Faktoren
  • 1.3 Einflussreiche Studien über die menschliche Sexualität
  • 1.4 Veränderungen und Einflüsse der Rechtsprechung
  • 2. Zusammenfassung
  • IV. Fazit
  • 1. Gewonnene Erkenntnisse
  • 2. Entscheidende Faktoren
  • 2.1 Sexualmoral innerhalb der Gesellschaft
  • 2.2 Gesetzliche Veränderungen
  • 2.3 Verständnis vom Zweck und Wesen des Strafrechts
  • 2.4 Europäisierung des Rechts
  • 3. Schlussfolgerung
  • 3. Teil: Sexuelle Präferenzen und Paraphilien – Zwischen Anpassung und Delinquenz
  • I. Allgemeine Erläuterung
  • 1. Historischer Ursprung
  • 2. Begriffsbestimmung
  • II. (Abweichungs-)Formen sexuellen Begehrens
  • 1. Sexuelle Abweichung vs. Paraphilie
  • 2. Differenzierung der Paraphilien – Strafrechtlich relevante und strafrechtlich nicht relevante Paraphilien
  • 2.1 Paraphilien ohne grundsätzlich strafrechtlichen Bezug
  • 2.1.1 Der Fetischismus
  • 2.1.2 Der fetischistische Transvestismus
  • 2.1.3 Multiple sexuelle Präferenzen
  • 2.2 Paraphilien mit teilweise strafrechtlichem Bezug
  • 2.2.1 Voyeurismus und Frotteurismus
  • 2.2.1.1 Voyeurismus
  • 2.2.1.2 Frotteurismus
  • 2.2.2 Sadismus und Masochismus
  • 2.2.2.1 Sadismus
  • 2.2.2.2 Sadistischer Masochismus
  • 2.2.2.3 Subformen des Sadismus und Masochismus
  • 2.3 Paraphilien mit strafrechtlichem Bezug
  • 2.3.1 Exhibitionismus
  • 2.3.2 Pädophilie
  • 3. Psychoanalyse und Psychodynamik der problematischen Paraphilien
  • 3.1 Psychoanalytischer Erklärungsansatz nach Freud
  • 3.2 Weitere Erklärungsansätze
  • 3.3 Die Symptomatik der Paraphilien im Einzelnen
  • 3.3.1 Die Symptomatik des Fetischismus, Voyeurismus und Frotteurismus sowie des Exhibitionismus
  • 3.3.2 Die Symptomatik des Sadomasochismus
  • 3.3.3 Die Symptomatik der Pädophilie
  • 4. Exkurs: Paraphilien bei Frauen
  • III. Begutachtung bei Paraphilien
  • 1. Psychische Symptomatik und Therapiemöglichkeiten
  • 2. Das Schuldprinzip
  • IV. Fazit
  • 1. Zusammenfassung
  • 2. Schlussfolgerung
  • 4. Teil: Sexualdelinquenz – Straftaten und ihre Beteiligten
  • I. Offene Fragen und Problemfelder
  • 1. Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und deren Entwicklung
  • 1.1 Die grundlegende Um- und Neugestaltung der Vorschriften
  • 1.2 Das geltende Sexualstrafrecht – de lege lata
  • 1.2.1 Der Begriff der sexuellen Handlung
  • 1.2.2 Die Erheblichkeitsschwelle
  • 1.3 Übergriffe im Rahmen der Schutzbereiche der §§ 174 ff.
  • 1.3.1 Handlungen mit Körperkontakt
  • 1.3.2 Handlungen ohne Körperkontakt – mit Wahrnehmungsbeziehung
  • 1.3.3 Handlungen ohne Wahrnehmungsbeziehung
  • 1.4 Ausschluss der Strafbarkeit im Rahmen der §§ 174 ff.
  • 1.5 Frauen als Sexualstraftäterinnen
  • 1.6 Exkurs: § 218 als Angriff auf das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau
  • 2. Kritik am geltenden Sexualstrafrecht
  • 2.1 Abschnittsüberschrift
  • 2.2 Systematische Stellung der Vorschriften
  • 2.3 Strafniveau und Umfang innerhalb der Tatbestände
  • 2.4 Altersgrenze
  • 2.5 Rechtgüterschutzaspekt vs. Moralwidrigkeit
  • 2.6 Einwilligung und Einverständnis im Rahmen von Sexualität behinderter Menschen
  • 2.7 Fehlende Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
  • 3. Zusammenfassung
  • II. Anregungen zu einem kommenden Sexualstrafrecht
  • 1. Telos der Normen
  • 1.1 Keine Strafe ohne Opfer
  • § 184 Abs. 1 – Verbreitung pornografischer Schriften.
  • § 184a – Verbreitung gewalt- oder tierpornografischer Schriften
  • § 184c Abs. 1 – Verbreitung, Erwerb und Besitz jugendpornografischer Schriften
  • §§ 184d,184e –Zugänglichmachen und Abruf pornografischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien; Abruf kinder- und jugendpornografischer Inhalte mittels Telemedien. Veranstaltung und Besuch kinder- und jugendpornografischer Darbietungen
  • § 180a Abs. 2 Nr. 2 Fall 1 –Anhalten zur Prostitution
  • § 184g – Jugendgefährdende Prostitution
  • § 176 Abs. 4 Nr. 2 – Bestimmen zur sexuellen Handlung
  • 1.2 Keine Vorfeldkriminalisierung
  • § 176 Abs. 4 Nr. 3– Einwirken auf ein Kind mittels Schriften
  • § 182 Abs. 4 – Versuchsstrafbarkeit des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen
  • 1.3 Keine Wertungswidersprüche
  • § 176 Abs. 5 – Anbieten und Versprechen eines Nachweises eines Kindes zum sexuellen Missbrauch sowie die Verabredung zu einem solchen nach den Taten der Abs. 1–4
  • § 176a Abs. 2 Nr. 1 – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern
  • § 179 Abs. 5 Nr. 1 – Schwerer sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen
  • § 182 Abs. 1 und 2 – Missbrauch durch die Vornahme sexueller Handlungen unter Ausnutzung einer Zwangslage oder gegen Entgelt
  • 2. Systematik des Abschnitts
  • 2.1 Aufhebung der Tatbestände aus dem 13. Abschnitt
  • § 176 Abs. 3 – Besonders schwere Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern
  • § 176a Abs. 1– Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern
  • § 179 Abs. 3 – Besonders schwerer Fall des sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen
  • § 179 Abs. 5 Nr. 2 – Qualifikation der gemeinschaftlichen Tatbegehung
  • § 180 Abs. 1 Förderung sexueller Handlungen an Kindern und Jugendlichen
  • § 180a Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 – Ausbeuten von Prostituierten
  • § 181a Abs. 1 Nr. 2 – Dirigierende Zuhälterei
  • § 181a Abs. 3 – Ehegattenzuhälterei
  • § 182 Abs. 3 – Missbrauch durch sexuelle Handlungen unter Ausnutzung der fehlenden Fähigkeit des Opfers zur sexuellen Selbstbestimmung
  • 2.2 Systematische Umstellung der Tatbestände innerhalb des 13. Abschnitts
  • § 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 1- Besonders schwerer Fall
  • § 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 – Besonders schwerer Fall der sexuellen Nötigung durch gemeinschaftliche Tatbegehung
  • § 177 Abs. 3 Nr. 2 – Bei-Sich-Führen eines sonstigen Werkzeugs oder Mittels unter Verwendungsabsicht
  • § 180 Abs. 3 Förderung sexueller Handlungen an Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeitsverhältnissen
  • §§ 181b, 181c – Führungsaufsicht; Vermögensstrafe und Erweiterter Verfall
  • 2.3 Systematische Neuordnung der Tatbestände des 13. Abschnitts
  • § 183 – Exhibitionismus
  • § 183a – Erregung öffentlichen Ärgernisses
  • § 184f – Ausübung der verbotenen Prostitution
  • 3. Hinreichende Bestimmbarkeit
  • 3.1 Änderung des Wortlauts aufgrund fehlender Bestimmbarkeit
  • § 177 Abs. 1 – Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (Der Gewaltbegriff)
  • § 177 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 – Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung (Die Beischlafsähnlichkeit)
  • § 179 Abs. 5 Nr. 1 – Schwerer sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen (Die Beischlafsähnlichkeit)
  • § 180 Abs. 1 Förderung sexueller Handlungen an Kindern und Jugendlichen
  • § 184b – Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornografischer Schriften
  • § 184d – Zugänglichmachen pornografischer Inhalte mittels Rundfunk oder Telemedien; Abruf kinder- und jugendpornografischer Inhalte mittels Telemedien
  • 3.2 Änderung des Wortlauts aufgrund fehlender Bestimmbarkeit – sofern keine systematische Aufhebung
  • § 176 Abs. 3 – Besonders schwere Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern
  • § 179 Abs. 3 – Besonders schwere Fälle des sexuellen Missbrauchs von widerstandsunfähigen Personen
  • 4. Umfang der Kriminalisierung und des Strafniveaus
  • 4.1 Herabsetzung der Strafe
  • § 176 Abs. 1 – Sexueller Missbrauch von Kindern
  • § 176 Abs. 4 –Mindeststrafmaß von Handlungen ohne Körperkontakt beim sexuellen Missbrauch von Kindern
  • 4.2 Anpassung der Strafrahmen
  • § 179 Abs. 1 – Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen
  • 5. Schließen von Regelungslücken
  • 5.1 Schutzlücken im Bereich von Abhängigkeitsverhältnissen
  • §§ 174a-c – Sexueller Missbrauch in Abhängigkeits- und Autoritätsverhältnissen
  • § 174a – Sexueller Missbrauch von Gefangenen, behördlich Verwahrten oder Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen
  • 5.2 Schutzlücken im Bereich gewaltloser sexueller Übergriffe
  • § 177 Sexuelle Nötigung; Vergewaltigung
  • 5.3 Schutzlücken in Bezug auf Ausbeutungshandlungen minderjähriger Prostituierter
  • § 180a Abs. 2 Nr. 1 – Gewährung von Wohnung, gewerbsmäßiger Unterkunft oder gewerbsmäßigen Aufenthaltes gegenüber einer Person unter achtzehn Jahren zur Prostitutionsausübung
  • 6. Festlegung der Altersgrenze
  • 6.1 Grundsätzliche Überlegung
  • 6.2 Ausnahme: Senkung der Schutzaltersgrenze auf sechszehn Jahre
  • 7. Hinzufügen der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
  • 8. Weitere Überlegungen
  • 8.1 Die (Sexual-)Beleidigung
  • § 185 – Der sexualbezogene Beleidigungstatbestand
  • 8.2 Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung
  • § 232 – Menschenhandel
  • 9. Zusammenfassung
  • III. Systematische Neugestaltung des 13. Abschnitts
  • IV. Fazit
  • Literaturverzeichnis

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1.   Teil: Einführung

I.  Einleitung

Sexualdelikte sind ein Magnet öffentlichen Aufsehens. Rundfunk, Presse und Fernsehen berichten stets unverzüglich und mit großem Engagement, sobald sie Kenntnis über das Vorliegen solcher Straftaten erlangen. Qualität und Sachlichkeit der Berichterstattung durch die sog. „vierte Gewalt“ variieren dabei stark und entsprechen nicht immer den tatsächlichen Gegebenheiten. Ganz nach dem Motto „Sex and Crime sells“ stoßen diese Publizierungen dennoch – unabhängig von ihrer Seriosität und Richtigkeit – auf großes gesellschaftliches Interesse. Sie animieren zum Konsum jedweder Medien und regen zum emotionalen Diskurs an.

Fast kein anderes menschliches Verhalten hat eine derart kulturübergreifende Bedeutung wie das mit dem Geschlechtstrieb zusammenhängende.1 Die Geschichten und Gräueltaten hinter den Schlagzeilen finden in der Bevölkerung immer wieder so viel Anklang, dass sie für die Boulevardpresse zum Verkaufsschlager werden und enorme Anteilnahme erzeugen. Ein derart begangenes Unrecht im Sexualbereich hat für die meisten von uns ein hohes Identifikationspotential mit den Opfern, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass die sexuelle Selbstbestimmung zum absoluten Intimbereich eines jeden einzelnen gehört. Darüber hinaus gibt es aber auch Anzeichen dafür, dass diese Ereignisse bei Bekanntwerden nicht nur als „Sensationen“ gelten, sondern zugleich etwas auslösen, das unheimlich ist, Archaisch-Triebhaftes anspricht und die geordnete Klarheit und Sicherheit des Lebensgefühls eintrübt.2 Kurzum: Sexualstraftaten sind in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend in den Fokus öffentlichen Interesses und Bewusstseins gerückt und das obwohl die Zahl der Sexualdelikte, gemessen an anderen Delikten in Deutschland, relativ gering ist.3 Dennoch erzeugt kaum ein anderes Verhalten mehr Aufmerksamkeit als jenes, welches eine sexuelle Belästigung, Vergewaltigung oder die sexuell motivierte Tötung eines ← 15 | 16 → anderen Menschen zum Gegenstand hat. Im besonderen Maße rücken dabei jene Delikte, die an Kindern und Jugendlichen verübt werden, in den Vordergrund.4 Diese werden als besonders verwerflich angesehen. Die Frage, die sich hierbei aufdrängt, lautet: „Sexualstraftäter, Vergewaltiger und Kinderschänder“ (diese undifferenzierten Begriffe werden zunächst noch gebraucht), was sind das für Menschen und wie können sie nur zu solchen Taten in der Lage sein? Handelt es sich hierbei schlicht um „Monster“ oder „Scheusale“ oder vielmehr um psychologische, biologische und/oder soziologische Abweichler, die im Rahmen ihrer Taten ein „Hilfsprogramm“ in Form einer sog. „Plombe“5 anwenden, weil andere Wege zur Befriedigung der Sexualität und einer inneren Konfliktbewältigung nicht möglich sind? Sollte Letzteres zutreffen, gäbe es weniger Sexualdelikte, wenn man diesen Umstand frühzeitig erkennen und sowohl medizinische als auch juristische Vorkehrungen treffen würde.

Die Gesellschaft, die Kenntnis von einer solchen Straftat erlangt, reagiert vorhersehbar: Entsetzen, Wut und Unverständnis über die Handlung solcher Menschen kommen auf. Einhergehend mit diesen Gefühlen breitet sich Abneigung und Ekel gegenüber den Tätern aus. Dies geht so weit, dass diese nicht selten sozial verstoßen und ausgegrenzt werden.6 Zudem lässt sich beobachten, dass diese Menschen selbst in den Gefängnissen in der Hierarchie der Insassen auf niedrigster Stufe angesiedelt sind. Ein – von anderen Strafgefangenen – verübter körperlicher Angriff ist hierbei keine Seltenheit.7 Die kollektiven und sehr emotionalen Reaktionen der Bevölkerung sind stereotyp und wiederholen sich bei gegebenem Anlass mit großer Verlässlichkeit. „Gefährliche Triebtäter“ und „Lustmörder“ erwecken bestimmte Assoziationen in uns. Für sie haben wir ein großes Spektrum negativer Attribute, Sätze mit plakativen Etiketten, die darauf abzielen, diesen Menschen die Qualität der Menschlichkeit abzusprechen. Sie werden als „gefühllose und brutale Ungeheuer“, „Bestien“ oder „Unmenschen“ bezeichnet.8 Manche Stimmen fordern sogar die Todesstrafe9 und dass man an diesen Menschen all jene Taten begehen sollte, die sie an ihren Opfern verübt haben. ← 16 | 17 →10

An dieser Stelle wird deutlich, dass neben Gefühlen von Unverständnis und Verachtung auch archaische Affekte wie Rache und Vergeltung auftreten, eingekleidet in der Form eines sadistischen Über-Ichs, das nach dem naturalistischen Talionsprinzip in der oben genannten Weise ruft11 und darüber hinaus gefährlich ist. Gefährlich deshalb, weil derartige Motive große Risiken bei der Handhabung solcher Taten bergen. Eine Sanktion, die nur Rachebedürfnisse befriedigt, mag zwar vordergründig aufgebrachte Gefühle beruhigen, verfehlt jedoch ihren Zweck.12 Denn, dass sich solche Gefühle mit unserem Verständnis von Rechtstaatlichkeit nicht vereinbaren lassen, sollte außer Frage stehen. Die Realität sieht jedoch – gerade bei diesen Delikten – häufig anders aus. Es fällt schwer, eine objektive Wertung vorzunehmen und dabei den Ruf der „breiten Masse“ zu überhören. Der Jurist, so sollte man meinen, erkennt dies auf Anhieb, der Laie hingegen ist vor lauter Entsetzen häufig nicht in der Lage, eben diese, zu einer angemessenen staatlichen und gesellschaftlichen Intervention führenden Wertung vorzunehmen. Das ist, wie sich zeigen wird, nicht nur bedauerlich, sondern zugleich auch problematisch.

Eine vereinzelt aufgeklärte und liberale Reaktion ist, diese Menschen in einem oft nicht nachvollziehbaren Sinne als krank zu bezeichnen. Damit wird jedoch freilich die Abwehr nur auf eine andere Ebene verlagert. Denn auch die Attestierung und Etikettierung als „krank“ dient dazu, sich von diesen Menschen zu distanzieren, Gemeinsamkeiten zu negieren und sie aus der Gemeinschaft auszuschließen.13 Doch unabhängig davon, ob krank oder gesund, gilt es in jedem Fall – und besonders aus juristischer Sicht – zu klären, wie man mit diesen Menschen und ihren Taten umzugehen hat. Bei dieser Frage treten zwei wesentliche Begriffe in den Vordergrund: „Strafe“ und „Maßregel“. Die Frage, die jeweils zu stellen ist, lautet daher: „Was erscheint in welchem Fall angebracht und wie geht das Gesetz mit dem Vorliegen einer solchen Straftat um?“ Angesichts der Sinnlosigkeit, allen Sexualstraftätern das Höchstmaß an Strafe aufzuerlegen, sollte immer die Notwendigkeit einer psychologischen Behandlung erwogen werden. Schon Richard von Krafft-Ebing, der Pionier und Begründer eines medizinisch-wissenschaftlichen Ansatzes im Bereich der krankhaften Formen des Sexuallebens, erkannte, dass in manchen Fällen weder die Gefängnisstrafe noch die Todesstrafe geeignete Mittel sind, diesen Menschen und ihren Taten zu begegnen. „Eine Justiz, die nur die Tat und nicht die Täter würdigt, wird immer Gefahr ← 17 | 18 → laufen, wichtige Interessen der Gesellschaft, wie auch solche des Individuums zu verletzen“.14 Folglich sind die Tat und ihre Motive als Ganzes in den Fokus zu rücken, um einen angemessenen juristischen Umgang auf Tatbestandsebene sowie auch im Rahmen der Sanktionen zu erzielen.

II.  Untersuchungsgegenstand und Gang der Arbeit

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, wie sensibel und diffizil die vorliegende Thematik ist. Handelt es sich um ein Verhalten, das sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder deren Entwicklung richtet, so erregt dieser Umstand aufgrund der angesprochenen Emotionen großes Aufsehen. Folglich wird der Ruf sowohl nach repressivem, als auch nach präventivem hoheitlichem Handeln immer lauter, was die komplexe Frage nach der richtigen Intervention aufwirft. Diese Auseinandersetzung, die staatliche wie auch gesellschaftliche Interessen vereint, muss einen legislativen Entscheidungsprozess beherrschen, der dem Staat als regulatorisches Instrument zur Aufrechterhaltung seiner Macht- und Beschützerfunktion dient, die Öffentlichkeit stark interessiert und schließlich auch einen Teil der normunterworfenen Bevölkerung selbst betreffen kann. In einem demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozess werden nicht nur Verhaltensregeln normiert, sondern auch die Voraussetzungen der Sanktionsnormen formuliert. Der legislative Normgeber – als Spruchkörper für strafwürdiges Unrecht – nimmt dabei eine Wertung für seine Rechtsgemeinschaft in allgemein verbindlicher Weise vor.15 Dies tut er, indem er einzelne Straftatbestände, die rechtlich zu beanstandendes Sexualverhalten normieren, in das deutsche Strafgesetzbuch16 aufnimmt und unter Strafe stellt.

Die Schwierigkeit, die sich hierbei ergibt, liegt darin, einerseits das Bestreben eines bestmöglichen Rechtschutzes herzustellen, der all jenes rechtlich zu beanstandende Sexualverhalten gesetzlich erfasst und sanktioniert, andererseits aber auch die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit zu gewährleisten, in der sich der Mensch sexuell ausleben und entfalten darf. Dieses Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Schutz und staatlicher Reglementierung sowie der Wahrung der persönlichen Freiheit eines jeden Einzelnen tritt hierbei deutlich zutage und erfordert einige Anstrengungen im Rahmen der Umsetzung. Auch die Frage, welches Sexualverhalten per se das Erfordernis staatlicher Intervention benötigt und welche Leitlinien für den Gesetzgeber bei dieser Entscheidung relevant sind, ← 18 | 19 → ist äußerst diskussionswürdig. Interessant zu erörtern ist daher auch die Frage, in welchem Verhältnis die legislativen Entscheidungen des Gesetzgebers mit den Empfindungen des Volkes im Rahmen dieser Auseinandersetzung stehen, bzw. ob es ein solches Verhältnis überhaupt gibt und inwieweit bestimmte religiös oder weltanschaulich fundierte Vorstellungen mit dem scharfen Schwert des Strafrechts durchgesetzt werden sollen. Diese Unklarheiten werden im Bereich sexueller Delinquenz durch ein Nebeneinander mehrdimensionaler Faktoren bestimmt. Soziologische, historische, politische und medizinisch-psychologische Aspekte treten hier parallel in Erscheinung und verlangen in einen Einklang gebracht zu werden.

Den Einfluss der Wissenschaft auf das gesellschaftliche Denken macht Peter Fiedler deutlich, indem er schreibt: „Was die Gesellschaft ablehnt, ist in erheblichem Maße davon abhängig, was in der Sexualwissenschaft, in der Psychiatrie und in der Psychologie als nicht normal, psychisch gestört oder sogar als krankhaft angesehen wird. Wir haben es mit einem sorgsam zu bedenkenden Teufelskreis der Wechselwirkung sozialgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Beurteilungsprozesse zu tun“.17 Hierauf hat der Gesetzgeber zu reagieren. Vom Staat wird eine Art „Außen-Lenkung“ erwartet, welche die Gesellschaft mitunter vorgibt. Der Ruf nach Recht und die Berufung auf Recht in Konfliktsituationen sind hierbei laut zu hören und treten vor allem im Sexualstrafrecht deutlich zutage. Zu erörtern ist daher die Frage, ob jedes sexuell abweichende Verhalten gleichsam eine Krankheit oder eine Straftat darstellt, oder aber – sollte dies nicht der Fall sein – ab welchem Grad von abweichendem Verhalten dies erreicht ist. Der Gesetzgeber ist folglich darum bemüht, all diese genannten Faktoren zu erfassen und einen bestmöglichen Rechtsschutz unter Berücksichtigung der Gewährung von Freiheitsrechten und dem Schutz von Rechtsgütern zu garantieren. Wie und insbesondere ob ihm das hinreichend gelingt, erscheint fraglich und soll im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden.

Nach der seit Inkrafttreten des 4. Strafrechtsreformgesetz vom 23.11.1973 (4. StrRG18) gültigen Überschrift des 13. Abschnitts „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ „firmiert“ diese unter den, in den §§ 174 ff. beschriebenen Sexualstraftaten. Betrachtet man die Gesetzesvorschriften innerhalb des 13. Abschnitts genauer, tritt gleich zu Beginn eine wesentliche Frage in den Vordergrund: Wen oder was will das Gesetz konkret vor diesen Taten schützen und was meint die Abschnittsüberschrift „Straftaten gegen die sexuelle ← 19 | 20 → Selbstbestimmung“? Was ist Schutzgut des infrage stehenden Abschnitts und in welcher Form muss es betroffen sein, um strafrechtlichen Schutz zu genießen. Das StGB erläutert zwar, was eine Sexualstraftat ist (vgl. § 184h), beurteilt dies jedoch frei von diagnostischen Überlegungen. Daher sei behauptet, das „Recht auf sexuelle Selbstbestimmung“ bewahrt als Abwehr- und Menschenrecht jeden Menschen vor sexueller Fremdbestimmung. Es beschützt ihn davor, dass er als Objekt menschlicher Sexualität fungiert und dass eines seiner Sexualgüter von einem anderen Menschen ohne wirksame Einwilligung gebraucht, genutzt oder affiziert wird. Darüber hinaus müsste es die negative Sexualhoheit über jedes seiner Sexualgüter garantieren. Ob dies tatsächlich zutreffend ist, wird im Laufe dieser Arbeit zu erörtern sein.

Ebenso erscheint die Einteilung der Normen in mehrfacher Hinsicht unbefriedigend. Dies gilt zum einen unter systematischen und zum anderen unter grammatikalischen Aspekten sowie letztlich auch im Hinblick auf Strafzweck, Rechtsgüterschutz und Angemessenheit des Strafrahmens innerhalb der Vorschriften. Der 13. Abschnitt erfasst Normverstöße, die in ihrem Erscheinungsbild sehr heterogen sind. Einerseits treten gewaltlose Handlungen in Erscheinung, andererseits sexuelle Gewalttaten, Taten mit und ohne Wahrnehmungsbezug, Ausbeutungshandlungen in Abhängigkeitsverhältnissen und Straftaten, die in den Bereich der organisierten Kriminalität fallen. Selbst innerhalb der einzelnen Vorschriften sind Tatbestände zusammengefasst, die bezüglich ihres Gewaltanteils und ihrer Intensität erheblich weit gefächert sind. Diese geradezu wuchtigen und mannigfaltigen Vorschriften19 suggerieren, die entsprechenden Handlungen hätten einen gemeinsamen Nenner, obwohl es sich tatsächlich um sehr unterschiedliche Phänomene und Ausprägungen bei den Tatmotiven, den Tathandlungen und schließlich auch den möglichen Schadensfolgen handelt20: Bei den sexuellen Missbrauchstatbeständen handelt es sich beispielsweise nicht ausschließlich um Delikte, die sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung richten. Vielmehr stehen hier auch andere Schutzgüter im Vordergrund.21 Die Vergewaltigung hingegen als klassisches Delikt, das sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung richtet, verkörpert kriminologisch meist ein reines Gewaltdelikt mit Sexualbezug, während es sich bei der Verbreitung pornografischer Schriften um ein Wirtschaftsdelikt handelt, bei dem es neben dem Jugendschutz22 auch um den Schutz unbeteiligter Dritter ← 20 | 21 → gegen eine ungewollte Konfrontation mit Sexualität geht.23 Des Weiteren erscheint die etwa bei § 17724 zutage tretende Kombination eines Grundtatbestands mit Regelbeispielen und Qualifikationsmerkmalen als ein komplexes und unüberschaubares Gefüge innerhalb einer Vorschrift. Auch fällt auf, dass sich im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes bezüglich der Altersgrenzen Unstimmigkeiten ergeben, worauf an späterer Stelle genauer einzugehen sein wird.25

Dieser Umstand, der durch die oben genannten Beispiele unterstrichen wird, erscheint unter der Prämisse eines juristisch tadellosen Umgangs mit diesen hoch sensibel zu behandelnden Taten problematisch. Statt ungenauer und oberflächlicher Pauschalisierung von sexuellen Übergriffen, die in den einzelnen Normen teilweise generalklauselartig geregelt sind, ist an dieser Stelle vielmehr zu überlegen, ob strafrechtlich relevantes Sexualverhalten nicht differenzierteren und vor allem systematischeren Regelungen unterzogen werden sollte. Entscheidend ist dabei, auf welcher Grundlage das jeweilige Täterverhalten zu bestrafen ist und wie die einzelnen Normen ausgestaltet sein müssen, um auch verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zu entsprechen. Ziel sollte sein, gegen eine unreflektiert-emotionale Betrachtung des Sexualstrafrechts anzugehen und mehr Klarheit, Transparenz und Systematik zu schaffen. Zu klären ist ebenso, wie eine soeben angesprochene Normierung zustande kommt und welche Kräfte in diesem Zusammenhang mitgewirkt haben.

Ein weiterer Umstand, der in den Fokus zu rücken ist, sind die europarechtlichen Vorgaben an den deutschen Gesetzgeber. Bis zu Beginn des Jahres entsprach das deutsche Recht nicht hinreichend den europarechtlichen Anforderungen.26 Das Bundesjustizministerium hatte diesbezüglich bereits zu Beginn des letzten Jahres einen ersten Referentenentwurf27 zur Änderung des Strafgesetzbuches ← 21 | 22 → vorgelegt, in dem insbesondere Kinder und Jugendliche vor sexuellen Übergriffen besser geschützt werden sollen. Es reagierte damit aus aktuellem Anlass offenbar auf den Fall des ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, dem der Besitz von Kinderpornografie vorgeworfen wurde.28 Dieser Entwurf mündete in das am 21. Januar 2015 verabschiedete „Neunundvierzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung europäischer Vorgaben zum Sexualstrafrecht“ (49. StrÄndG29). Mit der „Lex Edathy“ sollte darüber hinaus insbesondere die Richtlinie 2011/93/EU zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie umgesetzt und der Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Europäischen Rates Rechnung getragen werden. Das Gesetz beinhaltet insbesondere Neuerungen im Bereich der Kinderpornografie und einige das Sexualstrafrecht verschärfende Modifikationen. So wurde insbesondere eine neue Vorschrift geschaffen, die kinder- und jugendpornografische Live-Darbietungen sowie deren Besuch verbietet und unter Strafe stellt, vgl. § 184e. Das neue Gesetz sieht weiterhin vor, dass sog. „Posing-Aufnahmen“, also Darstellungen von Kindern und Jugendlichen „in unnatürlich geschlechtsbetonter Körperhaltung“, dem Begriff der „kinder- und jugendpornographischen Schriften“ unterfallen, (§§ 184b, 184c). Hierbei handelt es sich um eine erweiterte Klarstellung, da Verbreitung, Erwerb und Besitz solcher Darstellungen auch nach bisheriger Rechtslage schon strafbar waren.30 Der Strafrahmen für den Besitz solcher Schriften wird zudem um ein Jahr auf nun maximal drei Jahre erhöht. Außerdem wurde die Verjährungsfrist bei Sexualstraftaten verlängert. Diese setzt nicht wie bisher schon ab dem 21. Lebensjahr des Opfers ein, sondern erst ab dem 30. Lebensjahr, vgl. § 78b. Weiterhin wurden auch Sexualstraftaten in allen Formen moderner Kommunikation erfasst, so dass auch das sog. „Cyber-Grooming“ tatbestandlich erfasst ist, § 184d, 176 Abs. 4 Nr. 3. Dabei geht es um (pädophile) Täter, die per E-Mail oder in Chatforen Kontakt zu Kindern aufnehmen. Mit diesen Änderungen ist jedoch keine Ruhe eingekehrt. Forderungen nach weiteren Strafschärfungen sowie eine lebhafte Diskussion darüber, ob den Anforderungen hinreichend Rechnung getragen wurde oder die Umsetzung vielmehr als zu streng anzusehen ist, sind erneut laut zu hören. Das letzte Wort ist daher auch kurz nach der Gesetzesänderung vom Januar 2015 noch nicht gesprochen. ← 22 | 23 →

Die sich dieser Problemerörterung anschließende Arbeit will sich im Folgenden mit der Frage der tatbestandlichen Ausgestaltung von rechtlich relevantem Sexualverhalten bzw. Sozialverhalten befassen. Hierbei richtet sich das Augenmerk primär auf den 13. Abschnitt des StGB sowie auf die Beantwortung aller oben aufgeworfenen Fragen. Einen Platz in dieser Arbeit verdient ebenso die diskussionswürdige Frage, ob § 218, der den Abbruch der Schwangerschaft unter Strafe stellt, nicht ebenfalls einen Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung der Frau und daher einen Wertungswiderspruch zum geltenden Recht darstellt. Dieser Überlegung sowie den Fragen, was überhaupt ein rechtlich relevantes Sexualverhalten darstellt, wie und ab wann Sexualdelinquenz entsteht und wie man rechtlich auf eine solche Straftat reagieren sollte, gilt es hinreichend Rechnung zu tragen.

Die Untersuchung dieser Fragen soll sich im Wesentlichen auf den juristischen Teil im Rahmen der gesetzlichen Ausgestaltung von Sexualstraftatbeständen beschränken. Das wirft das Augenmerk auf das, was aus juristischer Sicht in diesem Bereich als Sexualstraftat genannt zu werden verdient. Für die ebenso äußerst interessante Frage, welche Täterpersönlichkeiten, Motive und eventuelle Krankheitsbilder hinter den einzelnen Taten stehen, muss an dieser Stelle weitgehend auf die einschlägige Fachliteratur zur forensischen Psychiatrie verwiesen werden. Eine Stellungnahme diesbezüglich erfolgt zum besseren Verständnis im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Paraphilien lediglich teilweise. Die Behandlung von sexuellen Paraphilien ist Aufgabe der sexualmedizinischen Psychotherapie und – bei Vorliegen einer Sexualstraftat im schuldausschließenden Zustand – des Maßregelvollzugs. Die in diesem Zusammenhang möglicherweise relevanten Persönlichkeitsstörungen sowie andere subjektive Beweggründe der Täter, die nicht selten kausal mit der Tat verknüpft sind, können hier nicht umfassend erörtert werden. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit ebendiesen medizinischen und psychologischen Fragen würde den Umfang dieser Arbeit sprengen. Daher soll hier auch nicht auf den Maßregelvollzug und andere Therapiemöglichkeiten im Rahmen der staatlichen Sanktion eingegangen werden. Die subjektive Täterfrage der Schuld bleibt grundsätzlich unbehandelt.

Das Thema sowie die oben aufgeworfenen Fragen haben die Autorin schon lange vor Beginn der Arbeit beschäftigt. In dem vorliegenden Text spiegelt sich ihr Bedürfnis, sich der Materie ausführlich zu widmen und bestenfalls Antworten auf viele Fragen – auch auf jene, die anfangs komplex erscheinen – zu finden. So sehr diese Thematik mitunter auch schamhaft behandelt wird, verdient sie dennoch solide, gewissenhaft und wissenschaftlich in den Blick genommen zu werden. Dies vor allem, weil sie derart präsent ist. ← 23 | 24 →

Als die Überlegung aufkam, welches Material dieser Arbeit zugrunde liegen soll, standen verschiedene Vorgehensweisen im Raum. Einerseits bestand die Möglichkeit, das infrage stehende Sexualverhalten unter medizinisch-psychologischen Aspekten zu erläutern, um dann im Rahmen strafrechtlicher Interventionen zwischen Strafe und dem Maßregelvollzug mit all seinen Voraussetzungen und Besonderheiten differenzieren zu können. Die unterschiedlichen Krankheitsbilder der Täter, deren Motive und ihre Resozialisierung zu erläutern, wären für die Verfasserin ebenfalls von großem Interesse gewesen. Bedauerlicherweise musste jedoch schnell erkannt werden, dass diese ebenso wichtige Materie den Umfang der Arbeit sprengen würde und dass es aus rechtspositivistischer Sicht sinnvoller erscheint, sich mit der tatbestandlichen Ausgestaltung des Sexualstrafrechts zu befassen. Sinnvoller deshalb, weil es auf diesem Gebiet – wie dargestellt – einiges zu tun gibt und es regelrecht nach Aufklärung verlangt. Die genannten Punkte sollen dennoch ihren Platz innerhalb der Arbeit finden. Dies soll zwar nur ansatzweise, aber dennoch so geschehen, dass ein besseres Verständnis möglich wird. Dass im Rahmen dieser Untersuchung die Greifbarkeit dessen, was als „erlaubt und verboten“ sowie als „normal und anormal“ zu bezeichnen ist, für jede Person, die einen solchen Text verfasst, problematisch erscheint, steht außer Frage. Sie begibt sich bei der Suche nach Antworten auf dünnes Eis – in dem Bemühen nicht einzubrechen. Durch die Mannigfaltigkeit der Sexualität und den stetigen Wandel, dem sie unterliegt, tritt noch ein weiteres Problem hervor: Heute einen Text über rechtlich relevantes Sexualverhalten zu schreiben, bedeutet im Zweifel auch, dass das Geschriebene morgen bereits überholt sein kann.31 Und es bedeutet ebenso, dass der Text eine Problematik erfassen will, die sich nicht aus der Theorie ergibt, sondern durch die Praxis geschaffen wird und daher unvorhersehbar und unberechenbar ist. Nicht der Staat oder die Wissenschaft per se schaffen das Sexualstrafrecht, vielmehr besteht eine enge Verknüpfung zwischen dem Beitrag des Gesetzgebers und dem Menschen in seinem Sozialverhalten selbst, der diesen Beitrag beeinflusst. Gerade im Zeitalter der Digitalisierung, welches problemlos Zugang zu Informationen und Bildern verschafft, die einen Verstoß gegen die sexuelle Selbstbestimmung darstellen und Straftaten zu fördern vermögen, überholt die Realität die gesetzlichen Regeln. Für die Täter wird es immer leichter, sich diesen Straftatbeständen zu nähern. Und auch der Versuch, sich dem Thema stets in gebotener Weise sachlich zu nähern, stößt gelegentlich an die emotionalen Grenzen desjenigen, der diesen Versuch unternimmt. Vielleicht ist es aber auch gerade diese Herausforderung, die die ← 24 | 25 → Behandlung des Themas als so reizvoll erscheinen lässt. Fest steht jedenfalls, dass die Erörterung der Problematik eine enorme Relevanz aufweist. Dieser Relevanz soll die vorliegende Arbeit Rechnung tragen. Schon Freud hat richtigerweise erkannt, dass es „mit der Entrüstung, der Äußerung unseres persönlichen Widerwillens und der Versicherung, daß wir diese Gelüste nicht teilen“,32 offenbar nicht getan ist, da wir danach nicht gefragt werden. Weigern wir uns, die (krankhaften) Formen und Ausprägungen der Sexualität zu verstehen, so können wir auch die Sexualität im Allgemeinen nicht hinreichend nachvollziehen und eine sinnvolle Differenzierung zwischen dem, was zu beanstanden, und dem, was sozialadäquat ist, vornehmen. Stellen wir uns also all diesen aufgeworfenen Fragen und begeben uns gemeinsam auf den Weg dieser Herausforderung.

Die erste Untersuchung (2. Teil) soll zunächst einen historischen Überblick über die Entwicklung des Sexualstrafrechts geben. Hierbei wird der Fokus auf die Entwicklungsgeschichte des Sexualstrafrechts gerichtet, wobei weitere einflussreiche Faktoren betrachtet werden sollen. Ebenfalls soll der Wandel, der sich innerhalb der Reformgesetzgebung, der Rechtsprechung sowie der Strafrechtswissenschaft vollzogen hat, skizziert und erläutert werden. Dies geschieht deshalb, um den aktuellen Gesetzesstand besser nachvollziehen zu können. Es wird zu untersuchen sein, ob die in den Fokus genommenen Faktoren völlig unabhängig nebeneinander bestehen können oder ob sie eine Verzahnung von nebeneinander bestehenden und von einander abhängigen Parametern sind. Dies wären sie dann, wenn neue Erkenntnisse und Veränderungen innerhalb einzelner Sparten schon immer wegweisend und prägend für das Sexualstrafrecht gewesen wären. Ebenso wird Bezug auf die unterschiedlichen Phasen im Rahmen des Wandels des gesellschaftlichen Verständnisses von Sitte und Moral genommen. In diesem Zusammenhang soll schließlich erläutert werden, ob die Sittlichkeit und ihre gesetzlichen Normen absolute und unveränderbare Werte bilden oder ob sie vielmehr, wie auch die Sexualität selbst, auch bestimmten Entwicklungen und wechselnden Wertungen unterliegen. Es sei hierbei unterstellt, dass das, was unter Sexualität verstanden und als solche gelebt wird, einem ständigen kulturellen Prozess der Veränderung unterliegt. Ob diese Behauptung zutreffend ist und in welche Richtung sich das Sexualstrafrecht, basierend auf den unterschiedlichsten Einflüssen innerhalb des jeweiligen Zeitgeistes, entwickelt hat und welche Entwicklungstendenzen es weiterhin aufnimmt, wird sich im Rahmen der Untersuchung ergeben. ← 25 | 26 →

Freilich ist es nicht möglich, den Geist einer Zeit vollumfänglich und lückenlos innerhalb dieses Textes zu erfassen. Dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen, weshalb nur eine grobe Linie aller wesentlichen Faktoren dieser Thematik nachgezeichnet werden kann. Es erscheint jedoch erforderlich, um ein hinreichendes Verständnis über den Untersuchungsgegenstand der Arbeit im Allgemeinen erlangen zu können. Folglich werden einige wesentliche Eckpfeiler eingezogen, die den Trend der jeweiligen Zeit gut zu zeichnen vermögen.

In einem weiteren Schritt (3. Teil) ist zu untersuchen, welche Ausprägungen und Formen von Sexualverhalten es aus heutiger Sicht gibt und wie sich diese im Einzelnen auf das Sexualstrafrecht auswirken. Mit der Erfassung der unterschiedlichen sexuellen Vorlieben soll eine Selektion in paraphile und nicht paraphile33 Vorlieben und Neigungen erfolgen. Anhand dieser Betrachtung kann eine erste Abgrenzung von pathologischer und nicht pathologischer Sexualität sowie letztlich auch von strafbarem und nicht strafbarem Sexualverhalten vorgenommen werden. Erst unter Berücksichtigung dieser Untersuchung ist es möglich, eine sinnvolle und differenzierende gesetzliche Ausgestaltung der Tatbestände zu erfassen und voranzutreiben. Dieser Schritt ist elementar für einen gewissenhafteren Umgang mit Sexualstraftaten. Denn nicht nur das Strafgesetzbuch definiert ohne diagnostische Überlegungen, was eine Sexualstraftat ist, auch in der breiten öffentlichen Diskussion, die sich für Sexualstraftäter und ihre Taten interessiert, lässt sich wenig Interesse für eine Differenzierung finden.34 Es wird zu untersuchen sein, ob sich die These, dass die Grenzen zwischen „Normalität und Abweichungen“, zwischen Paraphilien sowie delinquentem und nicht delinquentem Verhalten zum Teil fließend verlaufen und dass nicht jede unkonventionelle Form der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität zugleich eine psychische Störung oder gar eine rechtliche Relevanz aufweist, als richtig erweist. Im Bereich der Abgrenzung strafwürdigen Sexualverhaltens von nicht strafwürdigem Verhalten mit Sexualbezug ergeben sich nicht selten erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich dessen, was einvernehmlich geschieht und was nicht. Dies schon deshalb, weil die sexuelle Betätigung und der Geschlechtstrieb ein natürliches und kulturübergreifendes menschliches Bedürfnis darstellt. Gerade im Bereich der sexuellen Präferenzen findet sich eine Vielzahl von Handlungen, die unter Partnern einvernehmlich vorgenommen werden.35 Eine klare ← 26 | 27 → Abgrenzung ist hier nur schwer möglich und bedarf einer gewissenhaften Auseinandersetzung.

Im Anschluss an die vorangegangene Auseinandersetzung soll das Augenmerk auf das derzeit geltende Sexualstrafrecht gerichtet werden (4. Teil). An dieser Stelle wird Bezug auf die unterschiedlichen und rechtlich relevanten Ausprägungen sexueller Handlungen genommen. Es soll untersucht werden, an welchem Maßstab sich der Gesetzgeber aktuell bei seiner Normierung der infrage stehenden Straftatbestände orientiert und ob dieser Maßstab all jene Besonderheiten der vorangegangenen Überlegungen hinreichend berücksichtigt und wiedergibt. Ebenso wird nach dem Unrechtsschwerpunkt sowie dem Anknüpfungspunkt für rechtlich relevantes Sexualverhalten geforscht. Hierbei werden zunächst das Sexualstrafrecht und seine gesetzliche Ausgestaltung in toto betrachtet. Anschließend werden die einzelnen Tatbestände und deren Reformbedarf in den Blick genommen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung soll schließlich der steinige Weg eines „richtigen“ und wünschenswerten Umgangs mit den infrage stehenden Handlungen vorangetrieben werden. Dies soll dadurch geschehen, dass auf Grundlage aller zu berücksichtigenden Faktoren, die die Tat und ihre Motive betreffen, im Allgemeinen sowie insbesondere im Rahmen einer rechtlichen Bewertung im Konkreten eingegangen wird. Insbesondere erfolgt ein praxisgerechter und -orientierter Lösungsvorschlag, wie man die Gewalt- und Sexualdelikte, die sich gegen die sexuelle Selbstbestimmung und deren Entwicklung bei Kindern richten, unter Berücksichtigung aller untersuchten Faktoren sinnvoller und reflektierter in das Strafgesetzbuch aufnehmen kann.

Es wird in dem vorliegenden Text vermieden, geschlechtsspezifische, aber neutral gemeinte Worte mit dem Suffix „In/Innen“ zu versehen. Ebenso wird in derartigen Fällen darauf verzichtet, sowohl die feminine als auch die maskuline Form der Termini zu verwenden – wie beispielsweise „der Täters oder die Täterin“. Dies geschieht ausschließlich aus Gründen der Leserlichkeit und eines besseren Leseflusses. Eine explizite Kennzeichnung erfolgt dort, wo eine Klarstellung notwendig oder angebracht ist. Grundsätzlich wird in der maskulinen Form geschrieben.

Schließlich ist noch zu beachten, dass die Erwähnung der einzelnen Vorschriften des 13. Abschnitts und deren Kommentierung nicht immer kompatibel sind. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Kommentierung zur aktuellen Gesetzeslage, wie sie seit Anfang Januar 2015 besteht, noch nicht hinreichend aktualisiert und an die jeweiligen Normen angepasst wurde. Folglich muss in den Fußnoten auf eine alte Kommentierung zurückgegriffen werden, die sinngemäß zwar identisch ist, sich jedoch innerhalb der Paragrafen unterscheiden kann, wie beispielsweise die ← 27 | 28 → Begriffsbestimmung in § 184g a. F. (jetzt § 184h36). Die vorliegende Arbeit weist den aktuellen Sach- und Rechtsstand von März 2016 auf. Weitere Entwicklungen innerhalb des Sexualstrafrechts sowie die zu erwartenden Reformänderungen, die sich im Laufe des Jahres innerhalb und nach Abschluss des parlamentarischen Verfahrens ergeben, werden bei Veröffentlichung des Buches abschließend berücksichtigt und dem Text beigefügt.


1 Brüggemann, Entwicklung, S. 25.

2 Schorsch/Becker, Angst, S. 15.

3 Fabricius, Kriminalwissenschaften, S. 1; Hess/Störzer/Streng, Sexualität und Kontrolle, S. VII. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ergibt sich eine registrierte Gesamtkriminalität der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung von lediglich 0,8% im Vergleich zu allen anderen zur Anzeige gebrachten Straftaten in den Jahren 2011 bis heute, vgl. BKA v. 18.6.2015.

4 Siehe z. B. Die Welt v. 7.8.2009; Bild v. 7.9.2009; SZ v. 10.5.2010; taz v. 15.10.2012; B. Z. v. 27.10.2015; FNP v. 14.1.2016; Bild v. 5.2.2016; Spiegel v. 7.2.1016; Bild v. 22.3.2016.

5 Vgl. hierzu im 3. Teil unter II 3.2.

Details

Seiten
326
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631696613
ISBN (ePUB)
9783631696620
ISBN (MOBI)
9783631696637
ISBN (Hardcover)
9783631694619
DOI
10.3726/978-3-631-69661-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (August)
Schlagworte
Sexualstrafrecht Sexueller Missbrauch Vergewaltigung Kindesmissbrauch Paraphilie Pädophilie Sadomasochismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016, 326 S.

Biographische Angaben

Sara Thienhaus (Autor:in)

Sara Thienhaus studierte Rechtswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo sie am Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie promoviert wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen das Strafrecht sowie die forensische Psychiatrie.

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Titel: Zur Frage der gesetzlichen Tatbestandsmäßigkeit bei rechtlich relevantem Sexualverhalten
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