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Rechtswahlbeschränkungen zum Schutz des Schwächeren

Wertungswidersprüche und Inkohärenzen im Internationalen Schuldrecht der Europäischen Union

von Sandra Kühn (Autor:in)
©2016 Dissertation XV, 224 Seiten

Zusammenfassung

Der Schutz einer als schwächer empfundenen Partei hat auch im Internationalen Privatrecht in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen. In nahezu allen internationalen Regelwerken kommen deshalb vornehmlich Verbraucher und Arbeitnehmer in den Genuss besonderer kollisionsrechtlicher Vorschriften.
Diesen Umstand thematisiert das Buch für das europäische Kollisionsrecht. Sowohl die Rom I-VO als auch die Rom II-VO halten spezielle Anordnungen zum Schutz einer als schwächer empfundenen Partei bereit. Die Autorin zeigt mit Blick auf die einschlägigen Vorschriften, dass der «Schwächere» vom europäischen Gesetzgeber in verschiedenen Zusammenhängen auf sehr unterschiedliche Weise geschützt wird. Sie geht deshalb der Frage nach, ob es einen kollisionsrechtlich validen Grund für die Wahl unterschiedlicher Regelungsmodelle gibt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • A. Ausgangslage
  • B. Gegenstand und Ziel der Untersuchung
  • C. Gang der Untersuchung
  • D. Eingrenzung der Untersuchung
  • I. Ausschluss des Internationalen Verfahrensrechts
  • II. Schwerpunkt im Internationalen Vertrags- und Deliktsrecht
  • 1. Rom III-VO
  • 2. Unterhalts-VO
  • 3. Erbrechts-VO
  • 4. Vorschlag zur Ehegüterrechts-VO
  • 5. Weitere Eingrenzungen
  • Teil 1 Grundlagen
  • Kapitel 1 Der Begriff der „schwächeren Partei“
  • Kapitel 2 Die Entwicklung des Gerechtigkeitsbegriffs im IPR
  • A. Ursprünge des Gerechtigkeitsbegriffs
  • B. Der Gerechtigkeitsbegriff im heutigen Internationalen Privatrecht
  • I. Gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Wandel
  • II. Umsetzung des kollisionsrechtlichen Schutzes des Schwächeren
  • C. Gerechtigkeit, Parteiautonomie und der Schutz des Schwächeren
  • D. Argumente gegen einen Schutz der schwächeren Partei
  • Kapitel 3 Wertungswidersprüche
  • A. Der Begriff des Wertungswiderspruchs
  • B. Wertungswidersprüche vor dem Hintergrund der Kohärenzdebatte
  • C. Zwischenergebnis
  • Teil 2 Eine detaillierte Untersuchung der Rom I- und II-VO im Hinblick auf potentielle Wertungswidersprüche
  • Kapitel 1 Der Schutz in der Rom I- und II-VO
  • A. Die geschützte Person innerhalb der Rom I-VO
  • I. Der Verbraucher
  • II. Der Arbeitnehmer
  • III. Der Reisende
  • IV. Der Versicherungsnehmer
  • B. Die geschützte Person innerhalb der Rom II-VO
  • I. Die nicht-kommerziell tätige Partei
  • II. Fortgang der Untersuchung
  • C. Die Ausgestaltung des Schutzes nach der Rom I- und II-VO
  • I. Die Voraussetzungen des Schutzes der schwächeren Partei
  • 1. Der Schutzbereich der rechtswahlbeschränkenden Kollisionsnormen
  • a) Anwendungsbereich des Art. 6 Rom I-VO
  • (1) Persönlicher Schutzbereich
  • (2) Sachlicher Schutzbereich
  • (3) Situativer Schutzbereich
  • (4) Zwischenfazit
  • b) Anwendungsbereich des Art. 8 Rom I-VO
  • (1) Sachlicher Schutzbereich
  • (2) Zwischenfazit
  • c) Anwendungsbereich des Art. 5 Rom I-VO
  • (1) Persönlicher Schutzbereich
  • (2) Sachlicher Schutzbereich
  • (3) Zwischenfazit
  • d) Anwendungsbereich des Art. 7 Rom I-VO
  • (1) Persönlicher Schutzbereich
  • aa) Der Schutz unter dem Richtlinienrecht
  • bb) Der Schutz unter dem EVÜ
  • cc) Der Schutz in der Rom I-VO
  • (2) Situativer Schutzbereich
  • aa) Risikobelegenheit innerhalb des EWR
  • bb) Risikobelegenheit innerhalb der EU
  • cc) Verbraucher- oder Nichtverbraucherversicherungsvertrag bei Risikobelegenheit außerhalb der EU
  • (3) Zwischenfazit
  • e) Schutz nach der Rom II-VO
  • (1) Sachlicher Schutzbereich
  • (2) Zwischenfazit
  • 2. Die Anknüpfungsregeln der rechtswahlbeschränkenden Kollisionsnormen der Rom I und II-VO
  • a) Die Anknüpfungsregeln des Art. 6 Rom I-VO
  • b) Die Anknüpfungsregeln des Art. 8 Rom I-VO
  • c) Die Anknüpfungsregel des Art. 5 Rom I-VO
  • d) Die Anknüpfungsregeln des Art. 7 Rom I-VO
  • e) Die Anknüpfungsregeln des Art. 14 Rom II-VO
  • (1) Art. 14 I 1 lit. a) Rom II-VO
  • (2) Art. 14 I 1 lit. b) Rom II-VO
  • aa) Der Zeitpunkt der Rechtswahl und die kommerzielle Tätigkeit der Parteien
  • bb) Frei ausgehandelte Vereinbarung
  • (3) Sonstige Voraussetzungen
  • (4) Relevanz der Vorschrift
  • II. Begründungsansätze für die unterschiedlichen Schutzregelungen
  • 1. Die Entwicklungen der einzelnen Vorschriften
  • a) Die Entwicklung des Internationalen Verbraucherschutzes bis hin zu Art. 6 Rom I-VO
  • (1) Die Entwicklung des Verbraucherschutzes
  • (2) Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Rom I-VO
  • b) Die Entwicklung des Internationalen Arbeitnehmerschutzes bis hin zu Art. 8 Rom I-VO
  • (1) Die Entwicklung des Arbeitnehmerschutzes
  • (2) Die Entwicklungsgeschichte des Art. 8 Rom I-VO
  • c) Die Entwicklung des Schutzes der zu befördernden Person bis hin zu Art. 5 Rom I-VO
  • (1) Das Internationale Transportrecht im EVÜ
  • (2) Der Beförderungsvertrag nach dem Entwurf der Rom I-VO
  • (3) Der Dumitrescu-Bericht
  • d) Die Entwicklung des Internationalen Versicherungsnehmerschutzes bis hin zu Art. 7 Rom I-VO
  • (1) Die Entwicklung des Versicherungsnehmerschutzes
  • (2) Die Entwicklungsgeschichte des Art. 7 Rom I-VO
  • e) Die Entwicklung des Schutzes bei außervertraglichen Schuldverhältnissen bis hin zu Art. 14 Rom II-VO
  • 2. Informationsasymmetrien
  • a) Informationsasymmetrien in der Rom I-VO
  • (1) Informationsasymmetrien bei Verträgen nach Art. 6 Rom I-VO
  • aa) Informationsgewinnung
  • bb) Informationsverarbeitung
  • (2) Informationsasymmetrien bei Verträgen nach Art. 8 Rom I-VO
  • aa) Informationsgewinnung
  • bb) Informationsverarbeitung
  • (3) Informationsasymmetrien bei Verträgen nach Art. 5 Rom I-VO
  • (4) Informationsasymmetrien bei Verträgen nach Art. 7 Rom I-VO
  • aa) Informationsgewinnung
  • bb) Informationsverarbeitung
  • b) Informationsasymmetrien in der Rom II-VO
  • (1) Informationsasymmetrien bei der anfänglichen Rechtswahl
  • (2) Informationsasymmetrien bei der nachträglichen Rechtswahl
  • (3) Informationsasymmetrien bei der akzessorischen Anknüpfung
  • 3. Abhängigkeitsverhältnisse
  • a) Abhängigkeitsverhältnisse in der Rom I-VO
  • (1) Die Abhängigkeit des Verbrauchers
  • (2) Die Abhängigkeit des Arbeitnehmers
  • (3) Die Abhängigkeit des Reisenden
  • (4) Die Abhängigkeit des Versicherungsnehmers
  • b) Abhängigkeitsverhältnisse in der Rom II-VO
  • 4. Die „Besonderheit“ von Beförderungs- und Versicherungsverträgen
  • a) Beförderungsverträge
  • (1) Ein „angemessenes“ Schutzniveau
  • (2) Die Besonderheit des Personenbeförderungsvertrages
  • b) Versicherungsverträge
  • (1) Ein „angemessenes“ Schutzniveau
  • (2) Die Besonderheit des Versicherungsvertrages über Massenrisiken
  • 5. Sonstige Ursachen
  • Kapitel 2 Wertungswidersprüche bei den Rechtswahlbeschränkungen zum Schutz der schwächeren Partei
  • A. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Schutzgruppen
  • I. Verbraucher versus Arbeitnehmer
  • II. Verbraucher versus Reisende
  • III. Verbraucher versus Versicherungsnehmer
  • IV. Verbraucher versus nicht-kommerziell tätige Partei
  • B. Die Entwicklungsgeschichte der Schutzgruppen
  • C. Informationsasymmetrien und Abhängigkeitsverhältnisse
  • D. Die Ausgestaltung des Schutzes und die Anknüpfungsregeln – Eine Auswertung
  • I. Art. 6 und Art. 8 Rom I-VO
  • 1. Der Schutzbereich
  • 2. Die Anknüpfungsregeln
  • II. Art. 5 Rom I-VO
  • 1. Der Schutzbereich
  • 2. Die Anknüpfungsregeln
  • III. Art. 7 Rom I-VO
  • 1. Der Schutzbereich
  • 2. Die Anknüpfungsregeln
  • IV. Außervertragliche Schuldverhältnisse
  • 1. Der Schutzbereich
  • 2. Die Anknüpfungsregeln
  • a) Art. 14 I 1 lit. a) Rom II-VO
  • b) Art. 14 I 1 lit. b) Rom II-VO
  • (1) Die Rechtswahl bei Beteiligung einer nicht-kommerziell tätigen Partei
  • (2) Die Rechtswahl für kommerziell tätige Parteien
  • c) Art. 4 III Rom II-VO
  • E. Weitere Auffälligkeiten
  • F. Zwischenfazit
  • Teil 3 Ein Alternativvorschlag
  • Kapitel 1 Ein einheitliches Regelungsmodell für die Rom I- und II-VO?
  • A. Allgemeine Gedanken zur Beschränkung der Rechtswahlfreiheit
  • I. Der Ausschluss der Rechtswahlfreiheit
  • II. Die beschränkte Rechtswahl
  • III. Die bedingte Rechtswahl
  • IV. Die überlagerte Rechtswahl
  • 1. „Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf“
  • 2. Die Ausgestaltung des Günstigkeitsprinzips
  • a) Einzelvergleich
  • b) Gesamtvergleich
  • c) Gruppenvergleich
  • d) Stellungnahme
  • 3. Kritik am Günstigkeitsprinzip
  • 4. Entbehrlichkeit des Günstigkeitsprinzips
  • a) Ein Mindestschutzstandard durch EU-Richtlinienrecht
  • b) Ein Mindestschutzstandard durch internationales Einheitsrecht
  • 5. Das Günstigkeitsprinzip als allgemeines Rechtswahlmodell
  • a) Das Günstigkeitsprinzip für Art. 5 Rom I-VO
  • b) Das Günstigkeitsprinzip für Art. 7 Rom I-VO
  • c) Das Günstigkeitsprinzip für Art. 14 Rom II-VO
  • B. Zwischenfazit
  • Kapitel 2 Ein Vorschlag zum Schutz der schwächeren Partei
  • Zusammenfassung der Arbeit in Thesen
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

A. Ausgangslage

Das Thema der Kohärenz im Internationalen Privatrecht beschäftigt seit einigen Jahren verstärkt die kollisionsrechtliche Debatte in Europa.1 Unter Kohärenz im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht ist dabei das Ziel zu verstehen, einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Rechtssätzen zu erreichen, um ein widerspruchsfreies, in sich stimmiges, geordnetes Ganzes zu schaffen.2 Natürlicherweise konnte das Ziel der Kohärenz durch die zeitlich und inhaltlich divergierende Entstehung der einzelnen Verordnungen im Kollisions- und Verfahrensrecht nicht immer verwirklicht werden.3 Vielmehr rückte der Gedanke der Kohärenz neben dringenderen Problemen und Fragen bei der Entstehung der einzelnen Verordnungen in den Hintergrund.4

Die aktuelle Debatte legt den Fokus dementgegen vornehmlich auf dieses Ziel.5 Das Streben nach Kohärenz ist im europäischen Kollisionsrecht nicht nur verständlich, sondern auch notwendig. Innere Widerspruchsfreiheit und Stimmigkeit sind ein Gebot der Gerechtigkeit.6 Außer in den Fällen, in denen sich eine Abweichung aufgrund von Besonderheiten rechtfertigen lässt, darf es in der praktischen Anwendung keine Lücken beziehungsweise sonstige Unstimmigkeiten geben.7 Weiterhin sollen korrespondierende Fragen nicht unterschiedlich geregelt werden.8 Bei einer näheren Betrachtung der einzelnen Verordnungen lässt sich jedoch eine Vielzahl von Inkohärenzen entdecken.9 ← 1 | 2 →

Die Existenz solcher Inkohärenzen ist jedoch unbefriedigend. Sie führt zu Schwierigkeiten bei der Anwendung des europäischen Kollisionsrechts an sich, sowie zu Problemen für einen Gleichlauf zwischen der internationalen Zuständigkeit und dem anwendbaren Recht insgesamt. Beispielhaft hierfür sei nur auf die unterschiedlichen Regelungen zur Rechtswahl in der Rom I- und II-VO hingewiesen.10 Die divergierenden Vorschriften zu der gleichen Frage – wie die Rechtswahl für die Parteien eines Rechtsverhältnisses ausgestaltet ist – zeigen, dass bereits innerhalb einer Rom-Verordnung unterschiedliche Ansätze gewählt wurden.11 Bei einem Vergleich mit anderen Verordnungen des Europäischen Kollisionsrechts wird weiterhin deutlich, dass auch zwischen den Rom-Verordnungen Inkohärenzen allein in Bezug auf die Modalitäten der Rechtswahl bestehen.12

Die Rom I-VO13 und die Rom II-VO14 stehen zurzeit auf dem Prüfstand.15 Dieser Umstand gibt Anlass dazu, einen Blick auf diese Verordnungen – unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz – zu werfen. Im Mittelpunkt der Betrachtung sollen dabei allein der Schutz der schwächeren Partei und die diesbezüglich getroffenen Regelungen stehen.

B. Gegenstand und Ziel der Untersuchung

Die Schaffung des Binnenmarktes und die damit einhergehende Europäisierung der nationalen Märkte betrifft nicht nur die „großen“ Unternehmen, sondern auch „kleinere“ Marktakteure, allen voran Verbraucher und Arbeitnehmer. Der Gedanke, dass sozialpolitisch motivierte Zielsetzungen auch für das Internationale Privatrecht Wirkung entfalten sollten, nachdem ein solcher Schutz der schwächeren Partei in vielen nationalen Rechtsordnungen bereits gang und gäbe war, lag nicht ← 2 | 3 → fern.16 Für Verbraucher und Arbeitnehmer besteht darüber hinaus eine besondere Rechtswahlbeschränkung, an die sie auf der Ebene des europäischen Kollisionsrechts gebunden sind.17 Alle entsprechenden Regelungen werden dabei mit dem Schutz einer als schwächer empfundenen Partei begründet.18 Durch die rasante Zunahme der grenzüberschreitenden Sachverhalte hat sich eine Entwicklung abgezeichnet, die beispielsweise Verbraucher,19 Arbeitnehmer,20 Versicherungsnehmer21 und Reisende22 von der allgemeinen Rechtswahlfreiheit ausnimmt, da diese nach den Wertungen der Verordnungsgeber als schwächer und damit als besonders schutzbedürftig einzustufen sind.23 Die einzelnen Personengruppen sind allerdings sehr unterschiedlich geschützt. Das fällt schon bei einer Betrachtung der Regelungen in der Rom I-VO auf. Hier existiert zum einen der Schutz nach dem Günstigkeitsprinzip in Art. 6 und Art. 8 Rom I-VO.24 Für Personenbeförderungsverträge und Massenversicherungsverträge bestimmt sich das anwendbare Recht hingegen nach der beschränkten Rechtswahl.25 In den anderen Rom-Verordnungen lassen sich ebenfalls unterschiedliche Ansätze aufweisen, wie die schwächere Partei zu schützen sei.26 In der Rom II-VO wird eine Rechtswahl beispielsweise von bestimmten Bedingungen abhängig gemacht.

Warum aber besteht gerade für diese Gruppen ein besonderer Schutz? Es ist nicht eindeutig, was eine schwächere Partei nach den Wertungen der Rom-Verordnungen ausmacht und warum nur ein Schutz für bestimmte Personengruppen existiert. Die vorliegende Arbeit soll sich genau mit dieser Fragestellung beschäftigen. Welche Gründe gibt es, einzelne Personengruppen anders zu behandeln als andere? Was unterscheidet also Verbraucher und Arbeitnehmer auf der einen Seite von Versicherungsnehmern und Reisenden sowie der nicht-kommerziell tätigen Partei auf der anderen Seite? Wie sieht die Rechtslage in den verschiedenen Verordnungen ← 3 | 4 → aus? Warum ist es beispielsweise im Rahmen eines außervertraglichen Schuldverhältnisses ausreichend, die Rechtswahl von bestimmten Bedingungen abhängig zu machen, wohingegen die Rechtswahlmodelle der Rom I-VO eine Korrektur beziehungsweise eine Einschränkung der wählbaren Rechtsordnungen vorgeben? Hierfür sind die verschiedenen ausgemachten Rechtswahlmodelle gegenüberzustellen und zu bewerten.

Darüber hinaus muss sich die Frage gestellt werden, ob hinter den unterschiedlichen Rechtswahlmodellen ein System steht. Möglicherweise existieren Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den Schutzgruppen, die eine einheitliche beziehungsweise eine verschiedenartige Anknüpfung erforderlich machen. Und wenn ein solches System festgestellt werden kann, wurde dieses System auch sinnvoll in den bestehenden Rom-Verordnungen umgesetzt oder gibt es Wertungswidersprüche? Wird durch die verschiedenen Rechtswahlmodelle ein gleichwertiger Schutz für die jeweils schwächere Partei erreicht? Sind alle Personengruppen, die möglicherweise eines besonderen Schutzes bedürfen auch tatsächlich bedacht worden oder fehlen einige?27 Dabei ist beispielsweise an Mieter und Franchisenehmer zu denken.28 Daneben ist der Frage nachzugehen, ob der Schutz für die Personengruppen ideal gestaltet ist oder ob es sich vielmehr um eine Einschränkung anstatt eines wirklichen Schutzes der schwächeren Partei handelt. Hier ist insbesondere an die beschränkte Rechtswahl zu denken, wonach die Parteien nur eine abschließende Auswahl an verschiedenen Rechten haben, zwischen denen sie wählen können. Möglicherweise ist der Katalog an wählbaren Rechtsordnungen jedoch zu eng ausgestaltet.

Auf die angesprochenen Fragen soll im Folgenden eingegangen werden. Die Rom-Verordnungen selbst halten keine oder nur spärliche Erklärungen für die verschiedenen Rechtswahlmodelle zum Schutz der schwächeren Partei bereit. Die Aufdeckung von Inkohärenzen und Wertungswidersprüchen im Europäischen Kollisionsrecht ist jedoch nicht nur für das Verständnis und die Auslegung der Rom-Verordnungen von Bedeutung. Das Europäische Kollisionsrecht wird sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter entwickeln. Dafür ist die Schaffung von Kohärenz von ungemeiner Bedeutung. Dies wurde bereits im Stockholmer Programm des Europäischen Rates aus dem Jahr 2009 festgeschrieben.29 Danach ist „das Unionsrecht durch eine Straffung der bestehenden Instrumente kohärenter [zu gestalten]. Ziel sollte es sein, die Kohärenz und die Nutzerfreundlichkeit der Rechtsinstrumente sicherzustellen und somit ihre effizientere und einheitlicher ← 4 | 5 → Anwendung zu gewährleisten.“30 Unter diesem Gesichtspunkt soll die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten, Wertungswidersprüche in Bezug auf die Rechtswahlbeschränkungen zum Schutz des Schwächeren aufzudecken und zu beseitigen.

C. Gang der Untersuchung

Im Rahmen der Untersuchung soll zunächst in einem Grundlagenteil der Begriff der schwächeren Partei definiert werden. Dafür ist der Begriff der schwächeren Partei auch vor den Gedanken der Gerechtigkeit und der Parteiautonomie näher zu bestimmen. Schließlich ist zu definieren, was einen Wertungswiderspruch ausmacht und woran ein solcher zu erkennen ist, um am Ende der Untersuchung einen einheitlichen Maßstab anlegen zu können.

Dem folgt eine detaillierte Untersuchung der verschiedenen Schutzgruppen in Hinblick auf potentielle Wertungswidersprüche. Dafür sind die einzelnen Personengruppen, die nach den Rom-Verordnungen besonders geschützt sind, vorzustellen. Die hier gewählte Reihenfolge, in der die unterschiedlichen Personengruppen untersucht werden, weicht von der gesetzlichen Aufzählung ab. Sie orientiert sich vielmehr daran, welche Personengruppen dem gleichen Rechtswahlmodell unterworfen sind. Im Anschluss an die Vorstellung der schwächeren Parteien wird die Ausgestaltung des jeweiligen Schutzes für die verschiedenen Personengruppen untersucht. Hierbei ist zwischen dem Schutzbereich der einschlägigen Kollisionsnormen und den jeweiligen Anknüpfungsregeln zu unterscheiden. Die Untersuchung, ob Begründungsansätze für die unterschiedlichen Schutzregelungen existieren, konzentriert sich dabei auf die Entwicklung der einzelnen Vorschriften sowie das Bestehen von Informationsasymmetrie und Abhängigkeitsverhältnissen in den jeweiligen Rechtsverhältnissen.31 Hier wird auch die „Besonderheit“ von Personenbeförderungs- und Massenversicherungsverträgen näher untersucht. Die gefundenen Ergebnisse werden anschließend zur Feststellung von Wertungswidersprüchen gegenübergestellt. Dabei ist auch der Frage nachzugehen, ob möglicherweise grundlegende Unterschiede zwischen den verschiedenen Schutzgruppen bestehen, die eine differenzierende Anknüpfung vorschreiben.

Im abschließenden Teil wird nach einer detaillierten Untersuchung der verschiedenen Rechtswahlmodelle auf ihre allseitige Anwendbarkeit hin ein Alternativvorschlag für eine kohärente Anknüpfung zum Schutz der schwächeren Partei vorgestellt. ← 5 | 6 →

D. Eingrenzung der Untersuchung

Im Folgenden ist der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit näher einzugrenzen.

I. Ausschluss des Internationalen Verfahrensrechts

Die folgende Untersuchung umfasst allein Betrachtungen zum Internationalen Privatrecht. Vereinzelte Bezüge zum Internationalen Verfahrensrecht dienen allein einer umfassenderen Argumentation. Eine vollständige Untersuchung der Wertungswidersprüche sowohl im Internationalen Privat- als auch im Internationalen Verfahrensrecht würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen.

II. Schwerpunkt im Internationalen Vertrags- und Deliktsrecht

Des Weiteren ist zwischen den einzelnen Verordnungen des materiellen Kollisionsrechts zu unterscheiden, da sich einige mehr, andere weniger für eine solche Untersuchung anbieten. Zu untersuchen sind allein die Vorschriften, die die Rechtswahl spezifisch zum Schutz der schwächeren Partei einschränken. Die Arbeit konzentriert sich daher auf das Internationale Schuldrecht, die Rom I- und II-VO. Ausschlaggebend hierfür ist, dass beide Verordnungen klar das Ziel „Schutz der schwächeren Partei“ formulieren.32

1. Rom III-VO

Die Rom III-VO33 stellt eine der jüngsten bisher in Kraft getretenen Rom-Verordnungen dar.34 Art. 5 Rom III-VO gibt den Ehegatten die Möglichkeit, zwischen dem Recht ihres gewöhnlichen Aufenthaltes, ihres letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zum Zeitpunkt der Rechtswahl (sofern eine der Parteien dort immer noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat), dem Recht ihrer Staatsangehörigkeit zum Zeitpunkt der Rechtswahl oder dem Recht des Staates des angerufenen Gerichts zu wählen. Es handelt sich um das Modell der beschränkten Rechtswahl, welches bereits aus der Rom I-VO bekannt ist.35 Anders als in den anderen beiden Rom-Verordnungen wird jedoch in der Rom III-VO trotz Rechtswahlbeschränkung nicht ausdrücklich vom Schutz der schwächeren Partei gesprochen. Nach Erwägungsgrund 15 soll die ← 6 | 7 → „Verordnung die Parteiautonomie bei der Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebands stärken und den Parteien in gewissen Grenzen die Möglichkeit geben, das in ihrem Fall anzuwendende Recht zu bestimmen“; Erwägungsgrund 18 besagt allein, dass sich die Parteien über die rechtlichen und sozialen Folgen ihrer Rechtswahl im Klaren sein sollten und die Partner in ihren Rechten und Chancen durch eine einvernehmliche Rechtswahl nicht beeinträchtigt werden dürfen.

Die Parteien sollen das Recht wählen, zu dem sie einen besonderen Bezug haben, Erwägungsgrund 16 der Rom III-VO. Schwierigkeiten bereitet daher die Einordnung eines Ehepartners als die schwächere Partei. Die Verordnung geht demnach offensichtlich davon aus, dass zwischen den Parteien ein ausgewogenes Kräfteverhältnis bestehe, welches durch die Rechtswahl keinen Schaden nehmen dürfe. Die sich trennenden Parteien werden im Laufe einer Scheidung möglicherweise versuchen, jeweils einen Vorteil für sich selbst zu erlangen und dabei eine für sie günstige Rechtswahl in Betracht ziehen. Der Gesetzgeber ist aber offensichtlich nicht davon ausgegangen, dass tatsächlich ein wirtschaftliches oder soziales Machtgefälle zwischen den Ehepartnern bestehe, welches eine Partei bei der Rechtswahl benachteiligen könne.36 Das Wohl beider Parteien lag vielmehr nach den Formulierungen der Rom III-VO immer im Blick der Verordnungsgeber.37 Die neue Regelung des Art. 5 Rom III-VO vermeidet einen Wettlauf der Ehepartner um das anzuwendende Recht. Darüber hinaus ermöglicht sie ein Gleichlauf zwischen anzuwendenden Recht und zuständigen Gericht.38 Eine tiefergehende Untersuchung der Rechtswahlbeschränkung in der Rom III-VO im Rahmen der vorliegenden Arbeit bietet sich daher nicht an.39 ← 7 | 8 →

2. Unterhalts-VO

Die Unterhalts-VO40 ist als eine sektorale Gesamtregelung zu verstehen.41 Nach Erwägungsgrund 8 haben die Gemeinschaft und ihre Mitgliedsstaaten 2007 im Rahmen der Haager Konferenz zum Internationalen Privatrecht das Haager Unterhaltsübereinkommen42 und das Haager Unterhaltsprotokoll43 angenommen. Diese beiden Instrumente sind daher bei einer Betrachtung der Unterhalts-VO zu berücksichtigen. Art. 15 der Verordnung, der einzige Artikel im Kapitel zum anwendbaren Recht, führt aus, das anwendbare Recht für die jeweiligen Mitgliedsstaaten richte sich allein nach dem Haager Protokoll von 2007.44 Nach Art. 8 des Haager Protokolls gilt wiederum eine beschränkte Rechtswahlfreiheit für die Parteien. Es ist zwischen dem Recht der Staatsangehörigkeit einer der Parteien, dem Recht des gewöhnlichen Aufenthaltes einer der Parteien oder einer akzessorischen Anknüpfung entweder an das Güterrechtsstautut oder das Scheidungsstatut zu wählen.45 Abs. 3 führt näher aus, die beschränkten Rechtswahlmöglichkeiten gelten nicht für Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und solche „Erwachsenen, die aufgrund einer Beeinträchtigung oder der Unzulänglichkeit [ihrer] persönlichen Interessen nicht in der Lage [sind, ihre] Interessen zu schützen.“46 Schließlich gibt Abs. 5 als „Auffangklausel“ vor, eine Rechtswahl solle keine Anwendung finden, wenn diese für eine der Parteien offensichtlich unbillige oder unangemessene Folgen hätte, außer die Parteien waren im Zeitpunkt der Rechtswahl umfassend unterrichtet und sich etwaiger Folgen vollständig bewusst.47 Hier wird eine hohe Anwendungsgrenze aufgestellt, die in den anderen Verordnungen nicht zu finden ist.

Aus dem Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist die Unterhalts-VO jedoch auszuklammern. Denn anders als die schuldrechtlich indizierte Position der schwächeren Partei – wie in der Rom I- oder II-VO – ist hier von grundsätzlich schwächeren ← 8 | 9 → Personen auszugehen.48 Es ist von einer „umfassenden Schwäche“ die Rede, die sich nicht allein auf ein Geschäft, eine Situation oder einen Lebensbereich bezieht.49 Daher finden die Rechtswahlbeschränkungen der Unterhalts-VO in der weiteren Untersuchung keine Berücksichtigung, denn sie unterliegen anderen Erwägungen als denen im Internationalen Schuldrecht. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich allein auf die Rechtswahlbeschränkungen im Internationalen Schuldrecht der Europäischen Union.

3. Erbrechts-VO

Im Vorschlag an die Kommission für eine Erbrechts-Verordnung50 ist in den Erläuterungen zu Art. 17 angeführt, dass ein Hauptanliegen der Verordnung darin besteht, in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten verankerte Garantien aufrecht zu erhalten. Die Rechtswahl für den Erblasser sollte möglich sein, gleichzeitig aber der Schutz der Angehörigen des Erblassers – genauer deren berechtigte Erwartungen – gewahrt bleiben. Der Vorschlag sieht die Lösung darin, neben dem Regelstatut eine „freie Rechtswahl“ zuzulassen, die aber nur die Wahl des Heimatrechts des Erblassers umfasst. Darüber hinaus sollen strenge Formvorschriften gelten. Diese strikte „Entweder-Oder“-Ausgestaltung, die das Europäischen Parlament befürwortete, befriedige alle Interessen im ausreichenden Maße.51 Im endgültigen Verordnungstext52 blieb es bei dieser Lösung. Neben der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt kann der Erblasser das Recht wählen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Rechtswahl erfolgt in der Regel einseitig durch den Erblasser ohne Beteiligung einer anderen Partei.53 ← 9 | 10 →

Durch die „Entweder-Oder“-Lösung ist sichergestellt, dass eine Verbindung zwischen dem Erblasser und dem gewählten Recht besteht. Darüber hinaus vermeidet es die „Entweder-Oder“-Lösung, berechtigte Erwartungen etwaiger Pflichtteilserben zu enttäuschen. Die Rechtswahl ist daher zwar ebenso wie in der Rom I- und II-VO von dem Gedanken getragen, berechtigte Erwartungen der Parteien eines Rechtsverhältnisses zu schützen.54 Um nach einem System zum Schutz der schwächeren Partei zu fahnden, ist zuerst klarzustellen, welche Partei in Erbsachen als die schwächere Partei einzuordnen ist.55 Der Erblasser kann hier wohl kaum gemeint sein. Ebenso gilt der Erbe per se, obwohl nicht in die Rechtswahl des Erblassers eingebunden, nicht als benachteiligt. Allein der Pflichtteilserbe, der durch eine entsprechende Rechtswahl des Erblassers möglicherweise um seinen Pflichtteil „gebracht“ wird, kann als die schwächere Partei im Internationalen Erbrecht gelten. Doch der Pflichtteilserbe ist als Dritter einzuordnen, nicht als schwächere Partei.56

Das Verhältnis zwischen den Parteien eines Erbvertrags eignet sich ebenfalls nicht als Untersuchungsgegenstand. Zwischen den Parteien besteht kein typisches Machtgefälle, es sind keine Informationsasymmetrien oder Abhängigkeitsverhältnisse zu finden, die einen Schutzanspruch indizieren könnten. Die Rechtswahl erfolgt grundsätzlich allein durch den Erblasser.57 Darüber hinaus fehlt es an einem strukturellen Ungleichgewicht zu Lasten einer Partei.58 Die getroffene Regelung soll allein Rechtssicherheit und –klarheit schaffen, der Gedanke an eine schwächere Partei, die durch eine Beschränkung der Rechtswahl zu schützen ist, stand hier nicht zur Debatte. Daher findet auch die Rechtswahlbeschränkung der Erbrechts-VO keinen Eingang in die vorliegende Untersuchung.

Details

Seiten
XV, 224
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631699454
ISBN (ePUB)
9783631699461
ISBN (MOBI)
9783631699478
ISBN (Paperback)
9783631698846
DOI
10.3726/978-3-631-69945-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Schlagworte
Schwächere Partei Rechtswahlmodelle Rom-Verordnungen Informationsasymmetrien Abhängigkeitsverhältnisse Günstigkeitsprinzip
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. XV, 224 S.

Biographische Angaben

Sandra Kühn (Autor:in)

Sandra Kühn studierte Rechtswissenschaften an der Universität in Jena, wo sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war und promoviert wurde.

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Titel: Rechtswahlbeschränkungen zum Schutz des Schwächeren
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