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Das Militär in der politischen Kultur der Türkei

von Ayhan Bilgin (Autor:in)
©2017 Dissertation 435 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie befasst sich mit dem politisch-kulturellen Einfluss des türkischen Militärs. Dabei stehen die militärisch produzierten und vermittelten Deutungs- und Sinnmuster im Mittelpunkt der Analyse. Durch den Rückgriff auf die Ansätze der politischen Kulturforschung und der Foucaultschen Machtanalytik entwickelt der Autor einen theoretisch-analytischen Rahmen zur Analyse militärischer Deutungs- und Sinnmuster. Auf der Grundlage des Forschungsinstrumentariums der politischen Deutungs- und Soziokultur und der Foucaultschen Diskurs- und Machtanalyse werden solche Muster kritisch durchleuchtet. Durch eine historische Diskursanalyse werden die militärischen Deutungsmuster in politischen Deutungs- und Soziokulturen herausgearbeitet und kritisch auf ihre politisch-kulturellen Effekte hin untersucht.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Politische Kulturforschung
  • 2.1 Forschungsstand
  • 2.1.1 Die einstellungsorientierte politische Kulturforschung
  • 2.1.2 Die kulturalistische Richtung politischer Kulturforschung
  • 2.1.3 Der cultural turn und die kulturellen Praxistheorien
  • 2.2 Zusammenfassung
  • 3. Die Verortung des Militärs in der politischen Kultur der Türkei
  • 3.1 Theoretische Konzeptualisierung
  • 3.1.1 Das Militär in der politischen Deutungs- und Soziokultur
  • 3.1.2 Die Foucaultsche Diskurs- und Machtanalyse
  • 3.2 Herangehensweise und Fragestellungen
  • 4. Das Militär in der osmanischen Reichsgesellschaft
  • 4.1 Die militärischen Strukturen im Osmanischen Reich
  • 4.1.1 Die Janitscharen
  • 4.1.2 Timarioten
  • 4.2 Militärische Reformpraxis und Verwestlichungsprozess
  • 4.3 Abschaffung der Janitscharen
  • 4.4 Reformpraxis in der Tanzimat-Zeit (1839–1876)
  • 4.4.1 Der gouvernementale Wandel des absolutistischen Hofstaates
  • 4.4.2 Reformpraxis als kultureller Wandlungsprozess
  • 4.4.3 Die Entstehung der politischen Öffentlichkeit
  • 4.5 Das Militär im zentralen Reform- und Staatsbildungsprozess
  • 4.6 Etablierung der allgemeinen Wehrpflicht (1839)
  • 4.7 Politisierung des militärischen Milieus
  • 4.8 Geschichtswissen als politisch-kulturelle Identitätsstiftung
  • 4.9 Der militaristische Diskurs im militärischen Milieu
  • 4.10 Militarisierung der Gesellschaft in der jungtürkischen Herrschaft
  • 4.11 Zusammenfassung
  • 5. Das Militär in der Republikzeit
  • 5.1 Das Militär in der monolithischen CHP-Herrschaft
  • 5.1.1 Herausbildung der Widerstandsbewegung
  • 5.1.2 Das Militär in der Etablierung monolithischer Herrschaftsordnung der CHP
  • 5.1.3 Das Primat des Militärs in der CHP-Herrschaft
  • 5.1.4 Die militärische Rationalitäts- und Subjektproduktion
  • 5.1.5 Die soziokulturellen Praktiken des Militärs
  • 5.1.6 Zusammenfassung
  • 5.2 Das Militär im Mehrparteiensystem
  • 5.2.1 Das Militär in der Deutungskultur im Mehrparteiensystem
  • 5.2.2 Das Militär in der Soziokultur
  • 5.2.3 Zusammenfassung
  • 5.3 Das Militär von 1980 bis zur Gegenwart
  • 5.3.1 Die Neustrukturierung des politischen Bereichs
  • 5.3.2 Die Rationalitäts- und Subjektproduktion im militärischen Feld
  • 5.3.3 Das Militär auf politischem Gebiet
  • 5.3.4 Das Militär im soziokulturellen Wirkungsfeld
  • 5.3.5 Zusammenfassung
  • 6. Schlussbetrachtung
  • 7. Literaturverzeichnis
  • Nachwort

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1.  Einleitung

Der Einfluss des Militärs auf das politische Geschehen in der Türkei lässt sich bis in die Zeit des Osmanischen Reiches zurückverfolgen. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit setzt gerade hier an, sie geht der Frage nach dem Verhältnis von militärischer Einflussnahme und politischer Kultur in der türkischen Gesellschaft nach. Die politische Rolle des Militärs wird dabei mit dem Instrumentarium der politisch-kulturellen Analyse untersucht. Diesem Erkenntnisinteresse liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich die politische Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft seit Ende der 1990er Jahre in einem Veränderungsprozess befindet. Zum einen zeigt sich dieser Wandel darin, dass bei wissenschaftlichen Studien zum Militär eine Zunahme zu verzeichnen ist. Zum anderen ist es mittlerweile möglich, in der Öffentlichkeit kritisch über das Militär zu diskutieren. Dies geschah nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Demokratisierungsprozesses im Rahmen des sich intensivierenden europäischen Beitrittsprozesses zu Beginn der 2000er Jahre, der die dominierende Rolle des Militärs in der Politik und die zivil-militärischen Beziehungen als Hindernis für einen möglichen EU-Beitritt problematisierte. Der europäische Beitrittsprozess und der Aufstieg einer religiös-konservativen Führungsschicht der AKP seit dem Jahr 2002 führen im Staatsgefüge zur Schwächung der rechtlich-institutionellen Macht des Militärs. Diese Entwicklung verweist besonders auf die Notwendigkeit, sich einer kritischen Analyse der politisch-kulturellen Rolle des Militärs zuzuwenden und den gesellschaftlichen Einfluss des Militärs stärker zu problematisieren. In diesem Zusammenhang soll die vorliegende Analyse einen Beitrag zur Aufdeckung der gesellschaftlich wirksamen Deutungs- und Sinnmuster des Militärs leisten.

Betrachtet man den Forschungsstand, so fällt auf, dass gerade Analysen zum gesellschaftlichen Einfluss des Militärs fehlen. Ein Teil der wissenschaftlichen Studien über das türkische Militär konzentriert sich vor allem auf die Analyse der institutionellen Rolle des Militärs, wobei das Militär vorwiegend in seiner Beziehung zu politischen Akteuren beschrieben wird und die Prozesse der militärischen Rationalitätsproduktion vernachlässigt werden.1 Hier nehmen die Arbeiten von Ümit Cizre einen besonderen Platz ein. Sie nehmen das türkische Militär in seinen spezifischen Beziehungsformen zu politischen Akteuren in den Fokus. Dabei stützen sie sich auf die Forschungsansätze, welche die ← 11 | 12 → Militärsoziologie im Hinblick auf zivil-militärische Beziehungen entwickelt hat. Damit forcieren Cizres Untersuchungen eine Problematisierung des Militärs in seiner sicherheitspolitischen Rolle.2 Die Forschungsarbeit von Dogan Akyaz über den Einfluss der militärischen Interventionen auf das militärische Innenleben richtet den Fokus auf die Prozesse und Regulierungen des militärischen Gebiets und verweist vor allem auf den Verselbstständigungseffekt derselben gegenüber dem politischen Raum.3 Die politische Analyse des türkischen Militärs über die militärischen Institutionen führt jedoch meistens zur Ausblendung der gesellschaftlichen Wirkungen des Militärs. In dieser Hinsicht ist die Arbeit von Serdar Şen bedeutsam, die das Militär als einen ideologischen Staatsapparat betrachtet und kritisch nach seinen Wirkungen im gesellschaftlichen Feld fragt. Er kommt dabei zum Ergebnis, dass das Militär mit der Übernahme einer ideologischen Funktion in der Frührepublik für die Geltung politisch-kultureller Legitimationsmuster des neuen republikanischen Regimes über den Wehrdienst sorgt.4 Ein weiterer Beitrag zum gesellschaftlichen Einfluss des Militärs findet sich in den Arbeiten von Ayşe Gül Altınay. Vor dem Hintergrund der Gender-Perspektive widmet sie sich darin der Analyse der umfassenden Militarisation der türkischen Gesellschaft; dabei macht sie die Durchdringung des soziokulturellen Bereichs durch das Militär deutlich.5 Daran schließt sich die vorliegende Arbeit an. Einen Überblick über das Forschungsfeld zum türkischen Militär bieten schließlich zwei Aufsatzsammlungen über die politische Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft.6

Ein wesentliches Desiderat lässt sich dabei am Fehlen der Verknüpfung von Deutungs- und Soziokultur ausmachen. An dieser Stelle setzt die vorliegende Analyse an und untersucht das Militär in seinen politisch-kulturellen Wirkungen in der politischen Deutungs- und Soziokultur. Die politische Deutungs- und Soziokultur bildet dabei zwei wesentliche Ebenen der vorliegenden Untersuchung, die im Rahmen der politischen Kulturforschung zur Analyse der politisch-kulturellen Macht des Militärs herangezogen werden. Diese Studie beabsichtigt, die Machtposition des türkischen Militärs in der Politik über seine politisch-kulturellen Wirkungen zu erklären, die in den institutionell-juristisch orientierten Arbeiten und Ansätzen weitgehend ausgeblendet werden. ← 12 | 13 →

Die Untersuchung der Stellung des Militärs in der politischen Kultur der Türkei soll über ein politisch-kulturelles Analysekonzept erfolgen, das die politische Kultur als ein System von Vorstellungen und Deutungen über die politische Welt bzw. Wirklichkeit begreift, die mittels politisch-kultureller Diskurse und Praktiken in den deutungs- und soziokulturellen Sphären produziert, vermittelt und verändert werden. Somit werden die politisch-kulturellen Produktionen des Militärs in diesen beiden Sphären in den Vordergrund gerückt, deren wechselseitige Beziehung den militärischen Praktiken eine politisch-kulturelle Wirksamkeit verleiht.

Zur Bildung eines politisch-kulturellen Forschungsrahmens werden zudem die Ansätze politischer Kulturforschung herangezogen, die jedoch um die Foucaultsche Diskurs- und Machtanalyse ergänzt und erweitert werden. Der Einfluss und die Wirksamkeit des Militärs im politischen Raum werden anhand der politisch-kulturellen Strategien bzw. Diskurse und Praktiken des Militärs untersucht, die sich durch die Produktion und Vermittlung politisch-kultureller Vorstellungs- und Deutungsweisen in die deutungs- und soziokulturelle Sphäre der türkischen Gesellschaft einschreiben. Im Mittelpunkt der Analyse stehen die folgenden Fragen: Welche politisch-kulturellen Deutungs- und Sinnmuster werden vom Militär produziert und vermittelt? Welche Wirkungen haben diese in der Gestaltung der politischen Kultur der Türkei entfaltet? Hinsichtlich dieser Frage lautet die zentrale Hypothese: Das Militär kann als einflussreicher staatlicher Akteur im politischen Komplex agieren, weil es in die geschichtliche Genese der deutungs- und soziokulturellen Bereiche der türkischen Gesellschaft wirkungsvoll eingeschrieben ist.

Die gesellschaftlich-politische Macht des Militärs beruht auf seiner politisch-kulturellen Verankerung und somit auf der kollektiven Geltung seiner Sinnproduktionen und Deutungsangebote. Die diskursiven Praktiken des Militärs richten sich auf die Gestaltung der deutungs- und soziokulturellen Gebiete der türkischen Gesellschaft. In der Analyse werden hauptsächlich die feldspezifischen Praktiken und Diskurse des Militärs in den Blick genommen, die sich jedoch über das militärische Feld hinaus auf den politischen und soziokulturellen Bereich auswirken. Diese umfassende Wirksamkeit bildet dabei die Grundlage der politischen Handlungsfähigkeit des türkischen Militärs.

Die politisch-kulturellen Wirkungen des Militärs sollen zum einen über die Rekonstruktion der militärischen Praktiken zur Rationalitäts- und Subjektproduktion im militärischen Komplex herausgearbeitet werden, in dem sich diese diskursiven Praktiken über die Produktion eines politisch-kulturell handlungsfähigen militärischen Milieus in das staatlich-politische Gebiet eingliedern. Zum ← 13 | 14 → anderen sollen die soziokulturellen Wirkungen des Militärs anhand einer diskursanalytischen Rekonstruktion der wehrdienstlichen und schulischen Vermittlungen zur Subjektivierung der soziokulturellen Akteure herausgearbeitet werden, wobei die vermittelten politisch-kulturellen Identitäts- und Subjektformen dekonstruiert und offengelegt werden. Die wehrdienstlichen Erziehungsmaterialien und die schulischen Curricula und Lehrbücher fungieren dabei als empirische Datenquellen zur Analyse der soziokulturellen Subjektivierungsweisen des Militärs. Die Herausarbeitung der politisch-kulturellen Wirkungen des türkischen Militärs erfolgt zuletzt auf der Grundlage der Entwicklung eines gegenstandsorientierten analytischen Rahmens im Rückgriff auf die theoretisch-konzeptionellen Ansätze der politischen Kulturforschung und der Foucaultschen Machtanalytik.

Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Im zweiten und dritten Kapitel steht die Darstellung der zugrunde gelegten theoretisch-konzeptionellen Ansätze der politischen Kulturforschung und der Foucaultschen Machtanalytik im Mittelpunkt, die zur Bildung eines begrifflich-analytischen Forschungsrahmens herangezogen werden. Dabei liegt das Hauptgewicht auf der Darstellung der kulturalistisch orientierten Ansätze der politischen Kulturforschung. Mit der analytischen Einteilung der politischen Kultur in die politische Deutungs- und Soziokultur lässt sich die Foucaultsche Machtanalyse der spezifischen Wirkungsweise der modernen politischen Macht als einer disziplinierenden und regulierenden Regierungsmacht, die in der Verknüpfung von Fremd- und Selbstführungen in Subjektivierungsprozessen zur Geltung kommt, zu einem analytischen Rahmen in der Untersuchung der Wirksamkeit der militärischen Macht in politisch-kultureller Hinsicht verarbeiten.

Im vierten Kapitel geht es um die Darstellung der militärischen Strukturen im Osmanischen Reich, die für die Analyse des Militärs in der Republikzeit von großer Bedeutung sind und hauptsächlich in ihren Wirkungs- und Funktionszusammenhängen in der Entwicklung gesellschaftlich-politischer Herrschaftsverhältnisse in der osmanischen Reichsgesellschaft in Betracht gezogen werden. Neben einer Prüfung der militärischen Strukturen, wie der Janitscharen und Timarioten, die in der Gestaltung der Herrschaftsverhältnisse im deutungs- und soziokulturellen Gebiet des Osmanischen Reiches eine große Rolle spielten, steht hier vor allem der langwierige Prozess der spätosmanischen Armeebildung infolge der durch eine westlich orientierte Herrschaftselite in Gang gesetzten militärisch-staatlichen Reformpraxis der gouvernementalen Staatsbildung im Mittelpunkt der Analyse. ← 14 | 15 →

Den zentralen Teil der Untersuchung bildet schließlich das fünfte Kapitel, in dem das Militär von der frührepublikanischen Zeit bis zur Gegenwart in den genannten Wirkungsfeldern in drei historischen Phasen geprüft und untersucht werden. Die Analyse konzentriert sich vor allem auf die praktischen Vermittlungen des Militärs in den deutungs- und soziokulturellen Sphären. ← 15 | 16 →


1 Halle (1995); Bozdemir (1988); Özdemir (1989); Özdag (1991).

2 Cizre (1993; 2001; 2003; 2004).

3 Akyaz (2002).

4 Şen (1996, 2002).

5 Altınay (1999, 2004a, 2004b).

6 Insel / Bayramoglu (2004) und Göktas / Gülbay (2004).

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2.  Politische Kulturforschung

Die vorliegende Analyse zielt darauf ab, die Machtposition des türkischen Militärs in der Politik über seine politisch-kulturellen Wirkungen zu erklären, die in den institutionell-juristisch orientierten Erklärungsansätzen vorwiegend ausgeblendet werden. Diese sollen vor allem mit der Forschungsfrage angegangen werden, inwieweit die politisch-kulturellen Diskurse und Praktiken des Militärs als eine staatliche Institution über den militärischen Komplex hinausgehen und sich wirkungsvoll in die deutungs- und soziokulturellen Bereiche als Hauptmedien des politisch-kulturellen Handelns eingliedern. Das leitende Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit lässt sich folglich im forschungspraktischen Ziel festmachen, die politisch-kulturellen Wirkungen des türkischen Militärs in den deutungs- und soziokulturellen Gebieten der türkischen Gesellschaft aufzuzeigen. Diese bilden nicht zuletzt die Hauptkategorien des hier zu entwickelnden Analyserasters zur Untersuchung der politischen Macht des Militärs und beziehen sich auf Ansätze der politischen Kulturforschung, welche hier einen wesentlichen Teil der Erarbeitung eines begrifflich-konzeptionellen Analyserahmens bilden. Die Aufdeckung der vielfältigen Wirkungs- und Funktionsweisen des türkischen Militärs soll also im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Dabei wird vor allem von der Annahme ausgegangen, dass die Wirksamkeit und die historisch spezifische Rolle des türkischen Militärs im politischen Bereich durch seine Eingliederung in die Handlungsfelder der sozialen bzw. deutungs- und soziokulturellen Akteure bedingt sind. Diese Eingliederung zeigt sich in erster Linie in den politisch-kulturellen Diskursen und Praktiken des Militärs, welche in dieser Arbeit in ihren spezifischen Formen der historischen Entwicklung analysiert werden und ferner auf den Gegenstandbereich der politischen Kulturforschung verweisen. Es sind nämlich die politisch-kulturellen Deutungs- und Handlungsmuster, die in den Diskursen und Praktiken des Militärs produziert und vermittelt werden und die Grundlage der politischen Wirksamkeit und Handlungsfähigkeit des Militärs über den militärischen Raum hinaus abgeben, indem diese in die politische Wirklichkeit der sozialen Akteure eingehen und das politische Denken und Handeln derselben prägen und organisieren. Insofern liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit in der Analyse der militärischen Macht auf ihre symbolischen Praktiken zur Verankerung in der politischen Kultur der türkischen Gesellschaft, in die sie sich durch die Vermittlung und Verbreitung spezifischer politisch-kultureller Codes und Deutungsmuster einschreibt. Eine Dimension des theoretischen Rahmens in der Erfassung der politisch-kulturellen ← 17 | 18 → Wirkungen des türkischen Militärs soll somit die konzeptionellen Forschungsansätze der politischen Kulturforschung bilden, welche zur Entwicklung eines akteurzentrierten Forschungskonzepts herangezogen werden. Verbunden mit dem Ziel, das Militär in der politischen Kultur der türkischen Gesellschaft zu verorten, stellt sich weiterhin die Frage nach der Klärung des politischen Kulturbegriffs, dessen Bestimmung seit der Etablierung der politischen Kulturforschung in der Politikwissenschaft im Mittelpunkt der politisch-kulturellen Analyse steht. Zur Klärung des Begriffs soll folglich ein Blick auf das Forschungsfeld der politischen Kulturforschung geworfen werden. Diese erweist sich nicht zuletzt zur Entwicklung eines begrifflich-konzeptionellen Analyserahmens als unerlässlich.

2.1  Forschungsstand

Im Feld der politischen Kulturforschung lassen sich hauptsächlich zwei Hauptlinien feststellen. Die eine kann als einstellungsorientierte politische Kulturanalyse bezeichnet werden, welche auf die Forschungstradition der von Almond und Verba entwickelten civic cultur zurückgeht. In Abgrenzung hierzu zeichnete sich seit den 1970er Jahren die zweite – nämlich die symbol- und wissensorientierte bzw. kulturalistisch zu bezeichnende – Analyse der politischen Kulturforschung ab, die auch den Schwerpunkt des hier zu entwickelnden Analyserahmens bildet.

Die Etablierung der politischen Kulturforschung geht vor allem auf die Studie The Civic Culture von Gabriel A. Almond und Sidney Verba zurück, wodurch ein umfassendes analytisches Konzept politischer Kulturforschung vorgelegt wurde.7 Sie begründeten durch diese groß angelegte Studie einen einstellungsorientierten Ansatz der politischen Kulturforschung, welcher hauptsächlich die individuellen Einstellungen, Werte und Orientierungen gegenüber den politischen Systemen anhand von quantitativ erhobenen Umfragedaten zum wesentlichen Gegenstand der politisch-kulturellen Analyse machte und die politische Kultur im Wesentlichen als subjektive Dimension der Politik konzeptualisierte. Sie definierten folglich die politische Kultur als Verteilung von Orientierungsmustern einer Bevölkerung gegenüber den politischen Objekten. Die Civic Culture-Studie entstand vor allem vor dem Hintergrund der behavioralistischen Wende in den 1950er Jahren, wodurch das empirisch beobachtbare Verhalten politischer Akteure ins Blickfeld der Politikwissenschaft rückte. Dieses Forschungsinteresse an der Erklärung von Bestimmungsfaktoren des politischen Verhaltens führte ← 18 | 19 → schließlich zu einer Forschungspraxis, die die subjektive Dimension der Politik, d.h. die Einstellungen und Orientierungen der Menschen gegenüber der Politik, in den Fokus nahm. Dieser Studie lag vor allem ein Kulturbegriff zugrunde, der als Summe individueller Einstellungen und Orientierungen konzipiert wurde, die durch den Bezug auf die politischen Objekte und Sachverhalte als politisch-kulturelle erfasst wurden.8

Neben der dadurch entstandenen Forschungstradition der civic culture, die auf das Konzept von Almond und Verba zurückgeht, lässt sich ein anders inspirierter theoretischer Strang im Bereich der politischen Kulturforschung feststellen: die symbol- und wissensorientierte bzw. kulturalistisch einzuordnende politische Kulturforschung. Die Herausbildung einer symbol- und wissensorientierten politischen Kulturforschung, die sich immer mehr als kulturalistische Analyse des Politischen versteht, lässt sich vor allem auf die geteilte Kritik an dem auf Einstellungen verengten Kulturbegriff der Civic Culture-Tradition zurückführen. Diese Kritik bildet folglich den Ausgangspunkt zur Entstehung alternativer und kulturtheoretisch fundierter Ansätze politischer Kulturforschung, die um ein Konzept der kulturalistisch orientierten politischen Kulturforschung gruppiert werden können.9 Vor allem seit den 1970er Jahren wurde die Forschungstradition der civic culture einer kulturtheoretischen Kritik unterzogen, die die Gegenstände und Methoden der politischen Kulturforschung von den individuellen Einstellungen und Orientierungen zu den symbolisch-semiotischen Ausdrucksformen (Symbole, Zeichen, Mythen, Rituale, Wissen etc.) zu erweitern versuchte. Ausgehend von einem grundlegenden Kulturbegriff – verstanden als kollektiv wirksame und somit implizit geltende Codes und Sinnmuster – wird politische Kultur hier definiert als ein System von kollektiv geteilten Annahmen, Vorstellungen und Deutungen über die politische Welt.10 Diese steht vor allem in Zusammenhang mit dem sog. cultural turn in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung, der den theoretisch-konzeptionellen Hintergrund dieser symbol- und wissensorientierten politischen Kulturforschung in ihrem verstärktem Rückgriff auf die kulturtheoretischen Erkenntnisse abgeben. Der cultural turn lässt sich demnach als eine kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Sozialwissenschaften seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts verstehen, die von der symbolischen, sinnhaften Konstitution der sozialen Welt und menschlichen Verhaltens ausgeht und somit die kollektiv- symbolischen Ordnungen und Sinnsysteme zur Erklärung ← 19 | 20 → des sozialen Handelns ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Forschung rückt.11 In Abgrenzung von der Civic Culture-Tradition entwickelten schließlich diese symbolorientierten Forschungsansätze im Komplex der politischen Kulturforschung alternative kulturelle Zugänge, Fragestellungen, Gegenstände und Methoden zur Analyse politischer Kulturen, die in den folgenden Abschnitten dargestellt und diskutiert werden. In einer kritischen Absetzung von der einstellungsorientierten politischen Kulturforschung werden in dieser Arbeit folglich auf die Ansätze und Begrifflichkeiten dieser symbolorientierten bzw. kulturalistischen politischen Kulturforschung zurückgegriffen, um einen analytischen Bezugsrahmen zur Analyse des Militärs in der politischen Kultur der Türkei zu entwickeln. Denn diese bilden nicht zuletzt den relevanten Teil der hier zugrundegelegten theoretisch-konzeptionellen Voraussetzungen. Die Darstellung der verschiedenen politisch-kulturellen Konzepte bezieht sich hauptsächlich auf die in der deutschsprachigen Forschungslandschaft veröffentlichten Arbeiten. In Deutschland lässt sich seit den 1970er Jahren neben der vom Konzept der civil cultur beeinflussten und auf die Erfassung und Analyse der individuellen Einstellungen und Orientierungen ausgerichteten politischen Kulturforschung einen kulturalistisch orientierten alternativen Zugang zur Analyse politischer Kulturen beobachten. Dieser zeichnet sich vor allem durch eine grundlegende Kritik sowohl an dem auf die individuellen Einstellungen verengten Kulturbegriff als auch dem strukturfunktionalistisch zugrundegelegten bzw. auf Systemstabilität bedachten Politikverständnis der Civic Culture-Tradition aus. Da die Ansätze der politischen Kulturforschung für den hier zu entwickelnden Analyserahmen herangezogen werden, sollen zuerst diese verschiedenen Ansätze in ihren verschiedenen Forschungsgegenständen, Erkenntnisinteressen und Methoden dargestellt und problematisiert werden. Anschließend soll versucht werden, diese Ansätze auf ihre Möglichkeiten hin zu einer forschungspraktischen Anwendung und Operationalisierbarkeit für den untersuchten Forschungsgegenstand zu prüfen. Im Folgenden sollen folglich die oben genannten Forschungsrichtungen im Mittelpunkt der Analyse stehen.

2.1.1  Die einstellungsorientierte politische Kulturforschung

Dieser als „Mainstream“ der politischen Kulturforschung zu fassende, vor allem in der angloamerikanischen Forschungstradition verankerte politische Kulturansatz, der vor allem auf die von Almond und Verba vorgelegten Studie The Civic Cultur zurückgeht, konnte sich durch die behavioralistische Wende in den ← 20 | 21 → 1950er Jahren schnell etablieren. Die genannte Studie nahm folglich die Meinungen, Einstellungen und Orientierungen, welche zum hauptsächlichen Gegenstand der damit begründeten politischen Kulturforschung erhoben wurden, anhand von quantitativen Forschungsmethoden (Umfrageforschung) in den politischen Systemen von fünf Ländern (USA, England, BRD, Italien und Mexico) in den Blick. Sie war darauf ausgerichtet, durch einen groß angelegten Vergleich die Bedingungen herauszufinden, welche für die Entwicklung angemessener politischer Verhaltensweisen in Bezug auf die Stabilität oder Instabilität der liberal-parlamentarischen Ordnungen förderlich oder nicht förderlich sind. In der genannten Studie wurde versucht, die untersuchten Fallbeispiele typologisch nach bestimmten Grundmerkmalen bzw. identifizierten Orientierungsmustern einzuordnen, um einen idealen politischen Kulturtyp zu gewinnen, der für die Institutionen der parlamentarischen Demokratie förderlich sein soll.12 Daraus entwickelten sie einen Ansatz politischer Kulturforschung, der sich gemeinhin auf die Untersuchung und Erfassung politischer Meinungen, Einstellungen und Orientierungen einer Bevölkerung gegenüber den Institutionen eines politischen Systems konzentrierte. Politische Kultur wird von ihnen folglich definiert als „particular distribution of orientation toward political objects among the members of a nation“.13 Sie wird weiterhin verstanden als die Summe kognitiver, affektiver und evaluativer Orientierungen der Menschen gegenüber dem politischen System im Allgemeinen und gegenüber dessen Input, seinem Output und der eigenen Rolle als Bürger im Besonderen.14 Durch die durchgeführte Civic Culture-Studie kamen sie schließlich durch die Klassifizierung verschiedener Entwicklungsstufen spezifischer politischer Kulturen, welche aus den identifizierten unterschiedlichen Orientierungen der in einem politischen System lebenden Menschen gegenüber der Politik resultierten, zu einer Vergleichstypologie.15 Sie definierten somit die politische Kultur als subjektive Dimension der Politik, die in den individuellen Einstellungen und Orientierungen der Menschen gegenüber den politischen Objekten erfasst werden sollte. Das liegt nicht zuletzt am zugrundegelegten Kulturbegriff, der sich hauptsächlich auf die individuellen Einstellungen und Orientierungen bezieht und der schließlich ← 21 | 22 → mit dem Objektbereich der Politik in Verbindung gebracht wird.16 Durch die Civic Culture-Studie begründeten Almond und Verba schließlich den einstellungsorientierten Ansatz politischer Kulturforschung, welcher die individuellen Einstellungen und Orientierungen zum hauptsächlichen Gegenstand politisch-kultureller Analyse erhob und zu deren Erfassung und Analyse die quantitativ-empirischen Forschungsmethoden einsetzt. Das durch die Civic Culture-Studie begründete Forschungskonzept stellt vor allem eine der mehr oder weniger einheitlichen Forschungsrichtung im Rahmen politischer Kulturforschung dar und wird mit theoretisch-konzeptionellen Ergänzungen in der Analyse politischer Kulturen herangezogen und weitergeführt.17

Dieser Ansatz sollte aber auf der anderen Seite eine wissenschaftliche Debatte in der Politikwissenschaft auslösen und vor allem auf eine kritische Haltung im wissenschaftlichen Milieu stoßen. Diese Kritik richtete sich hauptsächlich gegen die gewählten Forschungsgegenstände und die Methodik der Civic Culture-Tradition. In der durch den Ansatz von Almond und Verba bevorzugten Konzeptualisierung der politischen Kulturforschung standen demnach die subjektiven Einstellungen und Meinungen gegenüber den politischen Objekten im Vordergrund. Weil diese hauptsächlich zum Gegenstand politisch-kultureller Forschung erhoben wurden, stieß diese Gegenstandsbestimmung in der wissenschaftlichen Debatte auf Kritik. Die politische Kultur lässt sich demzufolge nicht auf die Erfassung und Darstellung der in einer Gesellschaft vorhandenen politischen Einstellungs- und Orientierungsmuster von Individuen beschränken. Im Konzept von Almond und Verba wird dieser methodische Individualismus übersteigert, da sie nicht zuletzt die subjektiven Wahrnehmungen und Einstellungen zu ihrer Forschungsgrundlage erhoben, welche ausschließlich sozialisationsbedingt analysiert und betrachtet werden.18 Die Kritik richtet sich aber auch gegen das normativ begründete Politik- und Demokratieverständnis der civic culture, das durch die starke Anlehnung an der systemtheoretischen Politikanalyse die ← 22 | 23 → Stabilität der liberal-parlamentarischen Ordnungen im Blick hat und die wesentlichen Aspekte und die Komplexität politischer Prozesse ausblendet. So verfehlt dieser Ansatz die Wirkungszusammenhänge der politischen Institutionen in der Entstehung und Verfestigung von politischen Einstellungen und Orientierungen.19 Dadurch fand also eine Reduktion der politischen Kulturforschung auf die Erklärungsfunktion der Stabilität und Integration des politischen Systems statt und somit die Vernachlässigung der gesellschaftlich-politischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Der Versuch von Almond und Verba, einen idealen politischen Kulturtypus als Bemessungsgrundlage für andere politische Kulturen zu entwerfen, bildet in diesem Zusammenhang ebenfalls den weiteren Kritikpunkt in der wissenschaftlichen Debatte.

Weiterhin wird auf die Defizite methodischer Herangehensweise des einstellungsorientierten Ansatzes politischer Kulturforschung hingewiesen. Dieser zielt nämlich in der Analyse der politisch-kulturellen Phänomene auf die Erfassung und Messung der Einstellungen und Orientierungen der Menschen gegenüber den politischen Objekten. Dieser Ansatz, der die politische Kultur – gedacht als messbare Einstellungen – über empirische Einstellungsdaten zu messen und zu erfassen versucht, erweist sich aber vor allem durch eine begrenzte Möglichkeit der Rückschlüsse auf die hinter diesen Einstellungen und Meinungen liegenden Wahrnehmungsmuster und Identitäten, keinerlei Rückschlüsse auf ihre Generierung und Perpetuierung oder auch ihre Veränderung.20 Politische Kultur ist diesem Verständnis zufolge als ein spezifischer Teil allgemeiner Kultur zu verstehen, der neben anderen Bereichen, wie etwa wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Teilsystemen, besteht. Kultur wird dann zu politischer Kultur, wenn das Objekt, auf das sich die Orientierungen beziehen, politischer Natur ist.21 Kritisiert wird ebenfalls, dass unter Hinzuziehung mikrosoziologischer Daten Aussagen über andere Aggregatebenen getroffen werden, was auf die Annahme eines homogenen Kulturverständnisses (z.B. eine Nationalkultur) hinausläuft.22

Diese knapp dargestellte Kritik am einstellungsorientierten Ansatz fällt aber vor allem mit der Bestrebung seit den 1970er Jahren zusammen, alternative Zugänge und Konzepte zur Analyse politischer Kulturen zu entwickeln. Diese als kritische Weiterführung der politischen Kulturforschung anzusehenden begrifflich-konzeptionellen Bestrebungen gingen vor allem über das Konzept der civic culture hinaus und entwickelten sich zu einer symbol- und wissensorientierten ← 23 | 24 → politischen Kulturanalyse, welche gegenwärtig immer mehr als eine kulturalistische Analyse des Politischen unter Rückgriff auf Erkenntnisse des cultural turn betrieben wird. Im Weiteren soll deswegen diese symbol- und wissensorientierte bzw. kulturalistische Richtung politischer Kulturforschung betrachtet und dargestellt werden. Da hier die begrifflich-konzeptionellen Erkenntnisse dieser sich kulturalistisch verstehenden politisch-kulturellen Arbeiten zur Entwicklung eines Analyserahmens herangezogen werden, wird die Darstellung dieser symbolorientierten, kulturalistisch inspirierten, politischen Kulturforschung dementsprechend mehr Beachtung finden.

2.1.2  Die kulturalistische Richtung politischer Kulturforschung

Aus der Kritik am einstellungsorientierten Ansatz entwickelten sich seit den 1970er Jahren alternative Ansätze zur Analyse politischer Kulturen. Ein Blick auf diese als eine kritische Weiterführung politischer Kulturforschung zu verstehenden wissenschaftlichen Diskurse lässt die Konturen eines alternativen Forschungsfeldes zur Analyse politischer Kulturen erkennbar werden, was als symbol- und wissensorientierte politische Kulturforschung bzw. als die kulturalistische Richtung politisch-kultureller Analyse beschrieben werden kann. Trotz der bestehenden Uneinheitlichkeit in diesem Bereich lassen sich diese als kritisch zu verstehenden, verschiedenen Ansätze im Rahmen politischer Kulturforschung gruppieren. Diese als symbol- und wissensorientiert zu nennende Forschungsrichtung wird aber vor allem in den Formen betrieben, die Gemeinsamkeiten im zugrundegelegten Kulturbegriff, in der Gegenstandsbestimmung und in den Methoden, aber auch eine gewisse Übereinstimmung mit den Erkenntnissen des cultural turn aufweisen.23 Ein Blick auf diese politisch-kulturellen Analysen zeigt, dass diese gerade unter Rückgriff auf diese kulturtheoretischen Erkenntnisse im Rahmen des cultural turn eine kritische Weiterführung und Erweiterung erfahren haben. Diese kulturalistische Richtung politischer Kulturforschung hat folglich einen gemeinsamen kulturtheoretischen Ausgangspunkt. Demnach wird die Kultur im Gegensatz zum auf individuelle Einstellungen reduzierten Subjektivismus der Civic Culture-Tradition in den kollektiv wirksamen und implizit geltenden symbolisch-sinnhaften Formen verankert und das Politische auf dieser Grundlage betrachtet und analysiert. Aufgrund der Fokussierung dieser alternativen politischen Kulturansätze auf Symbole bzw. symbolische Formen als Gegenstand politisch-kultureller Analyse werden diese von Schwelling unter ← 24 | 25 → dem symbolzentrierten Konzept politischer Kulturforschung subsumiert.24 Da diese Ansätze in ihren Zielsetzungen eine Analyse der kulturellen Grundlagen der Politik oder des Politischen anstreben, werden diese Bestrebungen in dieser Arbeit in eine übergreifende Kategorie der kulturalistischen Richtung politischer Kulturforschung eingeordnet. Obwohl all diese Ansätze sich nicht explizit auf eine kulturalistische Analyseebene der Politik beziehen, machen jedoch dieser kulturtheoretische Hintergrund der symbol- und wissensorientierten politischen Kulturansätze und die Erkenntnisse im Rahmen des cultural turn die Annahme plausibel, von einer kulturalistischen Analyse politischer Kulturen zu sprechen.25 Die gegenwärtigen Tendenzen in der Analyse politischer Kulturen deuten ebenfalls auf diese Entwicklung hin, die politische Kulturforschung unter dem verstärkten Rückgriff auf kulturtheoretische Erkenntnisse als eine kulturalistische Analyse der Politik zu verstehen. Dies kann ebenfalls als Effekt des cultural turn in der politischen Kulturforschung gesehen werden, welcher in dieser Forschungsrichtung stärker rezipiert und in die Forschungspraxis politischer Kulturen umgesetzt wird. Nicht zuletzt dienen in diesem Rahmen die kulturtheoretischen bzw. poststrukturalistischen und hermeneutisch-phänomenologischen Arbeiten von Foucault, Bourdieu, Taylor, Schütz sowie Luckmann u.a. als Grundlage zur Konzeptualisierung politisch-kultureller Analyse.26 Diese Anknüpfungsversuche politischer Kulturforschung an die kulturtheoretischen Erkenntnisse nahmen vor allem seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Forschungsraum zu und setzen sich auch in der Gegenwart fort, wobei sie immer mehr in Gestalt einer kulturalistischen Analyse der Politik betrieben wird.

Aus der Kritik an der Civic Culture-Tradition politischer Kulturforschung entwickelt sich schließlich eine kulturalistisch inspirierte Richtung politischer Kulturforschung, welche die symbolischen Formen und Strukturen (Symbole, Mythen, Rituale, Sprache, Wissen etc.), die folglich den politischen Handlungen, Prozessen und Institutionen zugrundeliegen, zum Gegenstand politisch-kultureller Analyse macht und durch die forschungspraktische Orientierung an der Erklärung kultureller Grundlagen der Politik das Verhältnis zwischen Kultur und Politik neu zu bestimmen versucht. In dieser kulturalistischen Richtung lassen ← 25 | 26 → sich vor allem zwei wesentliche Forschungsperspektiven herauspräparieren: Die erste Perspektive kann im entwickelten grundlegenden Kulturbegriff gesehen werden, welcher zur begrifflich-konzeptionellen Neubestimmung politischer Kulturforschung führen sollte. Der Kulturbegriff wird hier von individuellen Einstellungen und Orientierungen zu den kollektiv geltenden und implizit wirksamen symbolischen Strukturen bzw. Vorstellungen, Grundannahmen, Weltbildern und Deutungen verlagert. Diese sollen folglich die Gegenstände politisch-kultureller Analyse bilden, in denen die politische Kultur der jeweiligen Gruppen analysiert werden kann. In diesem Zusammenhang soll hier insbesondere auf die Arbeiten von Karl Rohe hingewiesen werden, die wesentlich zur begrifflich-konzeptionellen Klärung und Vertiefung dieser kulturalistischen Richtung beitrugen und die hier ausführlich geprüft werden. Rohe geht zuerst von der kollektiven Eigenschaft politisch-kultureller Phänomene aus und kritisiert den subjektivistischen Fehlschluss der Civic Cultur-Tradition.

„Eine erste Grundannahme lautet, dass Kultur, ähnlich wie Sprache im Sinne von langue, ein überindividuelles Phänomen darstellt. Sie bedarf zwar konkreter Individuen, die sie in ihr Denken, Fühlen und Handeln aufnehmen; Träger von Kultur sind aber letztlich nicht Individuen, sondern gesellschaftliche Kollektive. Kultur hat ‚man‘ stets nur mit anderen zusammen.“27

Es muss demnach nicht nur nach subjektiven Einstellungen gegenüber politischen Objekten und Systemen gefragt werden, wie dies bei Almond und Verba der Fall ist, sondern nach den Wahrnehmungsmustern und Beurteilungsmaßstäben, die solchen Einstellungen zugrundeliegen. Das sind die Grundannahmen in einer Gesellschaft, die die Menschen oder soziale Gruppen über die politische Welt besitzen.28 Es geht also Rohe zufolge um die für ein gesellschaftliches Kollektiv maßgebenden grundlegenden Vorstellungen darüber, was Politik ist, ← 26 | 27 → sein kann und sein soll. Diese Grundannahmen stellen so etwas wie Maßstäbe dar, anhand derer die Politik wahrgenommen, interpretiert und beurteilt wird.29 Politische Kulturforschung heißt schließlich bei ihm, das politische Weltbild und die ungeschriebene Verfassung eines sozialen Verbandes aufzudecken.

Rohe definiert somit die politische Kultur ausgehend von einem grundlegenden Kulturbegriff folgendermaßen:

„Die in die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit eingelassenen Ideen und Deutungsmuster, die die Politikhorizonte abstecken, Sinnbezüge stiften und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Trägern als Maßstäbe zur Auswahl, Organisation, Interpretation, Sinngebung und Beurteilung politischer Phänomene benutzt werden.“30

Dies hat somit zur Folge, dass man einerseits politische Ideen, Vorstellungen und Deutungsmuster zur Stiftung politischer Wirklichkeiten untersuchen und andererseits die aus diesen Ideen und politischen Weltbildern resultierenden Handlungsmuster und deren Träger ausloten muss, die diese auf den politischen Bereich der Gesellschaft übertragen. Rohe führt aber vor allem die geschichtliche Dimension politisch-kultureller Phänomene in sein Konzept ein und begreift die politische Kultur

„als objektiv-geistiger Strukturzusammenhang, der als Produkt und Resultat kollektiver historischer Prozesse bereits vorliegt und in den Neumitglieder eines sozialen Verbandes, mag es sich dabei um nachwachsende Generationen oder Zuwanderer handeln, nach und nach via Sozialisation und Enkulturationsprozesse eingefügt werden.“31

Details

Seiten
435
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631734445
ISBN (ePUB)
9783631734452
ISBN (MOBI)
9783631734469
ISBN (Paperback)
9783631734438
DOI
10.3726/b11770
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Militarisierung der türkischen Gesellschaft Politikkultur und Militär Militärsoziologie Politische Kulturforschung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 435 S.

Biographische Angaben

Ayhan Bilgin (Autor:in)

Ayhan Bilgin studierte Geschichte an der Universität Istanbul sowie Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Hannover, wo er im Fach Politikwissenschaft promoviert wurde. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Artvin Coruh in der Türkei.

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Titel: Das Militär in der politischen Kultur der Türkei
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