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Zur Förderung von Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen nach dem Response-to-Intervention-Ansatz

Kontrollgruppenstudie zur sprachlichen, schulleistungsbezogenen und sozial-emotionalen Entwicklung in unterschiedlichen schulischen Settings

von Kathrin Mahlau (Autor:in)
©2016 Habilitationsschrift 441 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin untersucht, in welchem Schulsetting eine qualitativ hochwertige Beschulung von Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) am besten gelingt. Dabei vergleicht sie Unterricht in regulären Grundschulklassen, Unterricht unter den präventiven Aspekten des Response-to-Intervention-Ansatzes (RTI) sowie Unterricht in Sprachheilklassen. In einer zweijährigen Längsschnittstudie verfolgte die Autorin die Entwicklung von 64 Kindern mit SSES in den unterschiedlichen Beschulungsformen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die inklusive Beschulung von Kindern mit SSES nach dem RTI-Ansatz mit der in Sprachheilklassen vergleichbar, der Regelunterricht dagegen weniger geeignet ist. Davon zeugen der dargestellte und analysierte Verlauf in den Entwicklungs- und Lernbereichen sowie Überlegungen zur Verbesserung der Beschulungssituation.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Zum Begriff „Inklusion“
  • 1.2 Exkurs: Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Europa
  • 1.3 Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland und in Mecklenburg-Vorpommern (M-V)
  • 1.4 Zielsetzungen und Inhalte der vorliegenden Arbeit
  • 2 Forschungsstand zur schulischen Förderung bei spezifischen Sprachentwicklungsstörungen und Entwurf eines Förderkonzeptes nach dem Response-to-Intervention-Ansatz
  • 2.1 Spezifische Sprachentwicklungsstörungen (SSES)
  • 2.1.1 Entwicklung von Kindern mit SSES – Forschungsstand
  • 2.1.1.1 Definition
  • 2.1.1.2 Prävalenz
  • 2.1.1.3 Ursachen
  • 2.1.1.4 Symptomatik
  • 2.1.1.5 Prognose und spezifische Verlaufsformen
  • 2.1.2 Zusammenhänge von SSES und weiteren Entwicklungsstörungen (Komorbiditäten)
  • 2.1.2.1 Zusammenhang zwischen SSES und kognitiver Entwicklung
  • 2.1.2.2 Zusammenhang zwischen SSES und Lese-Rechtschreibstörungen (LRS)
  • 2.1.2.3 Zusammenhang zwischen SSES und Rechenstörung
  • 2.1.2.4 Zusammenhang zwischen SSES und eingeschränkten auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten
  • 2.1.2.5 Zusammenhang zwischen SSES und emotional-sozialen Auffälligkeiten
  • 2.1.3 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit SSES
  • 2.2 Evidenzbasierte Förderung in der Therapie bei SSES
  • 2.2.1 Evidenzbasierung
  • 2.2.1.1 Problemaufriss
  • 2.2.1.2 Definition
  • 2.2.1.3 Aktuelle Konzeptionen zur Hierarchisierung von Evidenzen
  • 2.2.1.4 Evidenzlösung in der Sonderpädagogik
  • 2.2.2 Sprachtherapieforschung
  • 2.2.2.1 Effektivität sprachtherapeutischer Verfahren
  • 2.2.2.2 Probleme bei der Bestimmung von Evidenzen
  • 2.2.2.3 Evidenzbasierte Trainings- und Förderverfahren
  • 2.2.2.3.1 Psycholinguistisch orientierte Phonologie Therapie (P.O.P.T., Fox, 2004)
  • 2.2.2.3.2 Wortschatztherapien
  • 2.2.2.3.2.1 Elaborationstherapie (Glück, 2003)
  • 2.2.2.3.2.2 Patholinguistische Therapie (Kauschke & Siegmüller, 2006)
  • 2.2.2.3.2.3 „Wortschatzsammler“ (Motsch & Ulrich, 2012)
  • 2.2.2.3.2.4 Wortschatzarbeit auf der Grundlage praktischer Erfahrungen (Reber & Schönauer-Schneider, 2009)
  • 2.2.2.3.3 Kontextoptimierung (Motsch, 2010)
  • 2.2.3 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit SSES
  • 2.3 Konzeptionen schulischer sonderpädagogischer Förderung im Förderschwerpunkt Sprache
  • 2.3.1 Einführung und Begriffe
  • 2.3.2 Konzeption in Sprachheilklassen
  • 2.3.2.1 Sprachtherapeutischer Unterricht – Inhalte und Unschärfe des Konstrukts
  • 2.3.2.2 Lehrersprache
  • 2.3.2.3 Metalinguistische Fähigkeiten
  • 2.3.2.4 Handlungsbegleitendes Sprechen
  • 2.3.2.5 Sprachtherapeutische Aufbereitung des Curriculums
  • 2.3.3 Förderung im integrativen Schulsetting: Der „Gemeinsame Unterricht“
  • 2.3.3.1 Definitionsversuch
  • 2.3.3.2 Inhalte und Umsetzung
  • 2.3.3.2 Gesetzliche Vorgaben
  • 2.3.4 Kritik an der bisher praktizierten Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs
  • 2.3.5 Exkurs: Schulische Förderung sprachentwicklungsgestörter Kinder im internationalen Vergleich
  • 2.3.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit SSES
  • 2.4 Der Response-to-Intervention-Ansatz
  • 2.4.1 Mehrebenenprävention
  • 2.4.2 Evidenzbasierte Praxis (EBP)
  • 2.4.3 Diagnostik mit Screeningverfahren und curriculumbasierten Messungen (CBM)
  • 2.4.4 Zur Wirksamkeit des RTI-Ansatzes
  • 2.4.5 Kritik am RTI-Ansatz
  • 2.4.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit SSES
  • 2.5 Gesamtzusammenfassung und Ableitung eines inklusiv orientierten Sprachförderkonzeptes nach dem Response-to-Intervention-Ansatz im Rahmen des Rügener Inklusionsmodells
  • 2.5.1 Gesamtzusammenfassung der Förderung bei SSES
  • 2.5.2 Das Rügener Inklusionsmodell (RIM)
  • 2.5.2.1 Diagnostik mit Lernfortschrittsdokumentation
  • 2.5.2.2 Mehrebenenprävention
  • 2.5.2.3 Evidenzbasierte Praxis
  • 2.5.2.4 Fördermaßnahmen in den Lernbereichen Deutsch und Mathematik und im Förderbereich emotional-soziale Entwicklung
  • 2.5.2.4.1 Lernbereich Deutsch
  • 2.5.2.4.2 Lernbereich Mathematik
  • 2.5.2.4.3 Förderbereich emotional-soziale Entwicklung
  • 2.5.3 Möglichkeiten sprachlernunterstützender Maßnahmen im RIM
  • 2.5.3.1 Diagnostik und Lernfortschrittsdokumentation im Förderschwerpunkt Sprache
  • 2.5.3.2 Mehrebenenprävention im Förderschwerpunkt Sprache
  • 2.5.3.3 Evidenzbasierte Förderung im Förderschwerpunkt Sprache
  • 2.5.4 Überlegungen zu den Stärken und Schwächen der Konzeption
  • 3 Methodik
  • 3.1 Vorbemerkungen
  • 3.2 Fragestellung und Hypothesen
  • 3.2.1 Fragestellung
  • 3.2.2 Ungerichtete Hypothesen
  • 3.3 Probandengruppen
  • 3.3.1 Abhängige Variablen
  • 3.3.1.1 Sprachentwicklungsscreening aller Kinder
  • 3.3.1.2 Spezifische Sprachentwicklungsdiagnostik
  • 3.3.2 Bildung und Beschreibung der Stichproben
  • 3.3.3 Unabhängige Variable
  • 3.3.3.1 Förderung in unterschiedlichen schulischen Settings
  • 3.3.3.2 Treatmentkontrolle in der Experimentalgruppe Rügen
  • 3.3.3.2.1 Treatmentfragebogen Grundschulpädagogen
  • 3.3.3.2.2 Treatmentfragebogen Sonderpädagogen
  • 3.4 Untersuchungsplan und -durchführung
  • 3.5 Messverfahren
  • 3.5.1 Marburger Sprachverständnistest (MSVK; Elben & Lohaus, 2000)
  • 3.5.2 Elternfragebogen zur Anamnese der Sprachentwicklung (Mahlau, 2010a)
  • 3.5.3 Sprachstandserhebungstest für Kinder im Alter zwischen 5 und 10 Jahren (SET 5–10; Petermann, 2010)
  • 3.5.4 Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses (TROG-D; Fox, 2011)
  • 3.5.5 Lautanalysebogen (Mahlau, 2010b)
  • 3.5.6 Untertests “Zahlennachsprechen” und „Buchstaben-Zahlen-Folgen“ aus dem HAWIK-IV (Petermann & Petermann, 2010a)
  • 3.5.7 Culture Fair Intelligence Test (CFT 1; Weiß & Osterland, 1997)
  • 3.5.8 Fragebogen zur Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten und -stärken: Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ; Goodman, 1997, 2005)
  • 3.5.9 Fragebogen zur Erfassung emotionaler und sozialer Schulerfahrungen von Grundschulkindern erster und zweiter Klassen (FEESS 1–2; Rauer & Schuck, 2004)
  • 3.5.10 Münsteraner Screening (MÜSC; Mannhaupt, 2006)
  • 3.5.11 Kalkulie (Fritz, Ricken & Gerlach, 2007)
  • 3.5.12 Würzburger Leise Leseprobe (WLLP; Küspert & Schneider 1998), Würzburger Leise Leseprobe – Revision (WLLP-R; Schneider, Blanke, Faust & Küspert, 2011)
  • 3.5.13 Deutscher Rechtschreibtest für das erste und zweite Schuljahr (DERET 1–2+; Stock & Schneider, 2008a)
  • 3.5.14 Deutscher Mathematiktest für erste Klassen (DEMAT 1+; Krajewski, Küspert, Schneider & Visé, 2002)
  • 3.5.15 Deutscher Mathematiktest für zweite Klassen (DEMAT 2+; Krajewski, Liehm & Schneider, 2004)
  • 3.6 Auswertungsverfahren, statistische Prüfgrößen und Störvariablen
  • 4 Ergebnisse
  • 4.1 Hypothesenüberprüfung
  • 4.1.1 Sprachentwicklung
  • 4.1.1.1 Ergebnisse zum Ende der Klasse 1
  • 4.1.1.2 Ergebnisse zum Ende der Klasse 2
  • 4.1.2 Schulleistungsfähigkeit
  • 4.1.2.1 Ergebnisse zum Ende der Klasse 1
  • 4.1.2.2 Ergebnisse zum Ende der Klasse 2
  • 4.1.3 Sozial-emotionale Entwicklung
  • 4.1.3.1 Ergebnisse zum Ende der Klasse 1
  • 4.1.3.2 Ergebnisse zum Ende der Klasse 2
  • 4.2 Ergebniszusammenfassung
  • 4.2.1 Ergebniszusammenfassung zum Ende der Klasse 1
  • 4.2.2 Ergebniszusammenfassung zum Ende der Klasse 2
  • 4.3 Entwicklungsverläufe
  • 4.3.1 Entwicklungsverläufe im Bereich der sprachlichen Entwicklung
  • 4.3.2 Entwicklungsverläufe im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung
  • 5 Diskussion und Schlussfolgerung
  • 5.1 Diskussion
  • 5.1.1 Methodenkritikische Reflexion der Ergebnisse
  • 5.1.2 Diskussion der Ergebnisse im Bereich der sprachlichen Entwicklung
  • 5.1.3 Diskussion der Ergebnisse im Bereich der schriftsprachlichen Entwicklung
  • 5.1.4 Diskussion der Ergebnisse im Bereich der mathematischen Entwicklung
  • 5.1.5 Diskussion der Ergebnisse im Bereich der emotional-sozialen Entwicklung
  • 5.1.6 Schlussfolgerungen
  • 5.1.7 Ausblick für Forschung, Lehre und Praxis
  • 6 Literaturverzeichnis
  • 7 Abkürzungsverzeichnis
  • 8 Abbildungsverzeichnis
  • 9 Tabellenverzeichnis

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1 Einleitung

Die Frage nach einer qualitativ hochwertigen Beschulung von Kindern mit einem hohen Förderbedarf im Bereich Sprache wird im Kontext zunehmend inklusiver Bildungskonzeptionen immer dringender gestellt. Bereits 1994 wurde in der sogenannten Salamanca Erklärung der UNESCO das Ziel festgehalten, Bildungssysteme inklusiv zu gestalten. So soll allen Menschen ermöglicht werden, an qualitativ hochwertiger Bildung teilzuhaben und ihre Potenziale zu entwickeln. Ende 2008 haben die Teilnehmer der Weltbildungsministerkonferenz diese Notwendigkeit erneut bestätigt und in ihrer Abschlusserklärung alle Mitgliedstaaten aufgefordert, eine inklusive Bildung zu verwirklichen. In Deutschland gilt mit der im Jahr 2009 erfolgten Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen das in Artikel 24 beschriebene Recht auf eine gemeinsame Beschulung aller Schüler in einer Regelschule. Dort heißt es zum Bereich Bildung: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen (…)“ (UN-Behindertenrechtskonvention, 2012). Die Europäische Union hat die Konvention im Dezember 2010 ratifiziert. Sie wurde bis auf wenige Ausnahmen von allen europäischen Ländern unterzeichnet.

Mit der Ratifizierung ist eine Umstrukturierung des deutschen Bildungswesens zu einem integrativen bzw. inklusiven Bildungssystem verbunden, welches auch die schulischen Rahmenbedingungen für die unterrichtliche Förderung von Schülerinnen und Schülern mit erheblichen Sprachentwicklungsproblemen berücksichtigen muss. Das Schulgesetz in Mecklenburg-Vorpommern besagt beispielsweise, dass Kinder mit dem Förderschwerpunkt Sprache nun nicht mehr vorrangig an Sprachheilschulen oder in Sprachheilklassen, sondern inklusiv an der örtlichen Regelschule gemeinsam mit Kindern ohne Förderbedarf unterrichtet werden sollten (Schulgesetz M-V, 2010; Sonderpädagogische Förderverordnung M-V, 2009).

Problematisch ist, dass zwar die gesetzlichen Grundlagen eine inklusive Beschulung klar favorisieren, doch die eigentlich vorher zu klärende Frage nach der erfolgreicheren Beschulungsform noch gar nicht beantwortet ist. Deutschsprachige Studien, die einen Vergleich zwischen inklusiven und separierenden Unterrichtskonzepten für Kinder mit einem hohen Förderbedarf im Bereich Sprache zum Gegenstand haben, befinden sich noch in der Anfangsphase (Mahlau, 2013; 2012; ← 13 | 14 → Theisel & Glück, 2012; 2011). Erkenntnisse aus der internationalen Literatur lassen sich nicht ableiten, da es die Sonderbeschulung von Kindern mit erheblichen Sprachentwicklungsproblemen nur im deutschsprachigen Raum gibt. Auch die Frage nach effektiven Konzepten inklusiven Unterrichts ist im deutschsprachigen Bereich noch nicht einmal im Ansatz geklärt. Nach Glück, Reber, Spreer und Theisel (2014) sind noch vielfältige Hindernisse und Barrieren, wie die Berücksichtigung von Spracherwerbs- und Kommunikationsstörungen, für eine inklusive Beschulung von Kindern mit hohem Förderbedarf im Bereich Sprache zu bewältigen, um ihnen eine verbesserte Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen.

Ein Blick über die Sprachheilpädagogik hinaus zeigt zumindest, dass Inklusion gelingen kann. So scheint die inklusive Beschulung von Kindern in anderen sonderpädagogischen Förderschwerpunkten, z. B. im Förderschwerpunkt „Lernen“ (u. a. Koch, Blumenthal & Tresp, 2012; Schnell, Sander & Federolf, 2011; Klemm, 2009; Bless & Mohr, 2007) oder „geistige Entwicklung“ (u. a. Sermier Dessemontet, Benoit & Bless, 2011; Cole, Waldron & Majd, 2004) zu vergleichbaren wie oder sogar besseren pädagogischen Effekten als im traditionellen deutschen Sonderschulwesen zu führen. Ob sich eine erfolgreiche inklusive Beschulung jedoch auch für Schüler mit dem Förderschwerpunkt Sprache nachweisen lässt, muss durch differenzierte und umfangreiche Forschungsbemühungen erst geklärt werden. Die in dieser Arbeit entwickelte inklusive Unterrichtskonzeption und die diese Konzeption evaluierende Interventionsstudie sollen dazu beitragen.

1.1 Zum Begriff „Inklusion“

Der Begriff der Inklusion (lat. includere = einbeziehen) wird in Abgrenzung zum Begriff Integration verwendet. Während unter Integration eine nachträgliche Eingliederung betroffener Menschen zu verstehen ist, geht es bei Inklusion darum, die Gesellschaft von Anfang an so zu gestalten, dass jeder Mensch gleichberechtigt in ihr teilhaben und sie mitgestalten kann. Dieses soll unabhängig von individuellen Fähigkeiten, ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter geschehen. Die Integration gliedert folglich die betroffenen Schüler in die bestehenden schulsystemischen Ansprüche ein, Inklusion kehrt diesen Vorgang um. Nicht der Schüler passt sich dem System Schule an, sondern die Schule passt sich dem Schüler an. Daher betonen inklusive pädagogische Ansätze eine Vielfalt in Bildung und Erziehung als Bereicherung für alle Menschen, da soziale Kompetenzen und gegenseitiger Respekt gefördert werden und niemand mehr vom gemeinsamen Lernen und Leben ausgeschlossen wird (Positionspapier des Verbandes Sonderpädagogik e. V. [vds], 2010). ← 14 | 15 →

Der Verband Sonderpädagogik e. V. (2010) versteht unter Inklusion, dass sich alle Bildungseinrichtungen den vielfältigen und individuellen Bedarfen der Menschen anpassen. Dabei bildet Inklusion das Rahmenkonzept von Bildung und Erziehung mit Prävention, Integration, Kooperation, Aktivität und Teilhabe. Drei maßgebliche „Orientierungen“ konkretisieren das Hauptziel. Die Inklusionsorientierung verweist darauf, dass alle Menschen in einer gemeinsamen Bildung Relevanz, Würde und Anerkennung finden. Die Ausstattung mit Ressourcen (Ressourcenorientierung) ermöglicht den Abbau von Barrieren und echte Teilhabe an inklusiver Bildung. Innerhalb der Subjektorientierung entwickelt jeder einzelne Mensch im dialogischen Prozess persönliche Stärken und ein positives Selbstkonzept. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Ziele ist eine qualitativ hochwertige, individuelle und fachspezifische Förderung, besonders wenn bei den betroffenen Menschen ein zeitweiser Unterstützungsbedarf oder ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht (ebd.).

Weitere Definitionen lassen sich idealtypisch einem eher weiten oder eher engen Verständnis von Inklusion zuordnen (Expertenkommission M-V, 2012). Beim weiten Verständnis besteht eine deutliche begriffliche Nähe zur Integration. Beides, Integration und weites Inklusionsverständnis, wird als eine Form der besonderen Qualität von Unterricht und Erziehung verstanden. Wesentliche Aspekte innerhalb des weiten Inklusionsverständnisses sind die wohnortnahe angemessene Beschulung in der Regelschule, die soziale Integration, Lernen an gemeinsamen Lerngegenständen auf verschiedenen Leistungsniveaus und kooperierende Pädagogenteams aus Regelschul- und Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Das enge Inklusionsverständnis beinhaltet eine grundsätzliche Veränderung des gegliederten Schulsystems mit seinen in Jahrgangsstufen festgelegten Leistungsanforderungen und Lerninhalten. Es sieht die zentralen Leistungsvorgaben und Maßstäbe als pädagogisch dysfunktional an, weil sie den individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler nicht gerecht werden. Folgt man diesen Gedanken in aller Konsequenz, dann bedeutet eine „inklusive Schule“ die Einführung eines ungegliederten Schulsystems ohne Zensuren, sondern mit einer intraindividuellen Leistungsbewertung (Expertenkommission M-V, 2012).

In der vorliegenden Arbeit wird unter Inklusion im Sinne des weiten Begriffsverständnisses und damit sinnähnlich zum Begriff der Integration1 das Annehmen und Wertschätzen eines jeden Kindes mit seinen Stärken und Schwächen, besonderen Begabungen und Förderbedürfnissen verstanden. Die Annahme ← 15 | 16 → von Heterogenität in den Lernvoraussetzungen der Kinder einer Klasse ist dabei die Voraussetzung für ein pädagogisch individualisiertes Handeln mit dem Kind. Dafür muss ein Angebot frühzeitiger und effektiver Maßnahmen für das erfolgreiche schulische Lernen vorgehalten werden. Dies betrifft alle Schüler, insbesondere diejenigen, die aufgrund ihrer individuellen Lernvoraussetzungen eine spezifische Unterstützung und Förderung, beispielsweise im Förderbereich Sprache, benötigen.

Die Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs; Glück et al., 2014) vertritt in ihrem Positionspapier zur inklusiven Beschulung von Kindern mit dem Förderschwerpunkt Sprache nachdrücklich die Reduzierung sprachlicher Barrieren durch sprachtherapeutische Maßnahmen und die Erfassung individueller Förderbedarfe, welche mit personenorientierten, systembezogenen Maßnahmen von Beratungsprozessen bis hin zu sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf mit therapeutischem Charakter reichen kann. Die inklusive Beschulung von Kindern mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Sprache verlangt eine „Pluralität der Wege“, welche unterschiedlichste, flexibel kombinierbare Unterstützungsangebote, v. a. aber sprachspezifische Fördermaßnahmen in Fördergruppen und -klassen in unterschiedlichen inklusiven Schulformen, beinhaltet. Unterstützungsangebote sollten spezifisch und qualitativ hochwertig sein. Diese Position wird in der vorliegenden Arbeit ausdrücklich befürwortet und findet in wesentlichen Aspekten, v. a. in der Konzeption eines inklusiven Unterrichtsmodells für den Förderschwerpunkt Sprache, Anwendung.

Entsprechend dieser Position ist die Prävention von Lern- und Entwicklungsproblemen ein zentrales Element einer gelingenden inklusiven Beschulung von Kindern mit einem hohen Förderbedarf im Bereich Sprache. Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen haben häufig unzureichende Lernvoraussetzungen oder andere schulrelevante Entwicklungsprobleme, die frühzeitig erkannt und ausgleichend gefördert werden sollten, so dass sie möglichst erfolgreich die schulischen Anforderungen bewältigen können. Liegen bereits ausgeprägte Sprachentwicklungsstörungen vor oder können Sekundärsymptomatiken wie Lernschwierigkeiten nicht vermieden werden, gilt es, das Kind in seiner individuellen Entwicklung möglichst optimal zu fördern. Das heißt, dass Inklusion nicht als falsch verstandenes Alibi für das Akzeptieren eines problematischen Entwicklungsverlaufes umgesetzt wird, wie es die Aussagen einiger Autoren (z. B. Schumann, 2013) vermuten lassen. Es gilt, die Lern- und Entwicklungsprobleme zeitnah zu erkennen und durch individualisierte, qualitativ hochwertige Fördermaßnahmen zu minimieren oder abzubauen. Neben der individuellen Förderung in den Sprachentwicklungs- und Lernbereichen stehen auch die soziale Integration ← 16 | 17 → und eine gesunde emotionale und soziale Entwicklung im Mittelpunkt inklusiver pädagogischer Bemühungen. Übergreifendes Ziel ist die Gestaltung einer inklusiven Schule, in der alle Kinder angemessen gefördert werden. Dies gelingt durch einen Unterricht, in dem die Pädagogen jedem Kind Wertschätzung und Fürsorge entgegenbringen, und in welchem Unterrichtsinhalte so differenziert aufbereitet werden, dass Kinder unabhängig von ihren Lernvoraussetzungen auf der Grundlage individueller Lernerfolge ein gesundes Selbstkonzept entwickeln können.

Um die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in den deutschen Bundesländern konstruktiv zu begleiten, wurden „Eckpunkte zur Verwirklichung eines inklusiven Bildungssystems“ an der Monitoring-Stelle zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin entwickelt (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2011). Diese Monitoring-Stelle misst die Umsetzung und die Einhaltung des Rechts aller Menschen auf eine inklusive Beschulung bei den schulischen Reformen der Bundesländer anhand von vier Eckpunkten (Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Akzeptierbarkeit und Anpassungsfähigkeit), auf deren Grundlage Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz und den Bund ausgesprochen werden (ebd.).

Ein allgemeingültiges Konzept für Inklusion gibt es nicht. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn man einen Blick über die Grenzen Deutschlands in die Länder der Europäischen Union wirft.

1.2 Exkurs: Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Europa

Nach Angaben der European Agency for Special Needs and Inclusive Education (2013, 2003) kann innerhalb der Länder der Europäischen Union ein grundsätzliches Bestreben festgestellt werden, eine inklusive Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen umzusetzen. Universitäten entwickeln Studiengänge, in denen künftigen Lehrkräften inklusive Unterrichtsmodelle vermittelt werden, es werden in unterschiedlichem Umfang zusätzliche Mitarbeiter eingestellt sowie Materialien, Fort- und Weiterbildungen organisiert.

So begannen 2013 die dänischen Schulen mit der Umsetzung des 2012 verabschiedeten neuen Gesetzes zur sonderpädagogischen Förderung und Inklusion. Dazu gehört u. a. die Einrichtung eines Förderzentrums für Inklusion und sonderpädagogische Förderung, das Informationen über Berichte und Ergebnisse inklusiver Beschulung liefert und neue Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen auf diesem Gebiet einleitet. Diese Organisation wird von einem Gremium beraten, das sich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Schulleitungen, ← 17 | 18 → Lehrenden und Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf zusammensetzt. Bis 2015 sollen mindestens 96% der dänischen Schülerinnen und Schüler in Regelschulen unterrichtet werden. In Portugal fand eine Initiative zur Sensibilisierung für Barrierefreiheit im Internet und die Sicherstellung der Zugänglichkeit von Schul-Internetseiten für Schüler mit Förderbedarf statt. Für diese werden seit 2013 Schulbücher auf CD-ROM zur Verfügung gestellt. In Schweden wird aktuell eine Bildungsreform der Sekundarstufe II für junge Menschen mit kognitiver Behinderung umgesetzt, mit dem Ziel, die Schülerinnen und Schüler optimal auf das Berufsleben vorzubereiten und ihnen die aktive Teilnahme an der Gesellschaft zu ermöglichen. In Schottland wurde ein Best-Practice-Leitfaden erarbeitet, der 2012 veröffentlicht wurde und u. a. Vorschläge macht, wie die Rechte von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Praxis umgesetzt werden können.

Laut Aussage der European Agency for Special Needs and Inclusive Education (2003) ließen sich die europäischen Länder vor zwölf Jahren anhand ihrer Bildungspolitik in drei Gruppen einordnen: Die einen Länder, wie z. B. Spanien, Griechenland, Italien, Portugal, Schweden, Island, Norwegen und Zypern, verfolgten bereits damals eine Praxis, in der fast alle Schüler in regulären Schulen unterrichtet wurden. Dies wurde durch eine große Spannbreite an sonderpädagogischer Unterstützung in den Regelschulen verwirklicht. In anderen Ländern, u. a. Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Luxemburg, Österreich, Finnland oder Großbritannien, hatte sich ein kombiniertes System entwickelt. Dieses verfolgte verschiedene Förderansätze nebeneinander und bot neben den beiden Fördersystemen Regelschule und Sonderschule vielfältige sonderpädagogische Unterstützung an. In den Ländern der dritten Gruppe gibt bzw. gab es zwei getrennte Bildungssysteme. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurden fast ausschließlich in Sonderschulen bzw. Sonderklassen unterrichtet (z. B. in Belgien). Die Voraussetzungen zur Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems sind folglich historisch sehr unterschiedlich und ein direkter Vergleich zwischen den Ländern ist bis heute schwierig.

Neben den geschichtlich gewachsenen Bildungsstrukturen unterscheiden sich die Definitionen und Kategorien von sonderpädagogischem Förderbedarf innerhalb der Europäischen Union. Während z. B. Dänemark nur zwei Arten von sonderpädagogischem Förderbedarf definiert, unterscheiden die meisten Länder sechs bis zehn Kategorien. Liechtenstein weicht von diesem Kategorisierungssystem völlig ab und verwendet keine verschiedenen Arten von sonderpädagogischem Förderbedarf, sondern formuliert die Art der jeweiligen Unterstützung. ← 18 | 19 →

Alle Unterschiede zwischen den Ländern stehen in engem Zusammenhang mit rechtlichen, administrativen, finanziellen und verfahrenstechnischen Vorgaben. Daher erweist sich ein Ländervergleich hinsichtlich qualitativer Kriterien als nicht sinnvoll. Quantitative Indikatoren (Zahlen) sind zwar einfacher zu erheben, aber auch uneindeutig in Bezug auf einen interpretierenden Vergleich. So können manche Länder wegen des dezentralen Charakters ihrer Bildungssysteme keine exakten Zahlen angeben (Schweden, Finnland, Dänemark). Fest steht, dass manche Länder weniger als 1% aller Schülerinnen und Schüler in Sonderschulen oder Sonderklassen beschulen (Norwegen), andere bis zu 6% (Schweiz) (Europäische Agentur für Entwicklungen in der Sonderpädagogischen Förderung, 2003).

Deutschland nimmt im europäischen Vergleich mit einem Anteil von 4,88% Schülern in Sondersystemen im Schuljahr 2011/2012 eine mittlere Stellung ein. Im Folgenden sollen die Anteile von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Gesamtdeutschland und in Mecklenburg-Vorpommern sowie die Verteilung innerhalb der Beschulungssettings näher betrachtet werden.

1.3 Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Deutschland und in Mecklenburg-Vorpommern (M-V)

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (Malecki, 2013) lernten im Schuljahr 2011/2012 in Deutschland von den insgesamt 479529 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf 365715 (76,3%) in Förderschulen bzw. in Sonderklassen, 113814 (23,7%) in inklusiven Schulformen. Einen sonderpädagogischen Förderbedarf wurde in Deutschland rund 6,3% aller Schüler bescheinigt. Im Vergleich zum Stand von vor zehn Jahren zeigt sich für alle Schulformen mit Ausnahme der Förderschulen ein Anstieg des Anteils der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Gesamtschülerschaft. Seit Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 ging die absolute Zahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an Förderschulen um 22077 Schüler zurück. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der inklusiv beschulten Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf um 24177 an. Bemerkenswert ist, dass dieser Wandel mit einer Zunahme der Feststellungen sonderpädagogischen Förderbedarfs in der Gesamtschülerzahl verbunden ist. Im Schuljahr 2002/2003 betrug der Anteil der Kinder in Förderschulen noch 4,8%, der Anteil der inklusiv beschulten Kinder 0,7%. Im betrachteten Schuljahr 2011/2012 stieg der Anteil der inklusiv beschulten Kinder auf 1,5%. Dabei ist eine unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Bundesländern zu erkennen, die ihre Ursache vermutlich in ungleichen Kriterien und Verfahren hat, nach denen ← 19 | 20 → ein sonderpädagogischer Förderbedarf bestimmt wird. Weiterhin sind die rechtlichen Regelungen, die Rahmenbedingungen für einen inklusiven Unterricht und die Förderangebote an Regelschulen länder- und schulträgerabhängig.

In einigen der neuen Bundesländer, so in Brandenburg, M-V und Thüringen, ist innerhalb von zehn Jahren der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die an Förderschulen unterrichtet wird, um mehr als 20 Prozentpunkte zurückgegangen2, im Saarland und in Niedersachsen dagegen wurden im Schuljahr 2010/2011 bei 100% aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in separaten Klassen bzw. in Sonderschulen unterrichtet. Insgesamt ist jedoch für die Mehrzahl der deutschen Bundesländer ein Rückgang des entsprechenden Anteils zu konstatieren (Malecki, 2013; Statistisches Bundesamt, Schulen auf einen Blick, 2012).

Die nachfolgende Grafik stellt den Anteil der Kinder dar, die in inklusiven Kontexten beschult werden. Sowohl in Bundesdeutschland als auch im Bundesland M-V ist der Verlauf zu Gunsten einer inklusiven Beschulung gegeben. In M-V wurden in den gezeigten Schuljahren bereits mehr Kinder inklusiv beschult als im bundesdeutschen Durchschnitt (Abbildung 1).

Abbildung 1: Entwicklungstrend: Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im inklusiven Unterricht im bundesdeutschen Mittel und in M-V (Dietze, 2013; 2012)

illustration

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Schaut man sich die Verteilung der Anteile der einzelnen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte an, dann zeigt sich zwischen den bundesdeutschen Angaben und den Länderangaben für M-V ein Unterschied in den Anteilen der sonderpädagogischen Förderbereiche. So lernten im Schuljahr 2011/2012 23,8% Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich emotional-soziale Entwicklung bundesweit, in M-V dagegen 63,2% in inklusiven Schulen. Im Förderbereich Sprache werden bundesweit 15,6%, in M-V 11,2% inklusiv beschult. Ein besonders großer Unterschied zeigt sich für den Anteil der Kinder im Förderschwerpunkt Lernen. So werden 44,8% aller Kinder bundesweit inklusiv unterrichtet, in M-V sind es lediglich 14,2% (Statistisches Bundesamt, Schulen auf einen Blick, 2012). Der prozentual recht hohe Anteil an inklusiv beschulten Schülern in M-V lässt sich folglich darauf zurückführen, dass sehr viele Kinder mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung in inklusiven Kontexten lernen. Die Schülerinnen und Schüler mit den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen und Sprache werden jedoch noch deutlich weniger häufig inklusiv unterrichtet als es der bundesweite Durchschnittswert erwarten lassen würde und insbesondere als es die Monitoringstelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte (2011) fordert.

Zusammengefasst lässt sich folglich feststellen, dass Deutschland im Vergleich zu vielen seiner europäischen Nachbarn noch einen deutlichen Entwicklungsbedarf bei der Umsetzung eines inklusiven Bildungssystems hat. Auch wenn die Tendenz eindeutig eine Bemühung der Bildungsinstitutionen in Richtung inklusiven Unterrichts zeigt, werden noch sehr viele Schüler in Förderklassen bzw. -schulen unterrichtet. Ziel sollte es folglich sein, den relativ hohen Anteil von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sondersystemen abzubauen und inklusive Beschulungsmaßnahmen stringenter voranzutreiben. Voraussetzung dafür ist die Entwicklung und Evaluierung von inklusiven Unterrichtskonzeptionen, die für alle Kinder einen qualitativ hochwertigen Unterricht umsetzen. Besonders vor dem Hintergrund, dass sowohl zahlreiche internationale als auch nationale Untersuchungen (Schnell, Sander & Federolf, 2011; Klemm, 2009; Lehmann & Hoffmann, 2009; Myklebust, 2006) eine erfolgreichere Lernentwicklung bei Kindern mit dem Förderschwerpunkt Lernen in inklusiven im Vergleich zu segregierenden Kontexten nachgewiesen haben, sollten für den Förderschwerpunkt Sprache ebenfalls inklusive Beschulungskonzepte entwickelt werden.

Eine inklusive Unterrichtskonzeption für den Förderbereich Sprache hat dessen hohe Komplexität und Dynamik zu beachten. Störungen im Bereich der Sprachentwicklung gehören zu den häufigsten Entwicklungsrisiken im Kindesalter und betreffen mit ca. 6% Prävalenz eine besonders große Gruppe von Kindern (Kohn, ← 21 | 22 → Wyschkon, Ballaschk, Ihle & Esser, 2013; von Suchodoletz, 2013; 2003). So beeinflusst die Sprachfähigkeit in besonderem Maße den Bildungsweg von Menschen. Conti-Ramsden, Durkin, Simkin und Knox (2009) zeigten in einer Studie zu Ergebnissen der Britischen Nationalen Bildungsprüfungen, dass ein hoher Einfluss von Schriftsprachfähigkeiten und Sprachfähigkeiten auf den Schulerfolg vorliegt. Dockrell, Lindsay und Palikara (2011) stellten fest, dass die Leistungsfähigkeit im Sprachverstehen und Schriftsprachfähigkeit elfjähriger Kinder mehr als 50% der Leistungsvarianz in Englisch, Mathematik und in den Naturwissenschaften im Alter von 14 Jahren erklären. Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen sind massiv in ihrem Lernvermögen beeinträchtigt. So zeigen nach einer Studie von Chuang, Hsu, Chiu, Lin, Tzang und Yang (2011) zwei Drittel der Kinder mit umschriebenen Sprachentwicklungsstörungen komorbide Störungen. Dabei hat über die Hälfte Probleme im Erwerb der Schriftsprache, in den mathematischen Fähigkeiten und psychische Auffälligkeiten (zusammengefasst in von Suchodoletz, 2013). Es ist folglich davon auszugehen, dass Kinder mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen doppelt in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind, da sie sowohl in der sprachlichen Entwicklung als auch im Lernen und ggf. in der psychosozialen Entwicklung Auffälligkeiten aufweisen.

Details

Seiten
441
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631703663
ISBN (ePUB)
9783631703670
ISBN (MOBI)
9783631703687
ISBN (Hardcover)
9783631701959
DOI
10.3726/978-3-631-70366-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
UN-Behindertenrechtskonvention Inklusion Evidenzbasierung Längsschnittstudie Soziale Integration Sprachtherapeutischer Unterricht
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 444 S., 23 Abb., 48 Tab.

Biographische Angaben

Kathrin Mahlau (Autor:in)

Kathrin Mahlau arbeitete nach ihrem Studium des Lehramtes Sonderpädagogik an der Universität Rostock als Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie promovierte an der Universität zu Köln und habilitierte an der Universität Rostock. Sie arbeitete als Sonderpädagogin mit Kindern unterschiedlicher Förderschwerpunkte und als Vertretungsprofessorin an den Universitäten Potsdam und Greifswald.

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Titel: Zur Förderung von Kindern mit spezifischen Sprachentwicklungsstörungen nach dem Response-to-Intervention-Ansatz
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