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Treaty Overriding im Internationalen Steuerrecht als Verfassungsproblem

Insbesondere zur Reichweite der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes

von Ralf Haendel (Autor:in)
©2017 Dissertation 277 Seiten

Zusammenfassung

Der Bruch von Völkervertragsrecht durch den deutschen Gesetzgeber in Gestalt des Treaty Overriding ist ein verbreitetes Phänomen im Bereich des Internationalen Steuerrechts. Dieses Buch erfasst das Treaty Overriding in seiner einfach-, völker- und verfassungsrechtlichen Dimension und entwickelt einen verfassungsrechtlichen Rahmen für dieses gesetzgeberische Vorgehen. Der Autor zeigt, dass aus der u.a. vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen betonten, als Verfassungsgrundsatz einzuordnenden Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine nach Regelungsbereichen «abgestufte Bindungswirkung» für den Gesetzgeber abzuleiten ist. Anhand dieses Maßstabs überprüft er zwei Treaty Overriding-Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht. Der Treaty Overriding-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.2015 wird auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse bewertet.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • A. Einführung
  • B. Völkerrecht und innerstaatliches Recht
  • I. Theorien zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht
  • 1. Die monistische Theorie
  • 2. Die dualistische Theorie
  • 3. Die Theorien in der Praxis
  • II. Die Einbeziehung von Völkerrecht in den innerstaatlichen Rechtskreis
  • 1. Die Inkorporationstheorie
  • 2. Die Transformationstheorie
  • 3. Die Vollzugstheorie
  • 4. Auffassung der Rechtsprechung
  • 5. Würdigung
  • III. Vorgaben des Grundgesetzes für die Einbeziehung von DBA
  • IV. Zwischenergebnis
  • C. Abkommensrechtlicher Hintergrund zum Treaty Overriding
  • I. Besteuerungsbefugnis als Teil staatlicher Souveränität
  • II. Vermeidung der Doppelbesteuerung durch den Abschluss von DBA
  • 1. Begriff der internationalen Doppelbesteuerung
  • 2. DBA als bilaterale Beschränkungs- und Verteilungsnormen zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung
  • 3. Vorlagen für die Ausgestaltung der DBA
  • III. Methoden zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung auf bilateraler Ebene
  • 1. Anrechnungsmethode
  • 2. Freistellungsmethode
  • 3. Wirtschaftliche Konsequenzen der Methoden
  • IV. Das Problem der doppelten Nichtbesteuerung bzw. einer Minderbesteuerung
  • 1. Abkommensrechtliche Sachverhalte
  • a) Nichtbesteuerung als Folge der Freistellungsmethode
  • b) Qualifikationskonflikte
  • c) Personen- und sachbezogene Verlagerung von Steuersubstrat
  • d) Steuerhinterziehung und Steuerverkürzung
  • e) Vereinbarung einer fiktiven Steueranrechnung im DBA
  • 2. Maßnahmen zur Vermeidung einer Nicht- oder Minderbesteuerung
  • a) Aktivitätsklauseln bzw. Switch-over-Klauseln
  • b) Subject-to-tax-Klauseln
  • c) Remittance-base-Klauseln
  • d) Anti-treaty-shopping-Klauseln
  • e) Limitation-on-benefits-Klauseln
  • f) Unilaterale Maßnahmen
  • V. Zwischenergebnis
  • D. Dogmatische Erfassung des Treaty Overriding im deutschen Einkommensteuerrecht
  • I. Etablierung des Treaty Overriding als gesetzgeberisches Mittel
  • II. Gesetzgeberische Gründe für Treaty Overriding
  • III. Begriffsbestimmung
  • 1. Literaturmeinungen
  • 2. Kritik
  • a) Die staats- und völkerrechtliche Kategorie der innerstaatlichen Geltung völkerrechtlicher Normen
  • b) Treaty Overriding und früher abgeschlossene DBA
  • c) Die Unschärfe der Definition des OECD-Steuerausschusses
  • d) Formale Definitionsmerkmale
  • 3. Eigene Begriffsbestimmung
  • IV. Identifizierung von Treaty Overriding-Normen in der Praxis
  • V. Abgrenzungsprobleme bzw. „tatbestandliche“ Eingrenzung
  • 1. Allgemeine Regelungsvorbehalte zu Gunsten unilateraler Regelungen
  • a) Allgemeiner Missbrauchsvorbehalt
  • b) Allgemeiner Vorbehalt zur Verhinderung einer Nichtbesteuerung
  • c) Der Bezeichnung oder der Präambel eines DBA zu entnehmender Regelungsvorbehalt
  • 2. Ausdrückliche Regelungsvorbehalte zu Gunsten unilateraler Abweichungen von DBA
  • a) Regelungsvorbehalte zu Gunsten konkreter nationaler Rechtsnormen
  • b) Regelungsvorbehalt zu Gunsten der Art oder dem Zweck nach beschriebener nationaler Rechtsnormen
  • c) Regelungsvorbehalte zu Gunsten von dem DBA nachfolgenden unilateralen Gesetzgebungsakten
  • d) Weitere Abgrenzungsfälle
  • 3. Treaty Overriding durch die gesetzgeberische Festlegung der Auslegung von Abkommensbegriffen
  • 4. Treaty Overriding durch die gesetzgeberische Festlegung der Zurechnung von Einkünften zu einer Person
  • 5. Treaty Overriding durch die sog. Schachtelstrafe
  • 6. Zwischenergebnis
  • VI. Kategorisierung des Treaty Overriding anhand der fiskalischen Zielsetzung
  • 1. Treaty Overriding zur „Verhinderung der missbräuchlichen Inanspruchnahme von DBA-Regelungen“
  • 2. Treaty Overriding zur „Verhinderung einer Minder- bzw. Nichtbesteuerung“
  • 3. Treaty Overriding zur „Sicherstellung von Besteuerungssubstrat“
  • E. Die völkerrechtliche Dimension des Treaty Overriding
  • I. Völkerrechtliche Würdigung von Treaty Overriding
  • II. Sanktionsmöglichkeiten auf zwischenstaatlicher Ebene und ihre Durchsetzung in der Praxis
  • III. Berechtigung des Steuerpflichtigen auf Grund der Qualifizierung von DBA als völkerrechtliche Verträge mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter
  • IV. Auswirkungen der völkerrechtlichen Bewertung von Treaty Overriding auf den verfassungsrechtlichen Rahmen
  • V. Zwischenergebnis
  • F. Die innerstaatliche Dimension des Treaty Overriding
  • I. Die Anwendbarkeit von Treaty Overriding-Vorschriften
  • 1. § 2 Abs. 1 AO als besondere Kollisionsregel
  • 2. Die allgemeinen Kollisionsregeln
  • a) Die Derogationsregel „lex superior derogat legi inferiori“
  • aa) Aussagen des Völkerrechts zur Rangbestimmung von DBA
  • bb) Aussagen des Grundgesetzes zum Rang von DBA
  • aaa) Art. 59 Abs. 2 GG
  • bbb) Art. 25 GG
  • b) Zwischenergebnis
  • 3. Die Grundsätze „lex specialis derogat legi generali“ und „lex posterior derogat legi priori“ als kollisionsauflösende Rechtsmethoden
  • a) DBA als „leges speciales“ zu nationalen Steuergesetzen
  • b) DBA als „leges aliae“ zu nationalen Steuergesetzen
  • c) DBA und Treaty Overriding im Rahmen des „lex posterior“-Grundsatzes
  • d) Kollision des „lex posterior“-Grundsatzes und des „lex specialis“-Grundsatzes
  • aa) Auflösung des Konflikts zu Gunsten der „lex posterior“
  • bb) Auflösung des Konflikts durch den Satz „lex generalis posterior non derogat legi speciali (priori)“
  • cc) Auflösung des Konflikts durch Auslegung
  • e) Zwischenergebnis
  • II. Ausgewählte verfassungsrechtliche Implikationen von Treaty Overriding im Allgemeinen
  • 1. Kompetenzielle Selbstbindung des Gesetzgebers infolge des Abschlusses von DBA
  • a) Der Grundsatz „pacta sunt servanda“ als Vehikel zur Begründung einer kompetenziellen Selbstbindung des Gesetzgebers
  • b) Kompetenzielle Selbstbindung als Folge des „Alles oder nichts“-Prinzips beim Erlass des Zustimmungsgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 GG
  • c) Zwischenergebnis
  • 2. Das Erfordernis einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von Treaty Overriding auf Grund von Art. 25 GG in Verbindung mit dem Grundsatz „pacta sunt servanda“
  • a) Die Ansicht von Lehner
  • b) Stellungnahme
  • c) Zwischenergebnis
  • 3. Ergebnis
  • III. Treaty Overriding und die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes im Besonderen
  • 1. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes als Auslegungsprinzip
  • 2. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes als Verfassungsgrundsatz
  • a) Ableitung eines Verfassungsgrundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes aus dem Grundgesetz
  • b) Bindungswirkung des Verfassungsgrundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
  • aa) Harmonisierungsfunktion
  • bb) Abgestufte Bindungsintensität
  • aaa) Ableitung der Bindungsintensität aus dem Internationalen Privatrecht
  • bbb) Grenzen der Bindung des Gesetzgebers
  • c) Prozessuale Folgen
  • 3. Zwischenergebnis
  • 4. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes
  • a) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis zum „Görgülü“-Beschluss
  • b) Der „Görgülü“-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
  • c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach dem „Görgülü“-Beschluss
  • d) Zwischenergebnis
  • 5. Bewertung der Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts
  • a) Literaturstimmen
  • b) Stellungnahme
  • IV. Ausgewählte Treaty Overriding-Vorschriften und Verfassungsrecht
  • 1. § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG
  • a) Inhalt der Norm
  • b) Treaty Overriding – Charakter
  • c) Kategorisierung von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG
  • 2. Verstoß von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG gegen Verfassungsrecht
  • a) Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG
  • b) Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG
  • aa) Eingriff
  • bb) Schranken (Gesetzesvorbehalt)
  • cc) Schranken-Schranken
  • aaa) Verhältnismäßigkeit von § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG
  • bbb) Zwischenergebnis
  • dd) Ergebnis zu Art. 2 Abs. 1 GG
  • c) Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG
  • d) Verfahrensrechtliche Fragen
  • e) Ergebnis
  • 3. Der Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofs zu § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG
  • a) Wesentlicher Inhalt des Vorlagebeschlusses
  • b) Kritische Würdigung des Vorlagebeschlusses
  • c) Ergebnis
  • 4. § 50d Abs. 10 EStG
  • a) Inhalt der Norm
  • b) Treaty Overriding – Charakter
  • c) Kategorisierung von § 50d Abs. 10 EStG
  • d) Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG
  • e) Ergebnis
  • G. Thesenförmige Zusammenfassung
  • H. Schlussbetrachtung
  • I. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit des Treaty Overriding vom 15. Dezember 2015 (Nachtrag)
  • I. Inhalt des Beschlusses
  • II. Bewertung
  • III. Ausblick
  • Literaturverzeichnis
  • Entscheidungsregister
  • Verzeichnis der Verwaltungsanweisungen
  • Gesetzesmaterialien
  • Gesetzesstand und Abkürzungen

← 14 | 15 →

A.  Einführung

Das Grundgesetz ist in der Lesart des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochen „freundlich“ gegenüber dem Völkerrecht. So spricht das Bundesverfassungsgericht nicht erst seit dem sog. „Görgülü“-Beschluss vom 14. 10. 20041 von der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes.2 In Folgeentscheidungen wird diese Begrifflichkeit seitens des Bundesverfassungsgerichts mehr und mehr mit Inhalt gefüllt.3

Im Gegensatz dazu setzt sich der Gesetzgeber im Rahmen seiner Steuergesetzgebung in den letzten zwei Jahrzehnten auf breiter Basis offen in Widerspruch zu den völkervertraglichen Verpflichtungen Deutschlands. Er kennzeichnet diesen Völkerrechtsbruch häufig mit Ausdrücken wie „ungeachtet der Bestimmungen eines Abkommens“ und zeigt damit, dass er bewusst von völkerrechtlichen Verpflichtungen abweicht. Die Rede ist von der gesetzgeberischen Vorgehensweise des Treaty Overriding.4 Darunter wird die einseitige gesetzliche Abänderung von völkerrechtlichen, in einem zwischenstaatlichen Konsens gefundenen Regelungen in einem „DBA“5 verstanden.6 Diese Vorgehensweise gilt gemeinhin als völkerrechtswidriger ← 15 | 16 → Gesetzgebungsakt.7 Während also das Bundesverfassungsgericht vermehrt die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes betont und mit Inhalt füllt, kann das geschilderte Gebaren des deutschen (Steuer-)Gesetzgebers zunächst ohne jegliche verfassungsrechtliche Wertung ohne weiteres als völkerrechtsunfreundlich charakterisiert werden. Das Spannungsverhältnis dieser beiden Entwicklungen liegt auf der Hand. Gerade die in den letzten ca. zehn Jahren zu beobachtende „Zuspitzung“ durch die wiederholte Betonung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite und die stetige, von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher unbeeindruckte Steuergesetzgebung per Treaty Overriding auf der anderen Seite lassen eine vertiefte Auseinandersetzung mit den einfach-, völker- und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Treaty Overriding aktueller denn je erscheinen. Insbesondere die dahinterstehende Grundfrage zwischen dem Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht stellt sich jedoch schon seit Langem. So formulierte bereits Barandon im Jahr 1948: „Die Souveränität der Staaten und die Bindungen, die sie für gemeinsame Ziele eingehen, sind die beiden Pole, zwischen denen sich das gesamte Völkerrecht bewegt.8

Seit jeher rief die gesetzgeberische Vorgehensweise per Treaty Overriding ein gewisses Unbehagen in der steuer- wie staatsrechtlichen Literatur hervor. Jedoch herrschte insbesondere in der staatsrechtlichen Literatur teilweise nur wenig Problembewusstsein, wie beispielsweise der Hinweis darauf zeigt, dass Fälle des Verdrängens von früherem Völkervertragsrecht durch späteres Gesetzesrecht „in der Praxis (…) außerordentlich selten9 zu finden sind.10 Dass dem nicht so ist, stellte Vogel schon im Jahre 1997 für den Bereich der Abkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerungen fest.11 Doch auch in der aktuellen staatsrechtlichen Literatur findet sich noch der Satz: „Überdies erscheint es undenkbar, dass ein völkerrechtswidriges Verhalten der Bundesrepublik gesetzlich festgeschrieben wird (…).“ 12 Angesichts dieses Befundes verwundert es wenig, dass ein bewusstes Abweichen des Gesetzgebers von einem völkerrechtlichen Abkommen über lange Zeit weitgehend nur im Internationalen Steuerrecht diskutiert wurde.13 Auch wenn sich dies seit geraumer Zeit ändert ← 16 | 17 → und auch die staatsrechtliche Literatur dieser Problematik immer weiteren Raum einräumt, wird durch diesen Befund die Einzigartigkeit dieser gesetzgeberischen Vorgehensweise im völkerrechtlichen Gesamtkontext angedeutet.14

Es scheint, als sei die Hemmschwelle zum Bruch von Völkervertragsrecht besonders gering, wenn es um Steuereinnahmen geht. Dies ist angesichts der immer wieder öffentlich in Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen verbreiteten Meinung über Steuervermeidungsstrategien großer Konzerne im Rahmen von DBA durchaus verständlich und wirkt vor diesem Hintergrund für viele Seiten offenbar geradezu als wünschenswert. Unabhängig von der öffentlichen Meinung stellt sich für die Steuerrechtswissenschaft im Bereich des Internationalen Steuerrechts jedoch die Frage, inwieweit sich der Gesetzgeber von dem Einfluss des Völkerrechts und seiner innerstaatlichen Beachtung abkoppeln kann bzw. darf. Diese Frage stellt sich umso dringlicher, als das Bundesverfassungsgericht regelmäßig die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes betont. Kann es sein, dass sich der Steuergesetzgeber also nicht nur vom Völkervertragsrecht abkoppelt, sondern auch von der Verfassungsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts? Und inwieweit würde dies die Rechte des Steuerpflichtigen berühren? Hier ist eine Einordnung dieses gesetzgeberischen Verhaltens in den aktuellen staats- wie auch völkerrechtlichen Diskussionsstand sowie der entsprechenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts notwendig, um für den Bereich des Internationalen Steuerrechts einen verfassungsrechtlichen Maßstab für völkerrechtswidrige Gesetzgebungsakte ableiten zu können. Dieser sollte möglichst auch ein belastbarer Maßstab für die spätere Gesetzgebung sein bzw. dem Gesetzgeber eine Richtschnur geben, wie das Verhältnis zwischen DBA und innerstaatlicher Gesetzgebung ausgestaltet werden muss, um eine gegebenenfalls verfassungswidrige Treaty Overriding-Gesetzgebung zu verhindern.

Dabei sind grundlegende Fragen zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht zu beantworten. Letztlich wird dabei vor allem auch die vom Bundesverfassungsgericht betonte Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in ihrer Aussagekraft und Reichweite für das Treaty Overriding auf den verfassungsrechtlichen Prüfstand zu stellen sein. Anhand der daraus resultierenden Ergebnisse ist dann der verfassungsrechtliche Rahmen für den genannten „diametralen Gegensatz“ zwischen dem als völkerrechtsfreundlich charakterisierten Grundgesetz und der inzwischen regelmäßigen Gesetzgebung im Wege des Treaty Overriding zu finden.

Als beispielhaftes Zeugnis der Steuergesetzgebung im Wege des Treaty Overriding kann insbesondere § 50d EStG dienen. Insgesamt zeugen die einzelnen Absätze des § 50d EStG von dem aktuellen Bemühen des Gesetzgebers, vermeintliche Lücken in den DBA durch einseitige Regelungen zu schließen. Auch ohne eine prophetische Weisheit an den Tag legen zu müssen, ist abzusehen, dass dieses ← 17 | 18 → Vorgehen von Seiten des Gesetzgebers vorerst kein Ende finden wird.15 Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich der Gesetzgeber in der Regel bewusst ist, dass verfassungsrechtliche Bedenken gegen diese Art von Gesetzgebung bestehen.

Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts explizit zu dieser Thematik liegt bisher (noch) nicht vor. Doch kam vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2004 der Anstoß zu einer inhaltlichen Bewegung in der wissenschaftlichen Diskussion und zwar mit dessen „Görgülü“-Beschluss16. Die auf den ersten Blick nicht unbedingt ersichtliche Relevanz der Entscheidung zum Umgangsrecht eines Elternteils für das Internationale Steuerrecht und dabei insbesondere für die verfassungsrechtliche Einordung der Treaty Overriding-Gesetzgebung ergab sich aus den Aussagen des Gerichts zum Verhältnis des Völkerrechts zum innerstaatlichen Recht.17 Diese Relevanz erkannte zuerst Vogel und schuf dafür durch seine entsprechenden Veröffentlichungen ein breiteres Bewusstsein in der Steuerliteratur für die Bedeutung des Beschlusses hinsichtlich des gesetzgeberischen Vorgehens im Wege des Treaty Overriding.18 Die herausgehobene Wichtigkeit dieser Entscheidung für das Internationale Steuerrecht zeigte sich nicht zuletzt daran, dass in der Folge namhafte Autoren wie Wassermeyer/Schönfeld, die Treaty Overriding ursprünglich für verfassungsrechtlich unbedenklich hielten, sich durch diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gehalten sahen, eine deutlich strengere Position hinsichtlich ihrer verfassungsrechtlichen Beurteilung einzunehmen und sich nunmehr für eine im Grundsatz bestehende Verfassungswidrigkeit aussprechen, die lediglich in einem engen Rahmen beseitigt werden könne.19

Dass es trotz des in der Finanzgerichtsbarkeit im Vergleich zur Verwaltungsgerichtsbarkeit kürzeren Rechtswegs über eine verhältnismäßig lange Zeit20 keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu der Thematik Treaty Overriding gibt, liegt in erster Linie daran, dass der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung aus dem Jahre 1994 diese Form der Gesetzgebung als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen hat.21 Auch wurde gegen diese Entscheidung nicht Urteilsverfassungsbeschwerde eingelegt. Die Erfolgsaussichten eines solchen Vorgehens erschienen der Klägerseite möglicherweise als zu gering, zumal auch die überwiegende steuerrechtliche Literatur damals dem Bundesfinanzhof mindestens im ← 18 | 19 → Ergebnis folgte,22 wobei sich jedoch immer wieder kritische Stimmen (allen voran die von Vogel)23 geradezu hartnäckig in die wissenschaftliche Diskussion einmischten. In der Praxis stellte sich offenbar nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs jedoch nicht mehr die Frage, ob gegen einen Steuerbescheid Einspruch eingelegt werden soll, der sich auf eine Treaty Overriding-Norm stützt. Damit war denn auch die Chance auf eine klärende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vorerst dahin. Mit der Entscheidung vom 10. 1. 2012 hat der Bundesfinanzhof nun aber seine Rechtsprechung aus dem Jahre 1994 ausdrücklich aufgegeben und die Frage der Verfassungsmäßigkeit einer Treaty Overriding-Norm24 unter Berufung auf den „Görgülü“-Beschluss erstmals dem Bundesverfassungsgericht in Form eines Normenkontrollantrags vorgelegt.25 Es folgten zwei weitere Vorlagebeschlüsse in den Jahren 201326 und 201427. Zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Arbeit stehen die Entscheidungen jedoch noch aus. Nicht zuletzt diese Vorlagebeschlüsse unterstreichen die Aktualität der Thematik.

Ob diese völkerrechtswidrige Art der Steuergesetzgebung wie nach der bisherigen, in der Entscheidung des Bundesfinanzhofs zum Ausdruck kommenden Sichtweise verfassungsrechtlich quasi „schrankenlos“ geschehen kann, wird Gegenstand dieser Untersuchung sein. Dabei wird sich zeigen, dass der „Görgülü“-Beschluss, den der Bundesfinanzhof offenbar als Anlass zur Änderung seiner Rechtsprechung und zur Vorlage der Entscheidung zum Bundesverfassungsgericht genommen hat,28 keinen Einzelfall darstellt, sondern in eine weite Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts sowie in eine aktuelle staats- und völkerrechtliche Diskussion eingeordnet werden kann. Diese aktuellen Entwicklungen in der wissenschaftlichen Diskussion sollen aufgegriffen und beleuchtet sowie die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere zum Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eingehend dargestellt und in den Zusammenhang mit der Treaty Overriding-Gesetzgebung gebracht werden. Unter Berücksichtigung des Diskussionsstands und der Rechtsprechungsentwicklung wird der verfassungsrechtliche Rahmen für die Treaty Overriding-Gesetzgebung dargestellt werden.

Zu Beginn der Untersuchung soll zunächst das Verhältnis von Völkerrecht zu dem innerstaatlichen Recht Deutschlands abgebildet und hierbei die Einbeziehung ← 19 | 20 → von völkerrechtlichen Verträgen (insbesondere der DBA) in den innerstaatlichen Rechtsbereich erörtert werden. Sodann sollen die abkommensrechtlichen Grundlagen zur Verhinderung einer internationalen Doppelbesteuerung dargestellt werden. Denn in diesem Bereich entfaltet die Treaty Overriding-Gesetzgebung ihre Wirkung. Daraufhin soll der Begriff Treaty Overriding als Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit dogmatisch und inhaltlich erfasst sowie von bestimmten abkommensrechtlichen Sachverhalten abgegrenzt werden. In diesem Zusammenhang sind an Hand ihrer fiskalischen Zweckrichtung einzelne Fallgruppen von Treaty Overriding-Normen zu bilden.

Um sich der verfassungsrechtlichen Problematik zu nähern, werden zunächst die völkerrechtliche Dimension der Treaty Overriding-Gesetzgebung und ihre völkerrechtlich eingeschränkte Sanktionierbarkeit dargestellt.

Sodann erfolgt eine genaue Untersuchung der Problemfelder auf Ebene des innerstaatlichen Rechts. Es wird sich zeigen, dass das Phänomen Treaty Overriding neben seiner verfassungsrechtlichen Relevanz vor allem Anwendungsfragen hinsichtlich innerstaatlicher Normen aufwirft, die in ihrer praktischen Relevanz für den Rechtsanwender nicht zu unterschätzen sind. Diese Probleme werden aus dem Blickwinkel einer Treaty Overriding-Gesetzgebung einer dogmatisch stringenten Lösung zugeführt. In Bezug auf die aktuell anwendbaren Treaty Overriding-Vorschriften soll daran anknüpfend ein konkreter verfassungsrechtlicher Rahmen für die Treaty Overriding-Gesetzgebung entwickelt werden. Dieser wird dann in einem Anwendungsfall einer verfassungsrechtlichen Prüfung der Treaty Overriding-Vorschriften in Gestalt des § 50d Abs. 8 Satz 1 EStG oder des § 50d Abs. 10 EStG veranschaulicht werden, welche aktuell Gegenstand der Vorlagebeschlüsse des Bundesfinanzhofs sind. Diese Normen sind ins Verhältnis zur neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Bezug auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und zu dem in dieser Arbeit zu entwickelnden verfassungsrechtlichen Rahmen zu setzen. Dabei geht es insbesondere um eine dogmatische Einordnung der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und die Frage, inwieweit diese im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Prüfung von Steuernormen in Bezug auf die Grundrechte aus Art. 2 I, 3 I und 14 GG von Bedeutung sein kann.

Auf unionsrechtliche Fragestellungen im Zusammenhang mit einer Treaty Overriding-Gesetzgebung wird in dieser Untersuchung nicht eingegangen.29


1 BVerfGE 111, 307 (318).

2 „Reichskonkordats“-Urteil, BVerfGE 6, 309 (362); vgl. auch BVerfGE 18, 112 (121), wo jedenfalls von einer „völkerrechtsfreundlichen Grundhaltung des Grundgesetzes“ die Rede ist. In begrifflicher Anlehnung an die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ist seit dem „Lissabon“-Urteil vom 30.6.2009 nunmehr auch von der „Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Rede, BVerfGE 123, 267 (4. Leitsatz); vgl. auch die „Honeywell“ -Entscheidung, BVerfGE 126, 286 (303 f.).

3 „Alteigentümer“-Beschluss, BVerfGE 112, 1; „Sicherungsverwahrung“-Urteil, BVerfGE 128, 326.

4 Der Ausdruck „Treaty Overriding“ lässt sich im Deutschen mit „Abkommensüberschreitung“ übersetzen. Weitere Übersetzungen finden sich bei Debatin, DStR 1992/Beihefter zu Heft 23, 1 (3): „Überrollen“; Eckert, RIW 1992, 386: „Verdrängen“; Musil, Deutsches Treaty Overriding (2000), S. 26: „Abkommensderogation“. Kritisch zu diesem Begriff Vogel, Abkommensbindung und Missbrauchsabwehr, in Cagianut/Fischer, Festschrift zum 65. Geburtstag von Ernst Höhn (1995), S. 461 (462 ff.); Leisner, RIW 1993, 1013 (1016).

5 Der Begriff „DBA“ steht im Folgenden für Doppelbesteuerungsabkommen auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen. Eine Übersicht über den Stand der am 1.1.2015 geltenden deutschen Doppelbesteuerungsabkommen und die Doppelbesteuerungsverhandlungen findet sich in dem Schreiben des BMF vom 19.1.2015 – IV B 2-S 1301/07/10017-06, das jährlich aktualisiert wird. Soweit in dieser Arbeit DBA mit bestimmten Staaten erwähnt werden, handelt es sich vorbehaltlich einer entgegenstehenden Kennzeichnung stets um das aktuelle, im Verhältnis zu diesem Staat anzuwendende DBA. Rechtsstand ist insoweit der 1.2.2016.

6 Eine ausführliche Erläuterung des Begriffs folgt in Punkt D.III.

7 Siehe dazu ausführlich Punkt E. Von dieser Gesetzgebung sind alle DBA zwischen Deutschland und europäischen Mitgliedsstaaten sowie Drittstaaten betroffen.

8 Barandon, Die Vereinten Nationen und der Völkerbund (1948), S. 13, zitiert bei Carl, Zwischen staatlicher Souveräntität und Völkergemeinschaftsrecht (2012), S. 1.

9 Bernhardt, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (1992), § 174 Rz. 29; vgl. auch Tomuschat, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (1992), § 172 Rz. 35.

10 So Vogel, JZ 1997, 161.

11 Vogel, JZ 1997, 161 (161 f.).

12 Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, in Rensen/Brink, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (2009), S. 553 (560).

13 Richtigerweise weist Elicker denn auch auf die große Praxisrelevanz in der Steuerrechtswissenschaft hin, siehe ders., Die Zukunft des deutschen internationalen Steuerrechts, IFSt-Schrift Nr. 438 (2006), S. 16; nunmehr auch für die staatsrechtliche Theorie als Praxisfälle erkennend Rauschnig, in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar (2015), Art. 59 Rz. 142.

14 Rauschnig, in Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar (2015), Art. 59 Rz. 142: „(…) wird praktisch nur im Steuerrecht diskutiert.

15 Ein aktuelles Zeugnis ist § 50i EStG, siehe hierzu statt vieler Gosch, in Kirchhof, EStG (2015), § 50i EStG Rz. 2.

16 BVerfGE 111, 307.

17 In dem „Görgülü“-Beschluss ging es um die EMRK.

18 Vgl. nur Vogel, IStR 2005, 29.

19 Vgl. dazu Wassermeyer/Schönfeld, in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht (2015), § 20 AStG Rz. 42 ff.

20 Die erste Treaty Overriding-Norm in Deutschland datiert aus dem Jahre 1992 in Gestalt des § 20 AStG, der mit dem Steueränderungsgesetz 1992 vom 25.2.1992, BGBl. I 1992, 297, eingefügt worden war.

21 BFH vom 13.7.1994, I R 120/93, BStBl. II 1995, 129.

22 Siehe dazu BFH vom 13.7.1994, I R 120/93, BStBl. II 1995, 129, dort m. w. N. zur älteren Literatur.

Details

Seiten
277
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631716243
ISBN (ePUB)
9783631716250
ISBN (MOBI)
9783631716267
ISBN (Hardcover)
9783631716205
DOI
10.3726/b10718
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Dezember)
Schlagworte
Völkervertragsrecht Ungeschriebener Verfassungsgrundsatz Anwendbarkeit DBA Vorlagebeschluss Bundesfinanzhof Rechtsprechungslinie Bundesverfassungsgericht Normenhierarchische Einordnung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 277 S.

Biographische Angaben

Ralf Haendel (Autor:in)

Ralf Haendel studierte Rechtswissenschaften in Passau und war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist das Internationale Steuerrecht.

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