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Formung und Umwendung der Seele

Eine Rechtfertigung ambivalenter Darstellungen in der Literatur im Rahmen von Platons «Politeia»

von Jana Schultz (Autor:in)
©2017 Dissertation 352 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin eröffnet mit ihrer Untersuchung zu Platons «Politeia» einen Weg, ambivalente Darstellungen in die Literatur des idealen Staates zu integrieren. Sie bezieht hierbei auch den Rahmen von Platons Psychologie, Epistemologie und Kunstkritik mit ein. Platon bewertet Literatur im Hinblick auf ihren erzieherischen Nutzen. Die Charakterformung verlangt eine Lenkung durch eindeutige Beispiele. Ambivalenzen sind ein Risiko, da sie die nicht-rationalen Seelenteile zu falschem Streben anleiten. Eine paradoxe Verknüpfung von Gegensätzen zeigt der Vernunft, dass sie Eigenschaften nur in den Ideen adäquat erfassen kann. Der Band hält fest, dass die Integration von Ambivalenzen sinnvoll sein kann, sofern Stilmittel eine negative Beeinflussung verhindern.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Platons Konzeption der Seele in der Politeia
  • I.A Platons Darstellung der Seele im vierten und im zehnten Buch der Politeia
  • I.B Der Status der Seelenteile
  • I.B.1 Die Seelenteile als selbstständige Subjekte
  • I.B.2 Die Subjekt-Interpretation und die Frage nach der Einheit der Seele
  • II. Platons Psychologie der Literatur
  • II.A Die Vermittlung falscher Meinungen durch die Literatur
  • II.A.1 Vorüberlegung: Die Möglichkeit wahrer moralischer Meinungen in der Politeia
  • II.A.1.a Die Entstehung von Gegensatzpaaren aus den Ideen
  • II.A.1.b Moralische Urteile und ihr Bezug zu Wahrheit und Falschheit
  • II.A.2 Die Beeinflussung der Meinungsbildung von Kindern und Jugendlichen
  • II.A.3 Die Beeinflussung der Meinungsbildung von Erwachsenen
  • II.B Die Anregung zur Nachahmung und zur Identifikation
  • II.B.1 Vorüberlegung: Nachahmende Kunst in der Politeia
  • II.B.2 Die Beeinflussung durch Identifikationsfiguren im dritten Buch
  • II.B.3 Die Beeinflussung durch Identifikationsfiguren im zehnten Buch
  • II.C Der Zusammenhang zwischen der Identifikation und der Vermittlung von Meinungen
  • III. Die nicht-rationale Kognition in der Politeia
  • III.A Die Wahrnehmungsfähigkeit
  • III.A.1 Körper oder Seele – was ist das Subjekt der Wahrnehmung?
  • III.A.2 Die Wahrnehmung als eine Leistung des Nicht-Rationalen
  • III.A.3 Was bedeutet die Wahrnehmungsfähigkeit bezüglich der Gefahr durch ethisch falsche Darstellungen in der Literatur?
  • III.B Die Fähigkeit zur Sprachrezeption
  • III.B.1 Das Verstehen von Wörtern und Sätzen
  • III.B.2 Was bedeutet die mangelnde Sprachfähigkeit der unteren Seelenteile bezüglich der Gefahr durch ethisch falsche Darstellungen in der Literatur?
  • III.C Die Fähigkeit zur Meinungsbildung
  • III.C.1 Meinungen über das, was der Fall ist
  • III.C.2 Evaluative Urteile
  • III.C.3 Was bedeutet die Fähigkeit zur Meinungsbildung bezüglich der Gefahr durch ethisch falsche Darstellungen in der Literatur?
  • III.D Die Imaginationsfähigkeit
  • III.D.1 Imagination als eine Leistung des Nicht-Rationalen
  • III.D.2 Was bedeutet die Imaginationsfähigkeit bezüglich der Gefahr durch ethisch falsche Darstellungen in der Literatur?
  • III.E Der explanatorische Wert von Platons psychologischer Theorie nach der hier vorgeschlagenen Deutung
  • IV. Haben Ambivalenzen einen Platz in der Literatur der Kallipolis?
  • IV.A Vorüberlegung – Ambivalenz und Eindeutigkeit bei Platon
  • IV.B Die Wirkung von Ambivalenz auf die Vernunft und das Nicht-Rationale in der Seele
  • IV.B.1 Die Wirkung quantitativer Ambivalenz
  • IV.B.1.a Die ambivalenten Erscheinungen im siebten Buch
  • IV.B.1.a.1 Die Wirkung der ambivalenten Erscheinungen im siebten Buch auf die Vernunft
  • IV.B.1.a.2 Die Wirkung der ambivalenten Erscheinungen im siebten Buch auf die nicht-rationale Seele
  • IV.B.1.b Die ambivalenten Erscheinungen im zehnten Buch
  • IV.B.1.b.1 Die Wirkung der ambivalenten Erscheinungen im zehnten Buch auf die Vernunft
  • IV.B.1.b.2 Die Wirkung der ambivalenten Erscheinungen im zehnten Buch auf die nicht-rationale Seele
  • IV.B.1.c Zwischenfazit
  • IV.B.2 Die Wirkung moralischer Ambivalenz
  • IV.B.2.a Identifizierende Erscheinungen moralischer Ambivalenz
  • IV.B.2.a.1 Die Wirkung identifizierender Erscheinungen moralischer Ambivalenz auf die Vernunft
  • IV.B.2.a.2 Die Wirkung identifizierender Erscheinungen moralischer Ambivalenz auf die nicht-rationale Seele
  • IV.B.2.b Nicht-identifizierende Erscheinungen moralischer Ambivalenz
  • IV.B.2.b.1 Die Wirkung nicht-identifizierender Erscheinungen moralischer Ambivalenz auf die Vernunft
  • IV.B.2.b.2 Die Wirkung nicht-identifizierender Erscheinungen moralischer Ambivalenz auf die nicht-rationale Seele
  • IV.C Moralische Ambivalenz in philosophisch idealer Literatur
  • IV.C.1 Die Darstellungsmöglichkeiten der Literatur und ihr erzieherischer Auftrag
  • IV.C.2 Sollte Platon die Erzeugung identifizierender ambivalenter Eindrücke durch die Literatur erlauben?
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Index Locorum
  • Sachindex
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Platon entwirft in seiner Politeia das Modell eines idealen Staates (die Kallipolis), um anhand dieses Modells die Gerechtigkeit als das „Tun des Seinigen“ zu definieren und um zu zeigen, dass es besser ist, gerecht zu sein, als Unrecht zu tun. Im Rahmen seines utopischen Staatsmodells beschäftigt sich Platon auch mit der Literatur. Diese wird hinsichtlich ihres Nutzens für den Staat und den einzelnen Menschen bewertet. Die Funktion der Literatur wird in der Erziehung der Bürgerinnen1 verortet. Platons Forderung nach sollen die Gesetzgeberinnen der Kallipolis nur Literatur erlauben, die den Bürgerinnen zur Ausformung eines tugendhaften Charakters behilflich ist.

Die Dichterkritiken im zweiten und dritten sowie im zehnten Buch der Politeia deuten darauf hin, dass die Literatur ihre Aufgabe in der Kallipolis am besten ausführen kann, wenn sie sich auf die Präsentation eindeutiger Beispiele für gute und schlechte Handlungen und Charaktere beschränkt. In der ersten Auseinandersetzung mit der Literatur kritisiert Platon Göttersagen, die die Göttinnen und Heroinen – wichtige Vorbildfiguren – vielgestaltig oder ambivalent2 erscheinen lassen. So argumentiert Platon, dass den Rezipientinnen ihre eigenen Fehler und schlechten Handlungen weniger schlimm oder sogar gut erscheinen, wenn sie dieselben bei den Göttinnen und ihren Kindern sehen:

„Und den Hörenden ist dergleichen verderblich. Denn jeder wird es nun sich selbst leicht nachsehen, schlecht zu sein, wenn er glaubt, daß dergleichen auch tun oder getan haben, ‚die echten Götterstammes sind, so nah dem Zeus‘“3. ← 1 | 2 →

Als ein Beispiel diskutiert Platon die Schilderung von Achilles’ Rache in der Ilias. Er fordert, auf die Vielgestaltigkeit in der Figur des Achilles zu verzichten oder diese zumindest abzuschwächen, indem Achilles entweder nicht als Sohn einer Göttin dargestellt wird oder ihm keine Verbrechen wie die Ermordung von Kriegsgefangenen zugeschrieben werden:

Noch deutlicher wird die Forderung nach Eindeutigkeit in der Dichterkritik des zehnten Buches. Die Untersuchung der psychologischen Effekte der Literatur – Vermittlung falscher Meinungen und Anregung zur Sympathie mit ungeordneten, emotionalen Charakteren – läuft hier auf die Forderung hinaus, alle Literatur bis auf „Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer“5 aus der Kallipolis zu verbannen. Die Literatur der Kallipolis scheint sich darauf beschränken zu müssen, eindeutige Beispiele guter Handlungen und Charaktere zu präsentieren und diese zu loben. Allenfalls eindeutig schlechte Charaktere und Handlungen könnten innerhalb dieses Modells als Kontrastfolie akzeptabel sein, wobei sie von den Dichterinnen eindeutig verdammt werden müssen.

Wenn wir uns daran erinnern, was uns an literarischen Präsentationen fasziniert, was uns dazu motiviert, uns wiederholt mit bestimmten Werken zu beschäftigen, sie zu bedenken und mit anderen zu diskutieren, so scheinen dabei Schilderungen von Charakteren und Handlungen, die in ihrer Ambivalenz oder ← 2 | 3 → ihrer Vielgestaltigkeit rätselhaft sind, eine entscheidende Rolle zu spielen. Viele berühmte Charaktere der Literatur, die die Menschen seit Generationen faszinieren – wie Achilles, Macbeth oder Faust –, zeichnen sich nicht durch eine eindeutige und leicht zu erfassende Charakterstruktur aus. Auch die Antike kannte die von Faszination getriebenen Debatten, die sich an rätselhaften Charakteren aus der Literatur festmachen; beispielsweise wurde ein intensiver Diskurs darüber geführt, ob Achilles oder Odysseus der bessere Held ist.6 Sogar Platon widmet diesem Thema einen Dialog, den Hippias Minor, in dem sich anhand der Frage, wer von beiden literarischen Figuren der bessere Charakter ist, eine philosophische Diskussion darüber entwickelt, ob das vorsätzliche Unrecht-Tun besser ist (was immerhin die Fähigkeit zum richtigen Tun voraussetzt) oder das unvorsätzliche Unrecht-Tun (was auf Unfähigkeit gründet).7

Aus dieser Faszination für rätselhafte Charaktere erwächst das Bedürfnis, diese vor den von Platon geforderten Einschränkungen zu bewahren. Dies ist prinzipiell auf zwei Wegen möglich. Einerseits könnte man Platons Theorie der Literatur inklusive der aus ihr abgeleiteten psychologischen Effekte grundlegend kritisieren. Andererseits könnte versucht werden, die dichterische Präsentation rätselhafter Charaktere innerhalb von Platons Konzeption zu verteidigen. Denn Platon räumt den Dichterinnen ein, andere Literatur als die von ihm geforderte in die Kallipolis zu integrieren, sofern sie „beweisen, daß sie nicht nur anmutig sei, sondern auch förderlich für die Staaten und das gesamte menschliche Leben“8. Diese Arbeit möchte den zweiten Weg gehen und argumentieren, dass sich zumindest die Präsentation einer bestimmten Art von rätselhaft-ambivalenten Charakteren rechtfertigen lässt, ohne den Rahmen von Platons Argumentation in der Politeia zu verlassen. Dies bedeutet nicht, dass gezeigt werden soll, dass Platon selbst diese Möglichkeit der Verteidigung ambivalenter Darstellungen gesehen hat und – auch wenn er sie nicht ausbuchstabiert – implizit voraussetzt. Die These dieser Arbeit ist schwächer. Argumentiert werden soll lediglich, dass sich Ambivalenzen einer bestimmten Art in der Literatur rechtfertigen lassen, ohne den grundlegenden ← 3 | 4 → Zielen und Thesen von Platons Dichterkritiken und der damit verbundenen Psychologie zu widersprechen.

Die hier angestrebte Verteidigung rätselhaft-ambivalenter Darstellungen basiert auf dem Umstand, dass Platon einer bestimmten Art von ambivalenten Eindrücken innerhalb der Diskussion um die Ausbildung der Philosophenköniginnen im siebten Buch einen hohen Nutzen für die Vernunft zuschreibt. Platon sucht nach dem Erzählen des Höhlengleichnisses nach Mitteln, die den Fokus der Seele vom Wahrnehmbaren zum Intelligiblen lenken. Dabei stößt er auf eine bestimmte Art von Wahrnehmungen, nämlich auf solche, in denen sich gegensätzliche Eigenschaften zur gleichen Zeit am selben Objekt zeigen:

Platon erläutert dies anhand der Wahrnehmung dreier Finger – des kleinen Fingers, des Ringfingers und des Mittelfingers –, wobei der Ringfinger zugleich groß und klein erscheint, da er größer ist als der kleine Finger und kleiner als der Mittelfinger. Dieser widersprüchliche Eindruck regt die Vernunft an, darüber nachzudenken, was die Eigenschaften „groß“ und „klein“ unabhängig von ihrem jeweiligen Träger sind:

„Großes freilich und Kleines, sagten wir, sah auch das Gesicht, aber nicht gesondert, sondern als ein Vermischtes. Nicht wahr? – Ja. – Um aber dieses deutlich zu machen, ward die Vernunft genötigt, ebenfalls Großes und Kleines zu sehen, nicht vermischt, sondern getrennt, also auf entgegengesetzte Weise wie jenes. – Richtig. – Und nicht wahr, von daher fiel es uns zuerst ein, danach zu fragen, was wohl recht das Große und Kleine ist?“10

Dieses Nachdenken über die Eigenschaften führt die Vernunft auf die intelligible Ebene, im besten Fall zu den entsprechenden Ideen wie der Idee der Größe.

Die Diskussion im siebten Buch bezieht sich nicht auf Literatur und die in literarischen Präsentationen besonders wichtigen moralischen Eigenschaften, sondern auf quantitative Eigenschaften in alltäglichen Wahrnehmungseindrücken. ← 4 | 5 → In dieser Arbeit soll argumentiert werden, dass ambivalente Eindrücke, die einen solchen Nutzen generieren, auch durch literarische Präsentationen erzeugt werden können. Als ein Beispiel dafür soll Platons Euthyphron herangezogen werden. Es soll argumentiert werden, dass die von Euthyphron geplante Handlung, seinen Vater wegen Totschlags anzuzeigen, auf ähnliche Weise wie der Ringfinger im siebten Buch gegensätzliche Eigenschaften in sich vereint und deshalb eine förderliche Wirkung von dieser Darstellung erwartet werden kann. Denn Euthyphrons Handlung erscheint gut, da sie mit der Bestrafung eines Verbrechers verbunden ist, zugleich aber auch schlecht, da sie mit der Schädigung eines Familienmitglieds verknüpft ist. Insgesamt wird argumentiert, dass die Dichterinnen die Präsentation ambivalenter Handlungen und Charaktere (einer bestimmten Art) vor den Gesetzgeberinnen der Kallipolis rechtfertigen können, indem sie darauf verweisen, dass ambivalente Erscheinungen die Vernunft zum Intelligiblen führen und dadurch eine wichtige Rolle in der Ausbildung der zukünftigen Herrscherinnen spielen.

Diese Rechtfertigung ambivalenter Charaktere in der Literatur ist mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens werden in der Politeia nicht alle ambivalenten Eindrücke positiv bewertet, die im alltäglichen Leben durch Wahrnehmungen entstehen. Im zehnten Buch bespricht Platon optische Täuschungen wie einen großen Turm, der aus der Ferne betrachtet klein erscheint. Diese münden in einem Eindruck von Ambivalenz, da die Vernunft den Turm mit Hilfe der Messung als groß beurteilt, während er durch die Wahrnehmung zugleich als klein erfasst wird. Diese Ambivalenz wird von Platon nicht als förderlich, sondern als störend beschrieben, da sie aus einem Konflikt zwischen der Vernunft und der nicht-rationalen Seele entsteht und die Vernunft an das Wahrnehmbare bindet, statt sie zum Intelligiblen zu führen.11 Um Ambivalenzen in der Literatur rechtfertigen zu können, muss die Arbeit die Ambivalenzen im siebten und zehnten Buch hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Wirkung untersuchen und zeigen, was nützliche Ambivalenzen ausmacht und wie diese durch literarische Darstellungen hervorgerufen werden können.

Zweitens vertritt Platon in der Politeia das Modell einer dreigeteilten Seele, die neben der Vernunft noch den begehrenden und den muthaften Seelenteil aufweist. Außerdem kommt den Wahrnehmungsvermögen Autonomie zu. Selbst wenn sich Ambivalenzen als für die Vernunft förderlich erweisen, könnten sie der Seele insgesamt schaden, wenn sie sich negativ auf die anderen Seelenteile auswirken, besonders wenn sie diese in einer Art und Weise stärken, die die ← 5 | 6 → Herrschaft der Vernunft in der Seele bedroht.12 Eine Rechtfertigung rätselhafter Charaktere kann sich nicht allein auf deren Nutzen für die Vernunft berufen. Vielmehr muss sie auch zeigen, dass diese entweder gar keine negative Wirkung auf die unteren Seelenteile haben oder dass diese negative Wirkung so weit eingeschränkt werden kann, dass das kleine Risiko einer negativen Beeinflussung der unteren Seelenteile durch den Nutzen für die Ausbildung der Vernunft aufgewogen wird. Diese Arbeit wird sich deshalb intensiv mit Platons Psychologie in der Politeia und den psychologischen Effekten der Literatur beschäftigen.

Wichtige Bezugspunkte für meine Arbeit sind drei Studien, die sich in verschiedener Weise mit ambivalenten Eindrücken in der Wahrnehmung oder in der Literatur beschäftigen. Meine Analyse der nützlichen ambivalenten Erscheinungen im siebten Buch der Politeia entwickelt sich im Zusammenhang mit zwei Studien von Terence Irwin, „Plato’s Heracleiteanism“13 und „The Theory of Forms“14. In diesen Studien argumentiert Irwin, dass das Problem in Fällen wie dem Finger-Beispiel nicht darin liegt, dass die Wahrnehmung derselben Entität gegensätzliche Eigenschaften zuschreibt, sondern darin, dass die Wahrnehmung die gegensätzlichen Eigenschaften identifiziert. Beispielsweise sagt die Wahrnehmung im Hinblick auf den Ringfinger aus, dass dessen Größe gleich seiner Länge und dass seine Kleinheit gleich seiner Länge ist, so dass die gegensätzlichen Eigenschaften identisch erscheinen. Dieser Eindruck ist nach Irwins Analyse nützlich für die Vernunft, da er aufzeigt, dass „groß“ und „klein“ keine Eigenschaften in wahrnehmbaren Entitäten, sondern Relationen zwischen wahrnehmbaren Entitäten sind.

Diese Arbeit entwickelt in Anlehnung an Irwins Interpretation eine alternative Lesart des Finger-Beispiels, wonach Größe und Kleinheit erstens keine Eigenschaften sind, die durch die Beziehung wahrnehmbarer Entitäten zueinander konstituiert werden, sondern durch die Beziehung wahrnehmbarer zu intelligiblen Entitäten, und zweitens die Leistung der Vernunft im Finger-Beispiel darin besteht, zu erkennen, dass die Größe und die Kleinheit des Fingers nur mit Blick auf die Ideen adäquat erfasst werden können. Ambivalente Eindrücke wie das Finger-Beispiel zwingen die Vernunft, sich zum Intelligiblen zu wenden, und generieren dadurch großen Nutzen.

Bezüglich der Möglichkeit, Ambivalenzen in der Literatur der Kallipolis zu rechtfertigen, ist Stefan Büttners Untersuchung Platons Literaturtheorie und ihre ← 6 | 7 → anthropologische Begründung15 ein wichtiger Ausgangspunkt. Büttner argumentiert, dass die Präsentation von vielgestaltigen Charakteren in der Literatur nicht problematisch ist, solange die Dichterinnen eindeutig zeigen, was an einem Charakter gut und was an ihm schlecht ist. Die Darstellung eines ambivalenten Charakters wie beispielsweise einer Oligarchin können die Dichterinnen demnach rechtfertigen, sofern sie genau darstellen und erklären, was am Charakter der Oligarchin gut ist (die Unterdrückung der nicht-notwendigen Begierden) und was an ihm schlecht ist (die innere Zerrissenheit und die Unterordnung der Vernunft unter die notwendigen Begierden). Diese Lösung ermöglicht es, eine große Bandbreite verschiedener Charaktere in die Literatur der Kallipolis zu integrieren. Was sie jedoch nicht ermöglicht, ist die Integration von Charakteren, die in ihrer Vielgestaltigkeit oder Ambivalenz rätselhaft sind. Denn präsentiert eine Dichterin einen vielgestaltigen oder ambivalenten Charakter in der Weise, dass sie ihn in verschiedene Eigenschaften auffächert, die sie als eindeutig gut oder schlecht markiert, so vermittelt sie zwar richtige Meinungen über Gutes und Schlechtes, doch die Rätselhaftigkeit des Charakters geht verloren. Das Ziel dieser Arbeit ist es, einen Weg zu finden, wie auch die Rätselhaftigkeit ambivalenter Eindrücke in die Literatur der Kallipolis integriert werden kann.

Ein Anknüpfungspunkt für die Rechtfertigung ambivalenter Erscheinungen mittels ihrer anregenden Funktion für die Vernunft ist Nicholas Smiths Studie „Images, Education and Paradox in Plato’s Republic“.16 In dieser Studie stellt Smith die These auf, dass die Politeia als Anregung und Hinführung zur Dialektik verfasst wurde und im Curriculum in der Kallipolis am Übergang zwischen dianoetischer Ausbildung und Dialektik zu verorten wäre. Im Rahmen dieser These argumentiert Smith, dass Platon Paradoxien in seine Darlegungen einbaut – beispielsweise wenn er die nachahmende Literatur verbannt und zugleich Mythen im nachahmenden Stil verfasst –, um gegensätzliche Wahrnehmungen nach dem Modell der ambivalenten Sinneseindrücke im siebten Buch hervorzurufen.

Diese Arbeit teilt mit Smiths Studie den Ansatz, Platons Auseinandersetzung mit den ambivalenten Sinneseindrücken im siebten Buch für die Untersuchung von Paradoxien in Rede und Erzählung fruchtbar zu machen. Sie unterscheidet sich von Smiths Analyse in dreierlei Hinsicht. Erstens liegt eines der Hauptziele meiner Analyse darin, die Natur der nützlichen ambivalenten Erscheinungen zu ← 7 | 8 → erfassen und diese von nicht-nützlichen ambivalenten Erscheinungen – wie den Erscheinungen im zehnten Buch – abzugrenzen. Wie die Analyse im vierten Kapitel zeigen wird, besteht das charakteristische Merkmal nützlicher Ambivalenzen darin, dass sie gegensätzliche Eigenschaften nicht nur simultan einer Entität zusprechen, sondern die gegensätzlichen Eigenschaften identisch erscheinen lassen. Eine Abgrenzung dieser Art erfolgt in Smiths Studie nicht. Das oben angeführte Beispiel einer Paradoxie – dass Platon die nachahmende Kunst an der einen Stelle kritisiert und an anderer Stelle selbst Mythen im nachahmenden Stil erzählt – ist weder mit einem simultanen Erscheinen gegensätzlicher Eigenschaften noch mit einer Identifikation derselben verbunden. Dieser (scheinbaren) Unstimmigkeit in Platons Argumentation denselben Nutzen zuzuschreiben wie dem Finger-Beispiel erscheint deshalb vor dem Hintergrund meiner Analyse fragwürdig.

Zweitens zielt meine Arbeit darauf, den Dichterinnen eine Möglichkeit aufzuzeigen, ihre ambivalenten Darstellungen vor den Gesetzgebern der Kallipolis zu verteidigen. Smith hingegen zieht aus seiner Analyse keine Schlussfolgerungen bezüglich der Literatur im idealen Staat. Drittens basiert Smiths Argumentation auf der These, dass Platon aus seiner Analyse des Nutzens bestimmter Ambivalenzen in der Wahrnehmung Schlussfolgerungen in Bezug auf ambivalente Darstellungen in der Rede oder in Texten gezogen und seine eigenen Texte entsprechend gestaltet hat. In dieser Arbeit wird keine These bezüglich der Frage vertreten, ob Platon sich der Möglichkeit bewusst war, Ambivalenzen in der Literatur in Bezug auf seine Analyse des Finger-Beispiels im siebten Buch zu verteidigen, da Platon weder in seiner Analyse der Ambivalenzen in der Wahrnehmung Reden oder Texte erwähnt, noch in seiner Dichterkritik im zehnten Buch auf das siebte Buch verweist. Was diese Arbeit lediglich zeigen möchte, ist, dass eine Verteidigung ambivalenter Darstellungen möglich ist, ohne Platons Argumentationsrahmen zu verlassen.

Insgesamt zielt die Exegese dieser Arbeit darauf, Platons Argumentation zu verstehen und eine kohärente und plausible Deutung zu finden. An kritischen Stellen sollen verschiedene Deutungen nebeneinandergehalten und bezüglich ihrer Plausibilität verglichen werden. Das erste Kapitel bemüht sich um eine kohärente Lesart von Platons Psychologie in der Politeia. Für die Interpretation sind die Passagen 435a bis 445e aus dem vierten Buch und 602c bis 607b aus dem zehnten Buch von besonderer Bedeutung. Innerhalb der Analyse sollen zwei Thesen verteidigt werden, nämlich (i) dass Platon die gesamte Politeia hindurch dieselbe Psychologie vertritt, die die unteren Seelenteile und die Wahrnehmungsvermögen als Konstituenten des nicht-rationalen Bereichs umfasst und (ii) dass sowohl den ← 8 | 9 → Seelenteilen wie auch den Wahrnehmungsvermögen Subjektstatus zukommt. Das zweite Kapitel analysiert Platons Kritiken an den Dichterinnen, wobei der Fokus auf die psychologischen Effekte der Literatur gesetzt wird. Die zentralen Passagen für diese Analyse sind 376e bis 412b aus dem zweiten und dritten Buch und 595a bis 608b aus dem zehnten Buch. Das zweite Kapitel soll die These etablieren, dass die Literatur auch den Seelen von rationalen, erwachsenen Rezipientinnen auf zwei Weisen schädigen kann, nämlich (i) indem sie dem Nicht-Rationalen in der Seele falsche Meinungen in Bezug auf ethische Fragen vermittelt und (ii) indem sie die Rezipientinnen zur Nachahmung schlechter Charaktere anregt, was deren eigenen Charakter verformt.

Das dritte Kapitel wird die kognitiven Fähigkeiten der nicht-rationalen Seelenteile untersuchen. Zentrale Passagen für diese Untersuchung sind 523a bis 524d aus dem siebten und 602c bis 607b aus dem zehnten Buch. Im dritten Kapitel soll für die These argumentiert werden, dass die nicht-rationalen Seelenteile über die Fähigkeiten verfügen, (1) wahrzunehmen bzw. Zugang zu Wahrnehmungen zu haben, (2) auf der Grundlagen von Wahrnehmungen Meinungen auszubilden und (3) zu imaginieren. In den ersten drei Kapiteln besteht meine Methode somit darin, Platons Argumentation zu untersuchen und eine kohärente Lesart zu finden.

Diese Methode ändert sich ein wenig, wenn sich die Untersuchung im vierten Kapitel der Frage zuwendet, ob Ambivalenzen in der Literatur der Kallipolis aufgrund des im siebten Buch beschriebenen Nutzens ambivalenter Wahrnehmungen erlaubt sein sollten, da Platon diese Frage nicht direkt thematisiert. Auch das vierte Kapitel wird in großen Teilen mit der Interpretation der relevanten Textstellen beschäftigt sein, vor allem mit 523a bis 524d aus dem siebten und 602c bis 604b aus dem zehnten Buch. Die Analyse soll hier die These etablieren, dass ambivalente Eindrücke, die gegensätzliche Eigenschaften als identisch erscheinen lassen, nützlich für die Vernunft sind, da sie diese zur Umwendung zum Intelligiblen zwingen. Im letzten Teil des vierten Kapitels, in dem der Nutzen ambivalenter Eindrücke auf die Literatur übertragen werden soll, ist mangels einer direkten Auseinandersetzung mit dieser Thematik seitens Platons keine reine Textanalyse möglich. Die Methode wird darin bestehen zu argumentieren, dass es in Anbetracht von Platons Ziel, eine Literatur zu schaffen, die die Erziehung in seinem idealen Staat fördert, und in Anbetracht des Nutzens, den er mit ambivalenten Erscheinungen verbindet, für ihn sinnvoll sein könnte, den Dichterinnen zumindest die Präsentation bestimmter Ambivalenzen zu gestatten.

Obwohl die Textanalyse meine Hauptmethode ist, verlangt die zentrale Frage dieser Arbeit – ob Ambivalenzen in der Literatur der Kallipolis erlaubt werden ← 9 | 10 → könnten – einen erweiterten Zugang. Dieser Zugang schließt neben der Textinterpretation die Herausarbeitung von philosophisch überzeugenden Implikationen ein, die sich aus den umfassenderen Zielen von Platons Argumentation und aus Bemerkungen zu verschiedenen, doch miteinander verbundenen Themenkomplexen ergeben.

Details

Seiten
352
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631725153
ISBN (ePUB)
9783631725160
ISBN (MOBI)
9783631725177
ISBN (Hardcover)
9783631723142
DOI
10.3726/b11250
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (April)
Schlagworte
Seelenteilung Kognition Nicht-Rationalität Dichterkritik Charakter Bildungsweg
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 364 S.

Biographische Angaben

Jana Schultz (Autor:in)

Jana Schultz wurde am Lehrstuhl für die Philosophie der Antike und des Mittelalters an der Ruhr-Universität in Bochum promoviert. Sie arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt «Women and the Female in Neoplatonism». Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der antiken Philosophie, besonders im Platonismus und Neuplatonismus.

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