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Fachgeschichte in der Literaturdidaktik

Historiographische Reflexionen für Theorie und Praxis

von Christian Dawidowski (Band-Herausgeber:in) Nadine J. Schmidt (Band-Herausgeber:in)
©2017 Sammelband 314 Seiten

Zusammenfassung

Der Sammelband regt zum ersten Mal dazu an, die fachgeschichtliche Theoriebildung zur Geschichte des Deutschunterrichts hinsichtlich ihres Ertrags und ihrer Legitimation für die Disziplin der Literaturdidaktik zu reflektieren. Darüber hinaus steht der Konnex zwischen fachgeschichtlichem Wissen und dem bildungspolitischen Auftrag innerhalb der Lehrerausbildung im Mittelpunkt des Interesses. Dabei wird eine Doppelperspektive angezielt: Neben der Diskussion fachgeschichtlicher Inhalte geht es zeitgleich auch um den Stellenwert fachgeschichtlichen Denkens überhaupt. Die Beiträge setzen sich mit einer disziplinären Klärung und Straffung auseinander oder zeigen an konkreten Beispielen auf, wie fachgeschichtliches Denken in der Lehrerausbildung fruchtbar gemacht werden kann.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Übergreifendes und Methodisches
  • Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fachgeschichte? Beginn einer methodologischen Selbstreflexion in der Literaturdidaktik (Christian Dawidowski)
  • Kulturwissenschaftliche Lesebuchforschung (Manuel Junge)
  • Zur Kreativität philologischer Erkenntnis in komparatistischer Absicht (Christoph König)
  • Die Modernisierung des Deutschunterrichts und der Didaktik nach 1965 (Harro Müller-Michaels)
  • Deutsche Lektüren. Beobachtungen zur gymnasialen Kanonisierungspraxis 1825–1945 (Hermann Korte)
  • Das rechte Gedicht zur rechten Zeit. Gymnasiale Kanonkonstruktionen im 19. Jahrhundert – Quellen und Untersuchungsperspektiven (Hans-Joachim Jakob)
  • Zwischen Chrie und Texterschließung. Inwiefern reflektieren Aufsatzthemen die Fachgeschichte Deutsch – oder nicht? (Rolf Selbmann)
  • Einzeldarstellungen
  • Von der „abtötenden“ Wirkung einer Schauspielbühne „auf die Phantasie“ und vom „Nutzen“ dramatischer Schüleraufführungen. Das Theater im pädagogisch-didaktischen Diskurs um 1900 – untersucht am Paradigma der „Zeitschrift für den deutschen Unterricht“ (Nadine J. Schmidt)
  • „Ist Kleists Prinz von Homburg ein echt romantischer Charakter?“ Exemplarische Untersuchungen zum Dramenunterricht um 1900 am Beispiel der höheren Mädchenschule Osnabrück (Helge C. Liebsch)
  • Ästhetische Prämissen, methodische Ansätze und weltanschauliche Rahmungen der Dramendidaktik im Deutschen Kaiserreich – dargestellt am Beispiel der „Braut von Messina“ von Friedrich Schiller (Norman Ächtler)
  • Literaturgeschichte für Primaner. August Friedrich Christian Vilmars „Vorlesungen über die Geschichte der deutschen National-Literatur“ (1845) (Claudia Lieb)
  • „Ich bin entschieden gegen jede Einführung des Altdeutschen in die Gymnasien“. Thesen und Zwischenrufe von Philologen und Lehrern aus dem Jahr 1861 als Impulse für eine Diskussion über eine mediävistische Literaturdidaktik (Jelko Peters)
  • Die Kunsterziehungsbewegung. Zum Stellenwert einer verpassten Reflexion (Julia Ogrodnik)
  • Zu den Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Übergreifendes und Methodisches

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Christian Dawidowski

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Fachgeschichte? Beginn einer methodologischen Selbstreflexion in der Literaturdidaktik

Abstract: The paper presents a summary of historical research in the didactics of German literature teaching. Therefore it firstly marks aims and purposes of historical research in the didactics (“topic”). Secondly, it explains the methodical rudiments of any historical research with particular consideration to the didactics and the pedagogical research (“Methodik”). At last, it summarizes the paradigms of research in a historical manner up to this point an points out some desiderata (“Paradigmen”). Thus, the paper shows a beginning of methodical self-reflection.

Die fachgeschichtliche Reflexion ist innerhalb der Literaturdidaktik bestens etabliert. Allein die Reihe „Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts“,1 der der vorliegende Band zuzuordnen ist, hat seit 1988 über 70 Bände hervorgebracht, von denen neben zahlreichen Sammelbänden vor allem viele Monographien die fachgeschichtliche Forschung maßgeblich beeinflusst haben. Viele weitere verstreut erschienene fachgeschichtliche Publikationen belegen die hohe Qualität und Verbreitung der literaturdidaktischen Forschung, von der im Einzelnen noch die Rede sein wird. Obwohl selbige kein eigenes Organ vorweisen kann, sind erste zaghafte Anfänge in der betont interdisziplinär angelegten Zeitschrift „Geschichte der Germanistik“2 sichtbar, die aufzeigen, dass eine Integration literaturdidaktischer und philologischer fachgeschichtlicher Reflexion sich wiederum abzuzeichnen beginnt – wiederum, denn bereits um 1990 gab es erste weit reichende Versuche,3 die in der Folge jedoch wenig Resonanz hervorrufen konnten. ← 9 | 10 →

Teilt man die Prämisse von der Einteilung der Literaturdidaktik in eine handlungswissenschaftliche, eine reflexionswissenschaftliche und eine erfahrungswissenschaftliche Komponente, so kommt man zu dem Schluss, dass literaturdidaktische Forschung in empirischer Hinsicht in einer sozialwissenschaftlich und in einer historisch orientierten Variante verfahren kann (selbstverständlich gilt dies außerhalb der theoriebildend-reflexionswissenschaftlichen Ausrichtung der Didaktik).4 In systematischer Hinsicht ist die historische Selbstreflexion in geisteswissenschaftlicher Tradition also unverzichtbarer Bestandteil des Faches, über deren Funktion und Zweck noch zu verhandeln sein wird.

Darüber hinaus aber gehört die fachgeschichtliche Reflexion bereits zur Fachgeschichte der Literaturdidaktik, prononciert gesagt, bestünde bereits die Möglichkeit, eine Geschichte der Fachgeschichte der Literaturpädagogik und -didaktik zu verfassen. Spätestens5 mit Adolf Matthias’ umfassendem Werk „Geschichte des Deutschen Unterrichts“6 beginnt 1907 die historisch ausgerichtete Grundlagenversicherung der Literaturpädagogen – und zwar direkt mit der deutlichen Schwerpunktsetzung im 19. Jahrhundert, also der Etablierung des muttersprachlich orientierten Literaturunterrichts. Der nächste Meilenstein ist dann sicherlich durch Horst Joachim Franks „Geschichte des Deutschunterrichts von den ← 10 | 11 → Anfängen bis 1945“ gegeben, bis heute ein Standardwerk,7 das allerdings nicht isoliert vom wissenschaftsphilosophischen und -historischen Entstehungskontext betrachtet werden kann. Kurze Zeit später schloss Harro Müller-Michaels mit seinen „Positionen der Deutschdidaktik seit 1949“ die Lücke,8 die Frank bis zur Gegenwart der späten 1970er Jahre hinterließ. Derartige Großentwürfe fehlen heute. Eine gewisse Erstarrung fachgeschichtlicher Forschungsarbeit ist an dem Umstand ablesbar, dass Reihen wie die oben genannte die Frequenz ihrer Publikationen verringert haben. Die Hausse der Einführungsliteratur (meist im Kontext der Lehramtsausbildung) hat ebenfalls nicht zu einer Aktualisierung oder Intensivierung fachgeschichtlicher Forschung geführt, denn besonders jüngere, oft integrative und „praxistaugliche“ Einführungen lassen den historischen Kontext aus.9 Er scheint in die – vielleicht nicht mehr für die Lehre so relevanten – Forschungskontexte verlagert worden zu sein; als Indikator mag hinreichen, dass die umfangreichen, mehrbändigen und bilanzierenden Werke „Taschenbuch des Deutschunterrichts“ im dritten10 und das DTP im ersten Band11 Schwerpunktbeiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts versammeln.

So wird einerseits deutlich, dass die Fachgeschichte in systematischer wie in diachroner Hinsicht Kernbestand literaturdidaktischer Forschung war und ist. Andererseits zeigt sich, dass ihre Intensität und Bedeutung verringert sind, was sicher auch der Tatsache geschuldet ist, dass mit der Wiederentdeckung empirischer Forschungsarbeit (und deren massiver Forschungsfinanzierung) neue und herausfordernde Schwerpunkte der Forschungsarbeit hinzukamen – ein Verdrängungseffekt ← 11 | 12 → also. Ein genauerer Blick auf über hundert Jahre fachgeschichtlicher Forschungsarbeit zeigt überdies mehr und anderes: Kaum jemals hat man sich Rechenschaft gegeben über methodologische und wissenschaftsphilosophische Grundlagen fachgeschichtlichen Arbeitens. Was für die Geschichtswissenschaft ohnehin, aber auch für die pädagogische Historiographie mittlerweile selbstverständlich ist, ist im Kreis der literaturdidaktischen Selbstreflexion so gut wie nie systematisch erfolgt: die Beantwortung der Fragen beispielsweise, welchen Status die Quellen haben, welche Methodik gerechtfertigt scheint oder zu welchem Zweck „und mit welchem Ende“ Fachgeschichte ein Teil der Literaturdidaktik als Disziplin sein sollte.

Diesem blinden Fleck widmet sich nicht nur dieser Beitrag, sondern recht verstanden der ganze vorliegende Band. Das „Potenzial der Fachgeschichte“ gilt es also zu entdecken, was meint, sich einerseits ihrer Grundlagen zu versichern, andererseits aber ihren Wert für Forschung und Lehre zu bestimmen. Der unmittelbare Gegenwartsbezug fachdidaktischer Empirie heute scheint die Fachhistorie vor allem aus der Lehre verdrängt zu haben – immerhin fraglich bleibt, ob dies zu Recht geschah und welchen Mehrwert auch innerhalb der Lehrerausbildung fachgeschichtliches Wissen beanspruchen kann.

Um diesen Zielen zu entsprechen, wird der Beitrag zunächst, den Grundlagen der Geschichtswissenschaft folgend, „Apriorisches“ zur Topik und Methodik versammeln. Dabei soll es darum gehen, welche Funktionen der Geschichtsschreibung und der Geschichtsvermittlung inner- und außerhalb der Literaturdidaktik zugeschrieben werden; außerdem wird verhandelt, inwieweit sich auch die Fachgeschichte ihrer Methodik zu versichern hat. In einem zweiten Schritt soll die chronologische Abfolge der Paradigmen fachgeschichtlicher Forschung unter Bezugnahme auf die pädagogische Historiographie mit dem Ziel erläutert werden, Desiderata benennen zu können. Beginnend mit traditionellen und ideengeschichtlichen Ansätzen und über die Sozialgeschichte fortschreitend, sollen schließlich im Sinne des gegenwärtigen Methodenpluralismus Ansätze wie die Diskursanalyse oder die Systemtheorie in ihrem Potenzial für die Fachgeschichte vorgestellt werden. Daraus ergeben sich abschließend zwei Fragen: Sollte die Fachgeschichte in eine übergreifende historische Bildungsforschung einmünden? Und schließlich: Sollte sie zu einem verbindlichen Bestandteil der Lehrerausbildung werden – und warum?

Topik

Der Blick auf die Funktion von geschichtlichem Denken und historischer Forschung scheint heute mit mehr Unsicherheiten und Zweifeln behaftet als noch bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: ← 12 | 13 →

Darum, so folgert Jordan weiter, sei geschichtliches Wissen strategisch als Argument verwendbar, indem der Kundige zeigen könne, dass vergleichbare historische Konstellationen erwartbare Konsequenzen zeitigten. Geschichtliches Wissen würde damit zur „Horizonterweiterung für die Zukunft“13. Indem sich das historische Wissen jedoch in Argumentationen einfügt, damit also diskursbildend wird, verursacht es Sinnbildung. Jörn Rüsen vermerkt so, dass sich historischer Sinn bildet „durch die Integration der Erfahrung vom zeitlichen Wandel des Menschen und seiner Welt in ein Deutungsmuster“.14 Dieses Deutungsmuster wirkt dann – wie alle Deutungsmuster – handlungsleitend und -aktivierend: „Mit ihm kann Leiden bewältigt und Handeln beabsichtigt werden.“15 „Sinn“ hat also notwendig „eine teleologische Konnotation“.16 Dass eine solche Komponente in vernunftkritischen Zeiten ihre stabilisierende Funktion verlor, also im Gefolge der historiographietheoretischen Kritik Hayden Whites17 (letztlich in nietzscheanischer argumentativer Tradition) in ihrer legitimierenden Funktion zumindest relativiert wurde, zeigt der Sammelband „Historische Sinnbildung“, dem das obige Zitat entstammt, deutlich. Wie kann, Whites Argumentation folgend, Geschichte sinnbildend wirken, wenn man das Bewusstsein hat, dass „der ‚Inhalt‘ des Diskurses ebenso sehr aus seiner Form wie aus der seiner Lektüre entnommenen Information [besteht]“?18 Historiographie, so White, ist Narration, und als eine solche ist sie auch zu verstehen, sie ist „immer eine metaphorisch gestaltete Schilderung, sie ist immer eine Allegorie“.19 Als Narration produziert Geschichte Sinn, konstruiert ihn für eine Deutungsgemeinschaft, der sie damit ← 13 | 14 → Deutungsmuster bereitstellt und Zukunft gibt. Spätestens mit Whites Kritik also werden teleologische Strukturen der Geschichte und ihre vernunftbestimmte, aus Repräsentationen abgeleitete Sinnbildungsfunktion radikal in Frage gestellt. „Der Sinnverlust […] läßt sich nicht einfach rückgängig machen“,20 schreibt Rüsen – auch vor dem Hintergrund historischer Wahrheiten wie der des Holocaust. Damit entfällt zwar das Deutungsmonopol umfassender Rationalität, jedoch: Zweifel an der Repräsentativität von Historiographie bedeuten noch nicht die Aufgabe derselben. Indem sie sich methodischer Nachvollziehbarkeit und auch alternativer Erkenntnisformen (s. unten) öffnet, entfällt nicht ihr Sinnbildungspotenzial, es bekommt lediglich einen anderen Status. Reinhart Koselleck bilanziert: „Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse.“21 Wo Kant im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie den Sinn also noch im Verlauf der Geschichte selbst verortete, sieht ihn die Geschichtswissenschaft heute in ihren Verfahren und Analysen: „Das Erzählen unterwirft die Einzigartigkeit von Ereignissen einer Idee der geordneten Zeit.“22

Ablesbar werden die Tendenzen einer fachgeschichtlichen Reflexion, solche „Meistererzählungen“ (Lyotard) geordneter Zeit zu produzieren, die in ideologischer Hinsicht diskursstabilisierend wirken, von Beginn an. Adolf Matthias schrieb 1907 die bereits erwähnte Fachgeschichte in bewährt historistischer Manier (s. dazu unten) mit klaren Funktionszuschreibungen. Der deutsche Unterricht sei „die schwächste Stelle unserer Gymnasien“, nirgends sei „mehr Unsicherheit und Verworrenheit, Schwanken und Willkür“.23 Durch fachgeschichtliche Reflexion seien also Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, um „in das Chaos Ordnung zu bringen“ durch „feste Ausgangspunkte, allgemein anerkannte Prinzipien“,24 „um alte Weisheit an den Quellen zu schöpfen und aus ihnen neue Weisheit zu stärken und zu mehren“.25 Matthias erschließt die Fachgeschichte entlang ihrer herausragenden Persönlichkeiten, die man mit ihren „erstrebenswerten Idealen und hohen Zielen“ kennen lernt: „Deshalb hat diese Unterrichtsgeschichte vor allem auch ihren patriotischen Wert.“26 So „[wächst, sic] mit dem Wachsen des Nationalgefühls ← 14 | 15 → auch die Bedeutung und Wertschätzung des deutschen Unterrichts“.27 Matthias’ Vorbemerkungen deuten damit Argumentationsmuster an, die die vorrangig nationale Sinnbildungsstrategie im Kaiserreich nachvollziehbar werden lassen. Die Selektion einer am Leitfaden übergeordneter Ratio verfahrenden Geschichtsschreibung muss gar nicht erst legitimiert werden, denn sie gehorcht prioritären Maßgaben. Dennoch weiß Matthias um die „Lücken“28 seiner Darstellung, die er aber insofern rechtfertigt, als selbige meist nicht zu beklagen seien, „wo es sich um solche Persönlichkeiten handelt, die es verdienen, daß nichts von ihrem Tun der Geschichte überliefert wurde.“29 Weniger ausführlich im selbstreflexiven historiographischen Kontext, jedoch ähnlich gelagert, erscheinen die Ausführungen Rudolf von Raumers,30 der eine umfassende Geschichte des Deutschen Unterrichts im mehrbändigen Werk seines Vaters Karl zur Geschichte der Pädagogik veröffentlichte. Als Vorgänger von Matthias bedient er sich ebenfalls einer Geschichte herausragender Persönlichkeiten, deren Verdienste er an ihren Schriften chronologisch darstellt. Im Vorwort zur Erstauflage 1852 (das sehr erfolgreiche Werk erlebte über 50 Jahre hinweg Neuauflagen; Rudolf von Raumers Abhandlung wurde immer wieder erweitert und aktualisiert) stellt er ähnlich wie Matthias sein Werk unter eine Zwecksetzung: „daß meine Arbeit zur Verbreitung einer gesunden vaterländischen Gesinnung Einiges beitragen möge“.31

Die Fachgeschichte des Deutschunterrichts und der Literaturpädagogik spiegelt also das, was die Geschichtswissenschaft selbstkritisch im Zuge ihrer verstärkten Selbstreflexion herausstellt. Sinnbildung wird damit für die Gegenwart jedoch nicht obsolet, denn sie gibt auch im Bewusstsein ihres Konstruktivitätsgrades Orientierung und liefert „Argumente“. Jörn Rüsen schlüsselt die Typen der historischen Sinnbildung vierfach auf: Sie kann „traditional“ im Sinne der Mythen- und Legendenbildung verfahren, „exemplarisch“, indem sie aus Ereignissen der Vergangenheit überzeitliche Regeln ableitet, „genetisch“, indem sie die Einflüsse fremder und anderer Lebensformen auf die eigene geltend macht, oder „kritisch“, indem sie gerade auf Brüche verweist und damit geltende Ordnungen in Frage ← 15 | 16 → stellt.32 Eine pädagogische Fachgeschichte, die ihren Ursprung vor allem auch im nationalen Kontext hat, wird „exemplarisch“ (im Sinne Rüsens) argumentieren – ablesbar an den obigen Ausführungen zu von Raumer und Matthias. Im Gefolge nationalkritischer und dekonstruierender Reflexion wird sie gleichermaßen kritisch verfahren, um auf die Gefahren einseitiger Konstruktionen von Legitimationsräumen hinzuweisen. Die gesamte Revitalisierung fachgeschichtlicher Reflexion in der Literaturdidaktik seit den 1970er Jahren verdankt sich diesem zweiten Impetus, beginnend mit der Lesebuch-Debatte der 1960er Jahre bis hin zu den Einzelbänden der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts“, die zu Beginn in der Mehrheit nationalkritisch ausgerichtet waren und an Lesebuch-Untersuchungen oder an der Geschichte des Mädchenschulwesens auf die Strukturen nationaler und patriarchaler Kultur hinwiesen.33 Sinnbildungsverfahren der Historiographie sind also innerhalb der Fachgeschichte auffindbar; ihre Zielsetzungen bewegen sich – wenn expliziert – im Rahmen der Funktionsbeschreibungen der Geschichtswissenschaft. So vermerkt Frank im Jahr 1973 prägnant: „Die Frage nach den künftigen Aufgaben des Deutschunterrichts geht von einer Kritik seiner überlieferten Zielsetzungen aus.“34 Ortwin Beisbart 40 Jahre später ähnlich:

Dennoch kann ein Interesse an der Geschichte des Deutschunterrichts nicht seine aktuellen Beweggründe verbergen, das aktuelle unterrichtliche Vermittlungshandeln von Wissen und Können als sinnhaft und sinnvoll zu erkennen – auch und gerade im Versuch, als unzureichend oder in eine falsche Richtung gehende tradierte Inhalte, Ziele und Handlungsmuster zu vermeiden oder zu verbessern, auch im Blick auf verändertes Wissen eine angemessene Konstruktion von Deutschunterricht für die Zukunft zu erreichen.35

Methodik

Wie jedoch verfährt die Fachgeschichte in methodischer Hinsicht, wie also geht sie mit ihren Quellen um? Rüsen stellt eine dreischrittige Methodik für die ← 16 | 17 → Geschichtswissenschaft vor, die „traditionell“ ausgerichtet ist und „geradezu kanonisch gemacht wurde“.36 Wenngleich sich auch innerhalb der Fachgeschichte ein (eingeschränktes, s. unten) methodisches Spektrum zeigt, kann Rüsens Aufteilung dennoch Probleme und Lösungsversuche innerhalb der Fachgeschichte aufdecken, daher soll – wie oben – ein Durchgang durch diese Methodik mit Beispielen aus der Fachgeschichte des Deutschunterrichts aufzeigen, dass methodologische Selbstreflexion wenig verzichtbar scheint.37

Der erste Schritt, die Heuristik, besteht aus den zwei Momenten des fragenden Suchens und des Findens der Quellen. Die historische Fragestellung ergibt sich nur aus abgesicherter Forschungsbasis, und sie dient Orientierungsbedürfnissen der Gegenwart (s. oben). Die Reichweite beider Einschränkungen ist immens und bedarf aus fachgeschichtlicher Perspektive einiger Klärungen. Zum einen wäre zu fragen, worin die Forschungsbasis besteht, d.h. das historische Wissen um die Genese des muttersprachlichen Literaturunterrichts vor allem im 19. Jahrhundert muss dazu führen, die Entstehungsbedingungen in angemessener Reichweite hinzuzuziehen.38 Der Herkunftskontext der Deutschlehrer ist hier entscheidend: Ihre Ausbildung geschah in altsprachlichen, später vereinzelt auch in germanistischen Seminaren, die durch eine starke Verwurzelung in der philologischen Praxis geprägt waren. Die Etablierung der Philologien, vor allem der germanistischen, verdankt sich an Universitäten zu einem erheblichen Maße den Notwendigkeiten der Lehrerausbildung,39 daher bedarf es innerhalb der fachgeschichtlichen Forschung einer Ausweitung auf die Forschungsergebnisse der Fachgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft.40 Betrachtet man als ein weiteres Beispiel die Herausbildung ← 17 | 18 → schulischer Leseverfahren etwa seit dem frühen 19. Jahrhundert, wird überdies deutlich, dass ohne einen Blick auf den textlichen Umgang innerhalb der altsprachlichen Philologien kaum verstehbar ist, wie sich die „kursorische“ aus der „statarischen“ Lektüre für den muttersprachlichen Unterricht, vor allem auch die „Privatlektüre“, herausbildete.41

Inwieweit soll sich fachgeschichtliche Forschung nun aus dem Orientierungsbedarf der Gegenwart herleiten? Die oben genannte Versorgung mit „Argumenten“ in vergleichbaren situativen Konstellationen ist sicher eine legitime Motivation für fachgeschichtliches Fragen, jedoch verleiten bildungspolitische Zwänge (oder: Überzeugungen) auch in wenig historistischer Manier zur Projektion von Bedürfnissen der Gegenwart in die sie scheinbar legitimierende Vergangenheit.42 So wenig man die Einheitsschule der Gegenwart aus der Landschule um 1800 ableiten ← 18 | 19 → kann,43 so wenig hat beispielsweise der Handlungs- und Produktionsorientierte Unterricht der 1990er Jahre mit den Gegebenheiten des Wackernagelschen Lesebuchs oder dieses mit den „Reformbewegungen“ um 1900 zu tun.44 Auch Hieckes nationaler Bildungsauftrag, der ihn zur schulischen Lektüre Goethes bringt, ist nicht in einer geraden Linie zur Kaiserrede 1890 (und damit in einem weiteren Übersprung zur nationalsozialistischen Schulpolitik) zu sehen.45 Auf der anderen Seite wäre es beispielsweise durchaus möglich, die Genese und Verstärkung eines islamophoben Deutungsmusters in den Lesebüchern des Kaiserreichs zu beobachten, um dann zu zeigen, inwieweit dieses in der Folge nicht nur weiter tradiert wurde, sondern bis in die Gegenwart hinein die Vorstellungsbildung über den Islam beeinflusst.46 So scheint es problematisch, konkrete historische Ereignisse in Kontinuitäten zu stellen, die zahlreiche flankierende sozialpolitische Zwänge ausblenden und den historischen Wandel begrifflicher Semantiken ignorieren, um möglicherweise „Fortschritte“ oder „Rückschritte“ im pädagogischen Handeln zu diagnostizieren.47 Kontinuitäten in Semantiken allerdings sind an schulischen Trägermedien wie dem Lesebuch (als ein Sozialisationsmedium) ablesbar und können empirisch transparent werden.

Das Auffinden der Quellen stellt Rüsen vor den nächsten Schritt, die Quellenkritik. Quellen können Traditionen oder Überreste sein; die fachgeschichtliche Forschung hat es nur mit ersteren zu tun.48 Quellen haben „Traditionsqualität, ← 19 | 20 → wenn sich in ihnen […] Sinnqualitäten gestaltend niedergeschlagen haben“49. Schriftliche „faktuale“ Zeugnisse wie Literaturpädagogiken und lesepädagogische Schriften, Autobiographien und Briefe, Lesebücher, Schulprogramme, Bildungs- und Bevölkerungsstatistiken, Jahresberichte, behördliche Dokumente, Schülerarbeiten stehen im Vordergrund und werden ergänzt durch fiktionale Zeugnisse wie die Schulliteratur. Einen Sonderfall stellen die Lesebücher als Sammlungen von Texten unter der Ägide eines Herausgebers dar (s. unten). In Teilen können bildliche Zeugnisse (Schuldarstellungen, Leserdarstellungen, Fotografien u.ä.) integriert sein.50 Die jüngsten Entwicklungen haben das Auffinden der Quellen in erheblichem Maße erleichtert. Die zeitraubende Archivarbeit und Verzögerungen durch schwer greifbare oder weit verstreute Quellen sind durch die Digitalisierung teils auch entlegener Schriften und vor allem der pädagogischen Periodika oft aufgehoben. Sammlungen wie die des Georg-Eckert-Institutes in Braunschweig (teils digitalisiert) bieten freie Zugänge für die Schulbuchforschung.

Die Kritik der Quellen, bei Rüsen nach der Heuristik der zweite Schritt, steht im fließenden Übergang, werden doch nun die gefundenen Quellen einer äußeren (Echtheit der Quelle) und einer inneren Kritik (Qualität der Information) unterzogen. Über die Quellenkritik wird die Objektivität historischer Aussagen gesichert, daher stellt sich der fachgeschichtlichen Forschung in diesem Zusammenhang die Frage nach den „höher aggregierten Tatsachen“51, auch den „seriellen Daten“.52 Diese werden in der Regel quantitativ ermittelt; ihr Quellenmaterial ist daher zunächst zahlenbasiert. Die Kanon- und die Lesebuchforschung haben sich dieser Herausforderung gestellt und bemühen sich in jüngerer Zeit, mit statistisch abgesicherten Verfahren repräsentative Aussagen zu generieren, die oft durch geisteswissenschaftliche Detailarbeit in qualitativer Hinsicht ergänzt werden.53 Die Lesebuchforschung ← 20 | 21 → steht diesbezüglich vor großen Herausforderungen, die im Fehlen einer genuin germanistischen Forschungsmethode begründet sind. Anders als Schulbücher instruierender Art sind Lesebücher intentional strukturierte Textsammlungen, bei denen der Aussagegehalt des einzelnen Textes eine Verbindung zur Intention des Herausgebers (und damit der bewilligenden Behörde) eingeht. Die Digitalisierung verstreut vorhandenen Materials und damit die Möglichkeiten der Schlagwortsuche reichen also nicht aus, um Aussagen über das Material treffen zu können.54

Wenn über die Kritik die Frage nach dem Realitätsgehalt historischer Forschung beantwortet wurde, erfolgt als dritter Schritt nach Rüsen die Interpretation des Quellenmaterials. Sie erst macht einen Befund zu einer historischen Tatsache, indem sie ein historisches Narrativ erzeugt, das durch einen reflektierten Theoriegebrauch den jeweils aktuellen Paradigmen historischer Forschung angeglichen wird.55 In der Regel bedeutet dies, dass sich das Geschehen „in der Form von Geschichten“ erzählen lässt, die geleitet werden von der „Vorstellung eines übergreifenden zeitlichen Zusammenhangs“, so dass sich ausmachen lässt, was jeweils „typisch oder spezifisch für eine bestimmte Zeit“ ist.56 Vor dem Hintergrund der Standards empirischer Forschung, wie sie die Didaktik heute aus den Sozialwissenschaften kennt, muss eine solche Interpretationsarbeit – wie jede aus geisteswissenschaftlicher Tradition – als spekulativ gelten. Rüsen vermerkt demgemäß selbstkritisch, dass die Interpretation „noch nicht auf ihre zu Grunde liegenden Regulative hin systematisch durchsichtig“57 gemacht wurde. Wie in jeder qualitativen Forschung gelten also auch hier die Kriterien der inneren Stimmigkeit (Konsistenz und Kohärenz), der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, des Grades an Selbstreflexivität und der methodischen Angemessenheit, Transparenz und Strenge (Indikation des Forschungsprozesses).58 An diesen sollte fachgeschichtliche Forschung gemessen ← 21 | 22 → werden,59 die sich außerhalb der „höher aggregierten Tatsachen“ bewegt – ihre Aussagekraft ist darum in keiner Weise geringer.

Paradigmatik und Desiderata

Die historische Bildungsforschung hat mittlerweile die Paradigmen ihrer Forschungstradition mit der Geschichtswissenschaft abgeglichen, Übereinstimmungen festgestellt und Ordnungsmuster angegeben, die sich in unterschiedlichen Entwürfen weitgehend decken. Für die Fachgeschichte der Deutschdidaktik fehlen solche generalisierenden Darstellungen der Forschungsparadigmen, obgleich man unschwer Analogien zur pädagogischen Historiographie und zur germanistischen Wissenschaftsgeschichte feststellen kann. Ein nur kursorischer Blick in das oben angegebene Konvolut der fachgeschichtlichen Forschung bestätigt, dass erst in jüngerer Zeit die historiographische Selbstreflexion insoweit zunimmt, als paradigmenbezogene Selbstverortungen auch in methodischer Hinsicht stattfinden.60 Nach wie vor ist der Großteil der vorhandenen umfangreicheren Studien der Ideen- und Sozialgeschichte zuzuordnen, die oft ohne explizierte Methodologie verfahren. Dies gilt analog auch für bestehende Überblicke über die Entwicklung des Fachs, die in der Regel a) historische literarische Erziehung narrativ darstellen und b) die Theorien historischer literarischer Erziehung zu einem Narrativ verknüpfen und epochal gliedern, aber nicht c) die methodologischen Paradigmen der Forschung explizieren.61

Ideengeschichte und Historismus. Die bereits oben zitierten Textstellen aus der Vorrede des Werks von Adolf Matthias über eine Fachgeschichte „in der Gesellschaft ← 22 | 23 → der besten Persönlichkeiten“62 verweisen auf die Intentionen innerhalb des Paradigmas aus den Anfängen historischer Forschung. Solch frühe Darstellungen lassen sich oft zu Kurzschlüssen zwischen den oben genannten Ebenen a) und b) verleiten – zumindest wird kaum reflektiert, dass Rückschlüsse aus ministeriellen Verordnungen oder pädagogischem Schrifttum auf Unterrichts- und Vermittlungswirklichkeiten nicht möglich sind, dass man sich vielmehr von vorneherein angesichts des Quellenstatus in einem Bereich von intentional geprägten Diskursordnungen befindet. Die Realität der Literaturvermittlung, die historische Wirklichkeit des Lesens oder die tatsächliche Stratifikation und Distribution von Literatur in der Bevölkerung interessierte meist ohnehin nur am Rande. „Eine Folge davon war, daß die Geschichte der Pädagogik oder die der Erziehung Einheit sein sollte.“63 Oelkers kann an Karl von Raumers „Geschichte der Pädagogik“ (Erstauflage des ersten Bandes 1842), in deren drittem Band Rudolf von Raumers Abriss der Geschichte des Deutschunterrichts enthalten ist (s. oben), zeigen, dass die Frühzeit pädagogischer Historiographie im Sinne des Einheitsbegehrens geprägt ist von epochalen Phasierungsversuchen, die wiederum eine „Zuschreibung von Über- und Unterlegenheit“64 vornehmen. Maßgeblich auch für die frühen Versuche seines Sohnes und für die über ein halbes Jahrhundert später erscheinende Fachgeschichte von Matthias legt Karl von Raumer im Vorwort fest:

Eine Geschichte der Pädagogik muss einmal die Bildungsideale in’s Auge fassen, durch welche ein Volk in der Folge seiner Entwicklungsepochen beherrscht wird, dann aber die Weise, wie die Pädagogik in jeder Epoche das aufwachsende Geschlecht dem Bildungsideale gemäss zu erziehen, diess Ideal in der jungen Generation zu verwirklichen strebt. In ausgezeichneten Männern tritt jenes Bildungsideal wie personifiziert auf […].65

Eine solche personale Fachgeschichte ist orientiert an Autoren, die wiederum als exemplum für überzeitliche Gedanken in Epochen zusammengefasst sind. Was an Rudolf von Raumer und Adolf Matthias ablesbar wurde, zeigt sich teils auch in jüngerer fachgeschichtlicher Forschungsarbeit, beispielsweise in der Monographie ← 23 | 24 → Abels’ über Hiecke.66 Einheitsstreben und Überlegenheitsgestus belegt auch Matthias’ finaler Satz:

So hat die Geschichte der deutschen Sprache und des deutschen Unterrichts in stillem, folgestrengem Gange die junge Welt auf eine höhere Stufe innerer Gemeinschaft geführt; Aufgabe des deutschen Unterrichts ist es, weiter zu schaffen mit unmerklicher, aber auch unwiderstehlicher Gewalt, daß dermaleinst auch die religiösen Werte deutschen Geisteslebens nicht mehr als trennende Mächte, sondern als ein Band der geistigen Einheit empfunden werden.67

Sozialgeschichte. In besonderem Maße zeigt die Lesebuch-Debatte,68 wie aus der Sicht der Nachkriegstheorie eben diese Haltung inkriminiert und ein forschender Ansatz gefordert wurde, der gesellschaftliche Umstände, Zwänge und Prägungen mit berücksichtigte, um zu einer Sozialgeschichte jenseits großer Persönlichkeiten kommen zu können. Dieser sich aus materialistischen Überzeugungen und struktur- und gesellschaftsgeschichtlichen Methoden speisende Ansatz war für die Fachgeschichte des Deutschunterrichts insofern äußerst stilbildend, weil Unterricht (vielleicht im Unterschied zur akademischen Fachgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft) in hohem Maße unter dem Einfluss administrativer Vorgaben und der ihn umgebenden sozialen Wirklichkeit steht – generationeller Wandel ist immerhin nirgendwo so unmittelbar spürbar wie hier. Das sozialgeschichtliche Paradigma wurde so zum Impuls einer sich nun erst konstituierenden Fachgeschichte als Disziplin innerhalb der Literaturdidaktik. Nicht zu vergessen ist sicherlich, dass sich gleichzeitig die Institutionalisierung der Didaktiken als Fächer an deutschen Universitäten und Hochschulen ereignete; ihre Selbstbegründung und Legitimation bedurfte nicht zuletzt auch fachgeschichtlicher Reflexion zur Selbstvergewisserung. Dies zeigt sich beispielhaft an der Gründung der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts“, die bis heute etwa 33 Bände69 primär sozialgeschichtlicher Prägung versammelt. Die erwartbaren Themenfelder dieses Ansatzes sind dann auch präsent: Sieben Bände zum Literaturunterricht in der DDR, ebenso viele zur Lesebuch- und Kanonforschung, viele zu Themenfeldern wie Nationalsozialismus und Kaiserreich, Berufs- und Mädchenschulwesen.

Der sozialgeschichtliche Ansatz verweist auf die „tiefe Kluft zwischen den Theorien und Programmen der großen pädagogischen Theoretiker einerseits ← 24 | 25 → und der historischen Erziehungswirklichkeit andererseits“; er zeigt so die Fragwürdigkeit historistischer Interpretationen der Fachgeschichte und lässt „verdeckte Strukturen der sozialen und regionalen Differenzierung, Kanalisierung und Hierarchisierung erkennen“, indem auch die „Erforschung außerschulischer Sozialisationsprozesse“ relevant wird.70 Damit wird „Erziehung als Funktion der Gesellschaft71 interpretiert.

Das sozialgeschichtliche Paradigma markierte einen Reflexionsstand, hinter den man nicht mehr zurückfallen konnte. So ist keine Fachgeschichte der Literaturdidaktik und des Deutschunterrichts nach 1970 mehr denkbar, die nicht zumindest in Teilen sozialgeschichtlich argumentiert. Robert Minders Invektiven nur wenige Jahre nach der nationalsozialistischen Diktatur waren zu tiefgreifend, unter dem programmatischen Titel „Soziologie der deutschen und französischen Lesebücher“72 stehend und anklagend auf das verweisend, was die Denkschulung und die Indoktrination der Jugend ermöglicht hatte. Der Zusammenhang von literarischer Unterweisung und Vermittlung und sozialer Wirklichkeit stand in der Folge im Vordergrund sehr vieler Arbeiten, die nur beispielhaft umrissen werden können.

1981 erschien Horst Ludwigsens Dissertation „Zur Geschichte des Deutschunterrichts im beruflichen Schulwesen“,73 mit der eine Lücke gefüllt wurde, die Frank hinterlassen hatte, der sich nur auf das allgemein bildende Schulwesen bezogen hatte. Ludwigsen stellte seine Untersuchungen in einen intentionalen und methodischen Kontext, den er im Vorwort explizierte. Eine „fachspezifisch […] beschränkte Untersuchung“ genüge dem Gegenstand nicht, so müssten „über die Grenzen des Faches hinaus Zusammenhänge und Entwicklungen in den Blick kommen“, sei doch die Geschichte der Berufserziehung „Reflex der politischen, ← 25 | 26 → ökonomischen und gesellschaftlichen Gesamtprozesse“. „Ideengeschichte“ und „Institutionengeschichte“ reichten nicht aus angesichts „regional kulturföderalistisch bedingter Unterschiede“. So gälte es, „das bisherige preußische Darstellungsmonopol zu brechen“, „Lehrpläne und Erlasse“ zu sichten und über die „Selbstzeugnisse von Berufsschullehrern“, „unbekannten Schulpraktikern“, „deren Zeugnisse und Bekenntnisse als geschichtliche Quelle […] wertvoller sein mögen als die oft beschriebenen Systeme und Theoreme der Klassiker“, letztlich den Versuch zu machen, „reales Unterrichtsgeschehen der Vergangenheit zu rekonstruieren“. Horst Ludwigsen kam so in exemplarischer Form dem Anspruch der Sozialgeschichte nach. Bereits sein Themenfeld „Berufsschulwesen“ zeigt deutlich die Intention, bisher Randständiges, Vernachlässigtes und Unterbewertetes zugänglich zu machen.

Desiderata. Wenngleich das sozialgeschichtliche Paradigma das Untersuchungsfeld beträchtlich erweiterte und nicht zuletzt auch in methodischer Hinsicht Innovatives leistete (serielle Daten wurden relevant, um die soziale Wirklichkeit einschätzen zu können; Lesebücher wurden als relevante Quelle entdeckt), bleiben doch – nach dem Abebben – Bereiche, die nur unzureichend erschlossen sind. Gründe liegen vor allem darin, dass mit der Verbesserung der Quellenlage und der Zugänglichkeit der Quellen heute (s. oben) Untersuchungen neu angegangen werden könnten – und sicher auch ideologiefreier zu alternativen Ergebnissen kämen. Dies betrifft vor allem folgende Bereiche:

Der Literaturunterricht im Mädchenschulwesen. Hier liegen nur wenige Arbeiten vor, die sich primär an der historischen Konstruktion des Bildes von Weiblichkeit orientieren,74 und dabei ganz die Eigenwertigkeit gerade des Literaturunterrichts an Mädchenschulen (auch: seine Modernität!) ignorieren. Das diesbezügliche literaturpädagogische Schrifttum harrt noch seiner Erschließung.75 ← 26 | 27 →

Details

Seiten
314
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631721537
ISBN (ePUB)
9783631721544
ISBN (MOBI)
9783631721551
ISBN (Hardcover)
9783631716618
DOI
10.3726/b11051
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Geschichte des Deutschunterrichts Fachgeschichte Germanistik Literaturdidaktik Deutschunterricht im 19. Jahrhundert Historiographie
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 314 S., 6 s/w Abb., 4 s/w Tab.

Biographische Angaben

Christian Dawidowski (Band-Herausgeber:in) Nadine J. Schmidt (Band-Herausgeber:in)

Christian Dawidowski ist Professor für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück. Nadine J. Schmidt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Literaturdidaktik an der Universität Osnabrück.

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Titel: Fachgeschichte in der Literaturdidaktik
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