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Literarisierungen von Gewalt

Beiträge zur deutschsprachigen Literatur

von Dagmar von Hoff (Band-Herausgeber:in) Brigitte Jirku (Band-Herausgeber:in) Lena Wetenkamp (Band-Herausgeber:in)
Konferenzband 302 Seiten

Zusammenfassung

Ästhetische Ausdrucksformen wie Literatur, Film aber auch vermehrt digitale Medien wenden sich dem Thema der Gewalt in all ihren ausdifferenzierten Wahrnehmungsformen zu. Literatur geht dabei nicht vorrangig den Motiven für Gewalt nach, sondern hat das Potenzial, die feinen Verästelungen der Gewalt figürlich und handlungsorientiert narrativ in Szene zu setzen. Ästhetische Ausdrucksformen decken die Struktur und Organisation von Gewalt in Räumen und Systemen auf, fragen nach individueller Täter- und Opferschaft und nehmen hierbei unterschiedliche Perspektiven ein. Zugleich legen literarische Texte auch weniger markante Gewaltausformungen in Sprache und anderen Kommunikationssystemen offen, sodass Gewalt durch Sprache überhaupt erst sichtbar und in ihrer Unverständlichkeit darstellbar wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Sprache und Gewalt: Geometrien der Satire (António Sousa Ribeiro)
  • Inquisition als Metapher struktureller Gewalt (am Beispiel Frank Wedekind) (Ariane Martin)
  • Ambivalenzen der Gewalt in den Kriegserzählungen von Oskar Kokoschka und Eugeniusz Małaczewski (Monika Szczepaniak)
  • Ästhetik der Gewalt und Gewalt der Ästhetik bei Ernst Jünger (Rolf G. Renner)
  • Rassen, Geschlechter, Tropen. Die Phantasie der Gewalt und die Gewalt der Phantasie in Robert Müllers kulturpolitischen Utopien (Catarina Martins)
  • Die janusköpfige Gewalt der Geächteten Ernst von Salomons (Mario Bosincu)
  • „Je nach Schwere der zu sühnenden Tat sind folgende Maßnahmen zu ergreifen:“ Zur Darstellung nationalsozialistischer Gewalt gegen Griechenland in der Landserliteratur und deutschen Nachkriegsprosa (Athanasios Anastasiadis)
  • Den Erinnerungsort „Deutsche vergewaltigte Frau“ umformulieren: Julia Francks Roman Die Mittagsfrau (Júlia Garraio)
  • Nazitäterinnen in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit. Drei Thesen zu Roman und Gewalt (Simonetta Sanna)
  • Gewaltige Groteske – groteske Gewalt. Begrenzung und Überschreitung bekannter Narrationsmuster der Shoah-Literatur (Meryem Ilknur Demir)
  • Schuld und Gedächtnis: Vergessen, Verdrängen, Erinnern in der österreichischen Literatur (Magdolna Orosz)
  • Gewalt und Gedächtnis: Ambivalenzen in der Darstellung der Täterfigur in Uwe Timms Biographie Am Beispiel meines Bruders (Rogério Paulo Madeira)
  • Was geschah mit Bajla Gelblung? (Latente) Gewalt in den Bildern der NS-Schergen und ihre Literarisierung (Rosa Pérez Zancas)
  • „So wie einst Odysseus“ – Anonymisierung als Ausdruck wiederkehrender Gewalt in Reinhard Jirgls Romanen (Johanna Vollmeyer)
  • Kinder als Kriegsberichterstatter. Kriegserleben bei Saša Stanišić (Lena Wetenkamp)
  • ‚Friedensraum‘ Literatur. Die Orangen des Präsidenten von Abbas Khider (Brigitte E. Jirku)
  • Gewalt in der Zeitlupe – Noten zu problematischen Kontexten anhand des Terrorbegriffes (Teresa M.L.R. Cadete)
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

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Vorwort

READING VIOLENCE – diesem Anspruch haben wir uns seit Jahren verschrieben. Immer wieder stellten wir uns dabei die Fragen: Kann man Gewalt überhaupt lesen? Sollte das Thema Gewalt Gegenstand eines interpretierenden Rezeptionsvorgangs werden? Und wenn ja, wie könnte eine tragfähige Lektüre konkret aussehen? Dass literarische Werke den Raum der Gewalt durchqueren, ist ein Allgemeinplatz. Ästhetische Ausdrucksformen wie Literatur, Film, aber auch vermehrt digitale Medien wenden sich dem Thema der Gewalt in all ihren ausdifferenzierten Wahrnehmungsformen zu. Gleichzeitig kann auch in den Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine verstärkte Hinwendung zu Fragen der Gewalt verzeichnet werden. Analysen zu Ursachen, Nachwirkungen und Ausformungen von Gewalt bilden dabei ein zentrales Forschungsfeld verschiedener Disziplinen, die vielschichtige und vielseitige Bereiche der Gewaltforschung umfassend abstecken. Auffallend ist dabei, dass sich die Schwerpunktsetzungen in den letzten Jahren verschoben haben: Die gegen Ende der 1990er Jahre einsetzende Diskussion in der Gewaltforschung stellte zu Recht die Frage, ob Ursachen von Gewalt überhaupt auszumachen sind, ob es weiterführend ist, nach den Gründen und Motiven von Gewalt zu fragen. Zum Beispiel etwa hat Wolfgang Knöbl, Nachfolger von Jan Philipp Reemtsma im Hamburger Institut für Sozialforschung, diesen Zusammenhang auf die treffende Formulierung gebracht: „Was – so die Kritiker einer auf Ursachensuche fixierten Mainstream-Forschungstradition – lerne ich über Gewalt, wenn ich weiß, dass soziale Ungleichheit in Gesellschaften ein besserer Prädikator für hohe Mordraten ist als etwa Armut […]. Die Antwort: Nicht viel!“1 Das Nachdenken über Ursachen und Motive von Gewalt zeigt demnach nicht, was Gewalt im Kern ausmacht, das heißt, wie der Akt der Gewalt sich vollzieht und wie die Gewalt zu beschreiben wäre. Vorrangig ist nicht mehr das Interesse und nicht mehr die Frage danach, was hinter Gewalthandlungen steht, sondern wie sich die Gewalt jeweils konkret darstellt und wie sie phänomenologisch zu fassen ist. Hinter diesem Perspektivwechsel steht letztlich die Auffassung, dass Gewalt nicht begründbar sein muss, dass sie nicht aufgrund von verstehbaren und nachvollziehbaren Motiven verübt wird, sondern dass das Wesen der Gewalt besser erfasst werden kann, wenn die jeweiligen Ausgestaltungen von Gewalthandeln phänomenologisch entschlüsselt werden. Dieser sich in der Forschung ← 7 | 8 → vollziehende Paradigmenwechsel lässt sich auch in den ästhetischen Ausdrucksweisen von Literatur, Film und anderen Medien nachzeichnen. Auch im Kosmos der Literatur geht es nicht mehr nur in erster Linie darum, Motive der Gewalt zu präsentieren, sondern literarische Texte verfügen über das Potenzial, genau diese feinen Verästelungen der Gewalt figürlich und handlungsorientiert narrativ in Szene zu setzen. Ästhetische Ausdrucksformen können dem Phänomen der Gewalt in all seinen Ausdifferenzierungen habhaft werden, wenn sie Struktur und Organisation von Gewalt in Räumen und Systemen aufdecken, nach individueller Täter- und Opferschaft fragen und hierbei unterschiedliche und differente Perspektiven einnehmen. Der aktuelle literaturwissenschaftliche Diskurs zeichnet diese Literarisierungen und Visualisierungen von Gewalt nach. Auch für uns gilt: vordringlich nach dem „wie“ der Gewalt zu fragen, die genauen Ausformungen aufzudecken und darzulegen. Dies ist für uns: READING VIOLENCE.

Diesem Anspruch gehen die Autorinnen und Autoren dieses Bandes in Einzelanalysen nach und nehmen das destabilisierende Potential der literarischen und allgemeinen ästhetischen Ausdrucksformen in den Blick, widmen sich dabei aber immer auch der Frage, inwiefern ästhetische Prozesse selbst Duplikatoren und Produzenten von Gewalt sind. Die hier vorliegenden Beiträge gehen auf die Ergebnisse der Internationalen Tagung READing Violence: Ambivalenzen der Gewalt zurück, die vom 24.–26. Oktober 2016 an der Universitat de València stattfand. Dabei liegt der Fokus des Bandes auf Literarisierungen der Gewalt in deutschsprachigen Texten aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Die Studien von António Sousa Ribeiro, Ariane Martin, Johanna Vollmeyer und Lena Wetenkamp widmen sich dabei vor allem dem Verhältnis von Gewalt und Sprache und fragen, wie bestimmte Sprachverwendungen (strukturelle) Gewalt abbilden und festschreiben, wie Sprache selbst in Form der Satire als gewalttätiger ästhetischer Modus begriffen werden kann, wie Gewalt sich zum Teil der Schrift bemächtigt und diese aufbricht oder wie Gewalt durch Sprache überhaupt erst sichtbar und in ihrer Unverständlichkeit darstellbar wird. Diese Überlegungen sind auch für die Beiträge von Brigitte Jirku und Meryem Ilknur Demir zentral, die aufzeigen, wie in der Literatur angesichts traumatischer Erfahrungen Bewältigungsmechanismen wie das „Trauerlachen“ oder „Katastrophenlachen“ entworfen werden können. Somit kann Literatur als Raum der Verarbeitung realer Gewalterlebnisse begriffen werden, wie es auch im Beitrag von Rolf Günter Renner aufgezeigt wird. Auf der anderen Seite wird durch literarische Darstellungen oftmals Gewalt als quasi natürliches Verhältnis legitimiert, Literatur diente und dient dazu kriegs- und gewaltverherrlichende Ideologien und Gewaltphantasien zu verbreiten. Dies zeigt sich u.a. in den Analysen von Catarina Martins, Mario Bosincu und Athanasios Anastasiadis. ← 8 | 9 →

Gewaltlektüren decken aber auch immer wieder die Komplexität der auf den ersten Blick so einfachen Opfer-Täter-Konstellation auf und stellen dieses dichotomische Denken infrage. So rücken u.a. die Beiträge von Monika Szczepaniak und Simonetta Sanna weibliche Täterfiguren ins Zentrum der Aufmerksamkeit und hinterfragen damit stereotype Genderverhältnisse in Gewaltsituationen. Wie der Beitrag von Júlia Garraio zeigt, wird gerade in der deutschsprachigen Literatur seismographisch die in der Aufarbeitung der Vergangenheit langsam einsetzende Veränderung in der Opfer-Täter-Perspektive nachvollzogen und auch nach dem Täter-Potenzial von vermeintlichen Opfern gefragt. Der Aspekt der Aufarbeitung einer gewalttätigen Gewaltgeschichte wird zudem in anderen Beiträgen analysiert, die sich mit dem Verhältnis von Gedächtnis und Gewalt befassen. Rogério Madeira, Magdolna Orosz und Rosa Pérez Zancas fragen auf unterschiedliche Art danach, wie Gewalt erinnert werden kann, wie sie sich in Erinnerungen einschreibt und sich im Sinne einer Postmemory transgenerational vererbt. Die Lektüren stellen heraus, dass individuelles Gewalthandeln immer an spezifische Kontexte rückgebunden ist. Dass Einschnitte in der Geschichte – wie 9/11 – notwendigerweise auch eine Erweiterung des Gewaltbegriffs nach sich ziehen, stellt Teresa Cadete heraus. Diese komplexen Konstellationen der unterschiedlichen Literarisierungen von Gewalt werden im Sinne eines READING VIOLENCE entschlüsselt und sichtbar gemacht.

Der vorliegende Band wurde durch die Conselleria d’Educació, Investigació, Cultura i Esport der Generalitat Valenciana (GV AORG/2016/026) gefördert, bei der wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken wollen. Ebenso gebührt Natalie Wilke, Juanjo Monsell Corts und Susanne Manstein ein großer Dank für Korrekturen und die vorgenommene formale Anpassung der Beiträge.

Dagmar von Hoff, Brigitte E. Jirku, Lena Wetenkamp


1 Wolfgang Knöbl: Perspektiven der Gewaltforschung. In: Mittelweg 36 (Juni/Juli 2017) H. 3, S. 4–27, hier S. 5.

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António Sousa Ribeiro

Universidade de Coimbra

Sprache und Gewalt: Geometrien der Satire

Abstract: Starting from the assumption that satire represents an inherently violent aesthetic mode, the article analyses central aspects of the relationship between satire and violence. It takes as its object texts by Fernando Pessoa and Karl Kraus as leading representatives of European modernism; the analysis of selected examples of modernist satirical discourse brings to light crucial dimensions of modern satire.

In seinem großen Essay „Hofmannsthal und seine Zeit“ geht Hermann Broch bekanntlich von der Erkenntnis aus, das geistige Milieu Wiens in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sei von einem „Wertvakuum“ bezeichnet gewesen, das zu einer Hypertrophie des Kitsches geführt habe – „ein Minimum an ethischen Werten sollte durch ein Maximum an ästhetischen, die keine mehr waren, überdeckt werden […]“.1 Es geht mir in diesem Zusammenhang nicht darum, die Fragwürdigkeit dieses Begriffes des „Wertvakuums“ zur Diskussion zu stellen. Ich beschränke mich damit, darauf hinzuweisen, dass der Gedankengang Brochs in die logische Schlussfolgerung mündet, dass nur eine von einer ethischen Aufgabe erfüllten Kunst in der Lage sein könnte, über jenes Vakuum hinauszugelangen. Eine solche Kunst aber, wie man am Ende des Essays lesen kann, dürfe sich nicht darauf beschränken, „das Apokalyptische des neuen Daseins“ „einfach kommentarlos“ zu beklagen, sondern sie müsse eine kämpferische Haltung entwickeln. In den Worten Brochs stellt eine solche Kunst „aufs Unmittelbarste den Menschen den verursachenden Bösheitsfakten gegenüber und [sie lehrt] ihn, dass sie in ihrer teuflischen Lächerlichkeit wegräumbar sind.“ Im Sinne der Ausführungen Hermann Brochs ist die dieser Aufgabe gemäßen Kunst einzig die Satire; der „neuen Absolut-Satire“ ist „vielleicht vorbestimmt“, „die Zentralkunst des 20. Jahrhunderts“ zu werden.2

Es ist bezeichnend, dass jene „Absolut-Satire“ von ihrer Wirkung her definiert wird. Wie die Folge der von mir zitierten Stelle zeigt, denkt Broch bei diesem Begriff der „Absolut-Satire“ vor allem an Karl Kraus, dessen Kulturkritik ja ← 11 | 12 → eine wesentliche Voraussetzung seines ganzen Essays darstellt: Satire ist nicht bloß in der Lage, Übel anzuprangern, sondern sie hilft aktiv, sie wegzuräumen. Dadurch – obwohl dieser Aspekt vom Verfasser nicht ausdrücklich thematisiert wird – erweist sie sich als vornehmlich performativ, als eine zugleich ethische und ästhetische Handlung. So hat Satire laut Broch Beispielcharakter: Um auf die Unterscheidung von Wittgenstein zurückzugreifen, das Entscheidende ist nicht so sehr, was sie sagt, sondern was sie zeigt. Und was sie an erster Stelle zeigt, was sie anschaulich vorführt, ist die Möglichkeit des Wegräumens, wobei die Voraussetzung dieses Wegräumens an erster Stelle in der denkbar schärfsten Grenzziehung zwischen einem sprechenden Ich, das sich als satirische Instanz profiliert, und einer ihn umgebenden feindlichen, grundsätzlich bösen Welt besteht.

So gesehen ist eine solche Grenzziehung ein Akt der Gewalt. Satire ist ein grundsätzlich gewalttätiger ästhetischer Modus, wie die geradezu klassisch gewordene Definition von Jürgen Brummack es ausdrückt: „Satire ist ästhetisch sozialisierte Aggression.“3 Dies hat Folgen, die Georg Lukács in einem 1932 veröffentlichten Text in einprägsamer Weise auf den Punkt gebracht hat:

Die Satire ist eine ganz offen kämpferische literarische Ausdrucksweise. Es wird in ihr nicht bloß das, wofür und wogegen gekämpft wird, sowie der Kampf selbst gestaltet, sondern die Gestaltungsform selbst ist von vornherein unmittelbar die des offenen Kampfes. […] Eine Behandlung der Form der Satire ist nicht möglich […], ohne zur Frage der offenen Kampfform vom Standpunkt der Ästhetik Stellung zu nehmen.4

Eine der von den Theorien der Gewalt am schwierigsten zu beantwortenden Fragen betrifft die Unterscheidung von legitimer und illegitimer Gewalt. Nun, wenn Satire unvermeidlich Ausübung von Gewalt voraussetzt, dann stellt sich unumgänglich die Frage nach der Legitimität dieser Gewalt. Im Sinne der Definition Brummacks ist der Grund dieser Legitimität in erster Linie ein ästhetischer. Wenn sie dieses Kriterium nicht erfüllt, dann ist Satire ipso facto im Unrecht. So konnte Karl Kraus den Aphorismus schreiben: „Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.“5 „Mit Recht“ natürlich nicht vom politischen, sozialen oder juristischen Standpunkt, sondern von dem Standpunkt einer literarischen Justiz, die die Unzulänglichkeiten einer solchen dem Zensor verständlichen, d.h. ← 12 | 13 → literarisch nicht gelungenen Satire, aufs Korn nimmt. Andererseits aber deutet die lange Tradition der Theorie und Praxis der Satire gleichzeitig auf die ethische Fundierung des Genres: Gewalt ist dadurch legitimiert, dass sie im Namen eines ethischen Wertes ausgeübt wird. Sie entsteht dort, wo die soziale Normalität, der akzeptierte Gemeinsinn, mit seinen Werten und Ritualen, unter Verdacht gerät. Durch die verschärfte Einsicht in die Verlogenheit einer verkehrten Welt wird der Blick des Künstlers zum satirischen Blick. Die grundsätzliche Ablehnung dieser Welt wird zum ethischen Imperativ; Negativität, welche der Identität und im wörtlichen Sinne der Autorität des Satirikers zugrunde liegt, beruht somit auf der auf den ersten Blick paradoxale Verbindung der Satire mit dem Geist der Utopie.6

Vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Überlegungen möchte mein Beitrag die Frage der Gewalt im Zusammenhang der modernen Satire anhand einiger einschlägigen Beispiele zur Debatte stellen. Die Verschränkung von Sprache und Gewalt bildet eine zentrale Frage der ästhetischen Moderne. Wenn man, in Anlehnung an den Kunstwissenschaftler Werner Hofmann, das Grundprinzip jener Moderne in der „Emanzipation der Dissonanzen“ verkörpert sieht,7 dann ergibt sich von selbst, dass die Sprengung der herkömmlichen Ordnung der Repräsentation in der Moderne notwendig die Frage der Gewalt mit einschließt. Nicht umsonst definiert Roman Jakobson, der seine Lehrjahre in enger Verbindung mit dem Moskauer futuristischen Milieu verbrachte, Literatur als „organisierte Gewalt gegen den gewöhnlichen Diskurs“.8 In diesem Zusammenhang ist eine Idee von Kunst als ideelle Synthese, die daraus entstehen würde, dass „das wirkliche Leiden in eine erhabene Rührung“9 aufgelöst wird, wie die Bestimmung der tragischen ← 13 | 14 → Kunst laut der Definition von Friedrich Schiller in seinem Essay „Über das Erhabene“ es will, höchst fragwürdig oder gar unmöglich geworden.

Satire ist grundsätzlich eine Kunst der Dissonanz und sie ist dadurch seit jeher der ästhetischen Theorie verdächtig gewesen. Für die Hegelsche Ästhetik kann die Satire „die echte poetische Auflösung […] des Falschen und Widerwärtigen und die echte Versöhnung im Wahren nicht zustande bringen“10 und ist deswegen aus der Landschaft der Kunst zu bannen. Im Horizont der Moderne erhält dagegen die „Begeisterung des Vernichtens“11, um ein Wort Friedrich Schlegels zu gebrauchen, einen ausgesprochenen künstlerischen Wert. Eben diese Begeisterung haftet jenem „destruktiven Charakter“ an, dem Walter Benjamins sein bekanntes Denkbild im Jahre 1931, das selbe Jahr, in dem er seinen Essay über Karl Kraus schrieb, gewidmet hat. Man erinnere sich an die Haupteigenschaften jenes Charakters in der Definition Benjamins:

Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Hass.12

Platz schaffen, räumen, wegräumen. Das sind wesentliche Stichworte für die Broch’sche „Zentralkunst des 20. Jahrhunderts“. Nichts weniger wurde in der programmatischen Einleitung zum ersten Heft der Fackel verlangt: „Was hier geplant wird ist nichts als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes.“13 Bevor ich mich aber einigen einschlägigen Aspekten des satirischen Unternehmens von Karl Kraus annähere, möchte ich andere Zusammenhänge kurz in Betracht ziehen:

Ach, was tust Du in Deiner Berühmtheit, Wilhelm der Zweite aus Deutschland, Linkshänder mit verkrüppeltem linkem Arm, Bismarck ohne Deckel, der das Feuer im Herd zu ersticken droht?!

Wer bist Du mit der sozialistischen Mähne, David Lloyd George, Narr mit der aus Union Jacks zusammengeflickten phrygischen Mütze?!14 ← 14 | 15 →

Einem Kenner der portugiesischen Moderne erschließen sich diese Sätze mühelos. Es handelt sich um Zitate aus dem futuristischen Manifest „Ultimatum“ von Álvaro de Campos, der fiktive Autor, der eine der wichtigsten unter den vielen literarischen Masken Fernando Pessoas verkörpert. Der Text, 1917 in der einzigen erschienenen Nummer der Zeitschrift Portugal Futurista erschienen, zeichnet sich durch außergewöhnliche Brutalität aus. Was hier verkündet wird ist eine Bankrotterklärung Europas, die gleich im ersten Satz des Textes, fast mit der Funktion eines Untertitels, deutlich gemacht wird: „Räumungsbefehl an Europas Mandarine! Weg!“15 Nicht nur werden etliche führende europäische Politiker in äußerst beleidigender Sprache apostrophiert, auch namhafte Schriftsteller (darunter Anatole France, Maurice Barrès, Paul Bourget, Rudyard Kipling, George Bernard Shaw, W. B. Yeats, Gabriele d’Annunzio und Maurice Maeterlinck) werden der Reihe nach kategorisch als im wörtlichen Sinne unzeitgemäß erklärt und gleichermaßen dazu aufgefordert, den Weg zu räumen. Damit sichert sich dieses Manifest einen würdigen Platz in der Reihe ähnlicher Texte der ästhetischen Moderne, insbesondere im futuristischen Umfeld. Der avantgardistische Gestus hebt die anklagende Stimme als Ort von absoluter, nicht zu widersprechender Autorität hervor. Die wörtlich unerhörte Anmaßung dieses Ichs, das Sätze wie jene von mir zitierten in einem gewaltigen Crescendo aneinanderreiht, ist grenzenlos – gipfelnd, am Ende des Textes, mit deutlichem Nietzsche-Bezug in der Ankündigung des Übermenschen, der implizit von jenem Ich verkörpert wird. Solche Autorität wird einzig und allein durch den rhetorischen Gestus des Pathos und der Anklage konstruiert, der in vielen Variationen den Gedanken des „Wegräumens“ wiederholt, gipfelnd in Sätzen wie:

Alles hier weg! Alles hier weg!

Ultimatum an sie alle und an alle anderen, die wie sie alle sind!

Wenn sie nicht weggehen wollen, dann sollen sie bleiben und sich waschen!16

Details

Seiten
302
ISBN (PDF)
9783631747391
ISBN (ePUB)
9783631747407
ISBN (MOBI)
9783631747414
ISBN (Hardcover)
9783631717615
DOI
10.3726/b13368
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Literatur Shoa Gedächtnis Kriegserzählung Ästhetik Ambivalenz
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 302 S., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Dagmar von Hoff (Band-Herausgeber:in) Brigitte Jirku (Band-Herausgeber:in) Lena Wetenkamp (Band-Herausgeber:in)

Dagmar von Hoff ist Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte mit dem Schwerpunkt Germanistische Medienwissenschaft und Ästhetik der textorientierten Medien am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsgebieten gehören unter anderem Gewalt in der Literatur und anderen Medien, Intermedialität, Transmedialität und Filmphilologie. Brigitte E. Jirku ist Professorin für Germanistik an der Universität Valencia. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Gender Studies, Literatur von Frauen im 20./21. Jahrhundert, deutschsprachiges Gegenwartsdrama mit Schwerpunkt auf den Theatertexten von Elfriede Jelinek sowie Fragen von Macht, Gewalt und Grenzerfahrungen. Lena Wetenkamp ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die deutschsprachige Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, insbesondere Gegenwartsliteratur, Film, inter- und transmediale Fragestellungen.

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