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Gedächtnis und Identität zwischen «différance» und narrativer Konstruktion in den Romanen Helder Macedos

von Isabel Francisco (Autor:in)
©2017 Monographie 254 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch untersucht Helder Macedos Prosawerk und dessen Beitrag zur Aufarbeitung von Diktatur und Kolonialgeschichte sowie der Positionierung Portugals innerhalb Europas. Die Autorin führt als theoretisches Gerüst für die Textanalyse Jacques Derridas «différance» mit ihrer Bedeutung für Subjekte und ihre Identitäten mit dem Konzept der narrativen Identität Paul Ricœurs zusammen. Renate Lachmanns Ausführungen zum Textgedächtnis fungieren als Verbindungsglied der vermeintlich nicht zu vereinbarenden poststrukturalistischen und phänomenologisch-hermeneutischen Richtungen. Die Autorin zeigt, wie die Romane Inhalte des kulturellen Gedächtnisses transformieren und Gegenentwürfe zur kollektiven Identität formulieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Das Prosawerk Helder Macedos und der Stand der Forschung
  • 1.2 Theoretischer Rahmen und Aufbau
  • 2. Identitäten in der Postmoderne
  • 2.1 Das Phänomen der Postmoderne
  • 2.1.1 Zum Begriff der Postmoderne
  • 2.1.2 Die différance
  • 2.1.3 Postmoderne Literatur
  • 2.2 Postmoderne Identitätstheorien
  • 2.2.1 Identität und différance
  • 2.2.2 Narrative Identitäten
  • 2.2.3 Die identitätsstiftende Funktion von Literatur
  • 3. Voraussetzungen für die Identitätsbildung: Erzählstrategien und Gedächtniskonzepte
  • 3.1 Gedächtnis, Literatur und Identität in der aktuellen Forschung
  • 3.2 Konstruierte Realitäten – konstruierte Identitäten
  • 3.2.1 Erzählinstanzen und Erzählperspektive
  • 3.2.2 Erzählstrategien und Illusionsverhinderung
  • 3.3 Gedächtnis und Intertextualität
  • 3.3.1 Textgedächtnis und Intertextualität
  • 3.3.2 Intertextualität und Gedächtnis in den Romanen Helder Macedos
  • 3.4 Philosophische und neurobiologische Verknüpfungen
  • 3.4.1 Gedächtnisspuren, Iterabilität und narrative Identität
  • 3.4.2 „Künstliches“ vs. „natürliches“ Gedächtnis und Literatur
  • 3.5 Kollektive Identifikationsmodelle und Gedächtnis
  • 3.5.1 Kollektives Gedächtnis
  • 3.5.2 Gedächtnis, Geschichte und Literatur
  • 3.5.3 Erinnerung und Wahrheit: Ricœur und die „Gedächtnistreue“
  • 4. Die wechselseitige Bedingtheit personaler Identitäten
  • 4.1 Identitätskonstitution und Referentialität
  • 4.1.1 Die Gedächtnismetapher der anwesenden Abwesenheit
  • 4.1.2 Das Selbst im Anderen: Der Wunsch nach Symbiose und Autonomie
  • 4.2 Herkunft und familiäre Beziehungen als Merkmale stabiler Identitätskonstruktionen
  • 4.2.1 Todesszenarien als Identifikationskomplex in Natália
  • 4.2.2 Zwiespältige Identitäten in Bezugssystemen: Identitätsmerkmale in Pedro e Paula
  • 5. Möglichkeiten und Grenzen von Identitätsnarrationen
  • 5.1 Das Verhältnis von Erinnerung, Erzählen und Macht
  • 5.1.1 Wer erzählt wen? Machtverhältnisse zwischen Fremd- und Selbsterzählung
  • 5.1.2 Das manipulierte Gedächtnis: „Gefälschte“ Erinnerungen und Selbstnarration
  • 5.2 Narrative Selbstentwürfe zwischen Fiktionalität und Faktualität
  • 5.2.1 Verflechtungen zwischen literarischer Fiktion und Identitätsnarrationen
  • 5.2.2 Identitätsstiftende Erzählungen aus Imaginationen
  • 6. Stagnation und Neuentwürfe: Politische Identität und postrevolutionäre Gesellschaftsstruktur
  • 6.1 Wechselbeziehungen zwischen kollektiver und personaler politischer Identität
  • 6.1.1 (Auto-)Biographie und historischer Kontext in Partes de África
  • 6.1.2 Körperlichkeit als politischer Schauplatz in Pedro e Paula
  • 6.1.3 Marta als Symbol für die Bewältigung der Diktatur in Sem Nome
  • 6.1.4 Warten auf Marta und Lenia: Parabeln auf den Sebastianismus
  • 6.1.5 Lebensentwürfe nach politischem Umbruch: Lenia als Metonymie für die DDR
  • 6.2 Gewaltherrschaft und Opposition: Portugal in der Diktatur
  • 6.2.1 Die Salazar-Diktatur im Schatten der Zensur
  • 6.2.2 Diktatur und Opposition im Zeichen der PIDE
  • 6.2.3 Der (Post-)Kolonialismus als globales Phänomen
  • 6.3 Identitätsentwürfe und politische Systeme im Wandel: Portugal nach der Revolution
  • 6.3.1 Postrevolutionäre Gesellschaftsstruktur am Beispiel von gender
  • 6.3.2 Das Scheitern von PCP und Sozialismus als politischer Niedergang
  • 6.3.3 Die „nationale Identität“ auf dem Prüfstand
  • 7. Schlussbemerkungen
  • 8. Literaturverzeichnis

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1.  Einleitung

1.1  Das Prosawerk Helder Macedos und der Stand der Forschung

Die Frage danach, wie und woraus personale und kollektive Identitäten gebildet werden, gehört zu den markantesten Themen im Prosawerk Helder Macedos. Der 1935 in Südafrika geborene, in Mosambik aufgewachsene und im Londoner Exil verbliebene Autor portugiesischer Eltern reagiert damit auf die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche in Portugal seit der Nelkenrevolution, die die Voraussetzung zur personalen und kollektiven Identitätsbildung maßgeblich verändert haben. Seine Romane kommentieren die politischen Umstände und geschichtlichen Zusammenhänge Portugals umfangreich.1 In ihrem Neuentwurf portugiesischer Vergangenheitserzählungen geben sie vielfältigen Stimmen Raum und lassen ein differenziertes Meinungsbild entstehen.

Helder Macedos Debütroman Partes de África (1991) zeichnet mosaikhaft das Bild des kolonisierten Mosambik und seiner Dekolonisation aus Sicht des heranwachsenden Ich-Erzählers und konstruiert aus unterschiedlichen (post-)kolonialen Diskursen kollektive und personale Identitäten. Die erinnerten Episoden, diversen Begegnungen und Orte in Afrika und Portugal werden von der Stimme des erinnernden Ichs unterbrochen, einem Literaturprofessor am King’s College, der die autobiographischen Züge des Romans unverkennbar macht und in einen Dialog mit dem Vater tritt, der unter Salazar im Kolonialdienst tätig war. Der Text wird in der Forschung als bahnbrechender Einschnitt im Umgang mit der portugiesischen Kolonialgeschichte gehandelt:

Tratava-se de um livro que surgia na ficção portuguesa de então como um livro vindo de nenhures, e com ele inaugurava-se uma outra forma de lidar com o fantasmático passado colonial, não mais como um fantasma e que, portanto, se prolonga no presente, ← 9 | 10 → assombrando-o; nem como uma fantasia recordada no presente, mas como passado e, assim, como espaço de memória e de interrogação presente. […] Com P.A. surgia assim, na ficção portuguesa dos anos 1990, o primeiro romance capaz de lidar com os fantasmas e as fantasias do império, sem que da sua leitura saíssemos – autor, narrador e leitor – vergados de “uma espécie de remorso sem culpa e também sem perdão” (MELO, 1992, p. 134) pelo nosso “colonialismo inocente”, de que fala Eduardo Lourenço (1976) (Ribeiro 2010: 107).

Maria Calafate Ribeiro verweist auf den richtungsweisenden Charakter des Romans, dessen Form kolonialer Vergangenheitsbewältigung bei Erscheinen Anfang der 1990er Jahre ein Alleinstellungsmerkmal in der Literaturlandschaft Portugals genoss. Umso erstaunlicher erscheint es, dass Helder Macedo bislang in der deutschsprachigen Lusitanistik keine Beachtung gefunden hat und insgesamt in Europa und speziell Portugal vernachlässigt wird.2 Ein Blick auf die Publikationen aus Portugal zeigt, dass der Autor kaum auf das akademische Interesse stößt, das andere zeitgenössische Autoren mit ähnlichen Sujets genießen.3 ← 10 | 11 → In der brasilianischen Universitätslehre hingegen gehört er offensichtlich zum Kanon, wie beispielsweise eine gesamte dem Roman Natália gewidmete Ausgabe einer aus Arbeiten von Studierenden konzipierten Zeitschrift4 sowie diverse Mestrado-Arbeiten (u. a. Bohrer Ribeiro 2014; Grigoletto 2005; Castro 2014) und einige Doktorarbeiten (Angelini 2008; Dantas 2009; Filho 2008; Sá 2009) vermuten lassen. Größer angelegte Studien, in denen das Prosawerk Helder Macedos zusammenhängend untersucht worden ist, existieren bislang jedoch noch nicht.5 Helder Macedos zweiter Roman Pedro e Paula (1998) ist nach Partes de África auf das größte Echo gestoßen, woraufhin die Anzahl der Publikationen stetig abgenommen hat. Der Autor bleibt weitgehend ein blinder Fleck, nicht nur in der deutschsprachigen Romanistik – ein Umstand, der zumindest nicht der literarischen Qualität geschuldet sein kann, die eine vielfältige literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung zulässt. Helder Macedo selbst ist sich dessen bewusst und kommentiert:

Direi apenas que se a atenção crítica brasileira me lisonjeia, a perplexidade portuguesa também não me desagrada, por ambas sugerirem que de algum modo teria alcançado nesse livro o meu propósito de significar a diferença dentro da semelhança e a semelhança dentro da diferença. Creio aliás que, em termos abstratos, é esse o tema central do livro, manifestado na sua estrutura, nas relações entre várias personagens, nas referências a outras obras e, muito especialmente, nas articulações entre o fatual e o fictício – o recordado e o imaginado – ou seja, entre a História e a Literatura (In: CARVALHAL; TUTIKIAN, 1999, p. 37) (Dantas 2009: 20).6 ← 11 | 12 →

Der Autor benennt explizit die Diskrepanz zwischen den Reaktionen aus Brasilien und Portugal auf Partes de África, dessen zentrales Thema er mit der Differenz innerhalb des Ähnlichen und der Ähnlichkeit innerhalb des Differenten beschreibt.7 Diese abstrakte Sichtweise überträgt er auf die brasilianische und portugiesische Literaturkritik, womit er einen weiteren wiederkehrenden Schwerpunkt seiner Texte anspricht, die Übertragung diverser Phänomene auf einer zeitlich-historischen sowie genreübergreifenden Ebene. Der markante Erzählstil Helder Macedos mit seiner Ironie, dem exzessiven Einsatz von Intertextualität8 und Metafiktion9 und dem Spiel zwischen Fakt und Fiktion und dem daraus resultierenden Verwirrspiel10 ist in der Mehrzahl der Publikationen zu seinen Romanen erwähnt11.

Wie bereits Partes de África beschäftigt sich auch Macedos zweiter Roman Pedro e Paula mit zu Kolonialzeiten gebildeten Identitäten und den Brüchen ← 12 | 13 → nach der Revolution.12 Er beleuchtet die Geschichte Portugals von 1945, dem Geburtsjahr der sich als extrem unterschiedlich entpuppenden Zwillinge Pedro und Paula, bis 1997 und nutzt die beiden Protagonisten, um die antagonistischen Tendenzen der politischen Identität Portugals aufzuzeigen. Befanden sich ihre Eltern José und Ana während ihres Jurastudiums noch in einer Dreiecksbeziehung mit Gabriel, dem Patenonkel der Zwillinge und späteren Lebenspartner Paulas, geht José nach dem Studium mit der Familie in den Staatsdienst nach Mosambik. Zum Studieren verlässt Pedro das Land und nimmt seine Schwester mit nach Lissabon, wo sich ihre Wege im Laufe der Jahre endgültig trennen. Marisa Corrêa Silva sieht die Reisen13 der Figuren zwischen Afrika und Europa als Metapher der Suche, in der sich die großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts widerspiegeln (2002), die u. a. den Feminismus14 und neue soziale Rollen sowie das Ende des Kalten Krieges und der Kolonialmächte betreffen.

Vícios e Virtudes (2000) bricht mit der Kolonialthematik. In dem Roman kreuzen sich in der Figur Joana mehrere Identitäten, deren Grenzen verschwimmen. So erinnert der Bericht der Figur Francisco den Erzähler an Johanna von Österreich, die er in einer intradiegetischen Erzählung zur Hauptfigur macht. Hinzu kommen Briefe und Dialoge zwischen Joana und dem Erzähler, in denen sie selbst ein äußerst ambivalentes Bild von sich zeichnet. Ihre Ausführungen geben dem Erzähler wiederum Anlass, über ihre Identität zu spekulieren und eine weitere Geschichte über sie zu erzählen. Die verschiedenen von Ambiguität geprägten Erzählstränge und Rollen Joanas führen dazu, dass ihre Identität sich weniger aus dem Gesagten erschließt als dem, was sie offen lässt. Die Reminis­zenz an den Mythos des Sebastianismus eröffnet einen Diskurs über nationale Identitätsbildung und ihre Dekonstruierbarkeit. Marta de Senna macht folgende Beobachtung zu Vícios e Virtudes:

Parece é […] o verbo mais adequado para descrever o que acontece (e não acontece) nesse último romance de Helder Macedo, onde tudo vai de mistura, onde tudo é isto e ← 13 | 14 → outra coisa; […] onde Joanas e Isabéis se duplicam e entrecruzam, junto a Franciscos de Sá (de Miranda?), de Borja e de nada; onde a linguagem faz e desfaz cada linha; onde o narrador (o autor) se esmera em apontar o tempo todo para a ausência de fronteiras nítidas entre as coisas: entre a história e a fábula, entre o real e a ficção, entre o passado e o presente, entre a verdade e a verosimilhança (2002: 216).

Ihre Anmerkungen zur Sprache und zur Erzählsituation verweisen auf die deutlichen Parallelen zu Sem Nome (2005) sowie dem zuletzt erschienenen Roman Tão longo amor tão curta a vida (2013) und beschreiben darüber hinaus das gesamte Prosawerk Helder Macedos, das mit dem Roman Natália (2009) abschließend aufgezählt ist. Sowohl in Sem Nome als auch in Tão longo amor tão curta a vida treten die Figuren als Doppelgänger auf und gehen Verwicklungen ihrer Identitäten ein, sodass diese nicht mehr eindeutig zuzuweisen sind. In Sem Nome erhält die im politischen Exil verbliebene Figur José Viana einen Anruf der Londoner Polizei, die ihm mitteilt, Marta Bernardo sei am Flughafen ohne gültige Papiere verhaftet worden. Doch anstelle seiner nach der Nelkenrevolution verschwundenen Jugendliebe begegnet er Júlia de Sousa, deren Erscheinung in seiner Wahrnehmung zwar Marta gleicht, die jedoch dreißig Jahre jünger ist. Daraus entsteht ein Verwechselspiel der Identitäten und der Konfrontation mit der Vergangenheit des einstigen Widerstandsaktivisten, das in ihrer Überwindung und einem Neubeginn mündet. Auch Tão longo amor tão curta a vida beginnt mit einem unerwarteten Anruf bei dem in London lebenden Ich-Erzähler. Ein ihm flüchtig bekannter Diplomat bittet ihn um Unterschlupf, da er auf der Flucht vor einem Paar sei, das ihn entführt und gefangen gehalten habe. Die Geschichte klingt derart unplausibel, dass der Erzähler seinerseits beginnt, einen Romanentwurf über den möglichen Hergang der Geschehnisse zu verfassen.

Natália hebt sich aufgrund der Erzählsituation ein wenig ab, da es sich um eine autodiegetische Erzählerin handelt, die ein Tagebuch verfasst. Sie begibt sich demnach mehr in einer Auseinandersetzung mit sich selbst als mit weiteren Figuren auf die Suche nach personalen und kollektiven Identitätsmodellen. Nachdem der Mörder ihrer Eltern, die sich in der politischen Opposition gegen die Diktatur in Portugal in Algerien befanden, sie als Neugeborenes am Leben gelassen hatte, wächst sie bei ihren Großeltern auf. Nach deren Tod sieht sie sich mit eigenen und fremden Erinnerungen konfrontiert und der Frage, aus welcher Vergangenheit sie ihre Identität zu konstruieren bereit ist. Natália geht eine Beziehung zu Fátima ein, der Ziehtochter ihres Großvaters, in der sich auch ihre Identitäten verwischen.

Die Vorbemerkungen zum Prosawerk Helder Macedos deuten bereits an, dass die Texte sowohl die mit der différance fassbaren Taktik, die vermeintliche Grenzen entschärft, als auch narrative Verfahren zur Identitätskonstruktion ← 14 | 15 → aufgreifen, worauf sich die Zusammenführung aus Theorien stützt, die der folgende Abschnitt einführen wird.

1.2  Theoretischer Rahmen und Aufbau

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Konstruktion von Identitäten in den Romanen Helder Macedos, worin bereits die Annahme enthalten ist, dass Identitäten erst erschaffen werden müssen. Von besonderer Bedeutung ist der Aspekt der narrativen Konstruktion von Wirklichkeit und von Identität. Marta in Sem Nome und Lenia Nachtigal in Tão longo amor tão curta a vida veranschaulichen beispielsweise insbesondere die ausschließlich sprachliche Konstruktion von Figuren und Identitäten in Romanen, da sie nicht als Figuren auftreten, sondern aus der Erinnerung oder Phantasie anderer Figuren (sprachlich) erschaffen werden. Dennoch stellen sie zentrale Elemente dar, die an der Identitätskonstruktion der sie erzählenden Figuren beteiligt sind. Diese müssen sich in einer Welt zurechtfinden, in der Wahrheit und Fiktion sich derart vermischen, dass es unmöglich wird, eine allgemeingültige Realität zu bestimmen. Darüber hinaus werden multiperspektivische und nicht-lineare Erzählverfahren angewendet, die wiederum eine Absage an eine auf ein bestimmtes Ziel gerichtete, einheitliche Erzählung zugunsten vieler Episoden darstellen. Wenn Identitäten ferner nicht mehr als fixe Entitäten betrachtet werden, sondern sich als prozess- und bruchstückhaft entpuppen, so spiegelt sich in diesen Tendenzen eine Entwicklung wider, die bereits in der Moderne einsetzte und sich in der sogenannten Postmoderne radikalisierte (Knipp 1998: 51–52). Die knappe Skizzierung soll lediglich als Orientierung fungieren. Denn zu welcher Strömung die Romane zu rechnen sind, hat unweigerlich Auswirkungen auf die Identitätsmodelle, die ihnen zugrunde liegen. Identitätskonzepte sind in einem historischen und kulturellen Kontext verortet (vgl. Hall 1999: 396–399) und daher wandelbar. Innerhalb verschiedener Epochen sind zusätzlich verschiedene Identitätsdiskurse zu verzeichnen, die zu einer unüberschaubaren Fülle an Publikationen zu dem Thema führen. Die Auswahl der der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Identitätstheorien orientiert sich daher an den zu untersuchenden Texten. Dabei erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Postmoderne und den ihr zuzuordnenden Identitätsmodellen aufgrund der bereits erwähnten Textelemente sinnvoll. Der Schwerpunkt liegt auf Jacques Derridas différance, narrativen Identitäten und der identitätsstiftenden Funktion von Literatur. Die entsprechenden Ausführungen im zweiten Kapitel dienen als theoretischer Ausgangspunkt für die Textanalyse. ← 15 | 16 →

Der Zusammenhang zwischen der Philosophie der Postmoderne und den daraus resultierenden Identitätstheorien zeigt, dass Identitäten in einer Wechselbeziehung zu der sie umgebenden Welt gebildet werden. Daher müssen vorab die Bedingungen für die Identitätskonstruktion beleuchtet werden. Diese resultieren aus zwei Umständen: Die (erzählte) Welt, in der sich die Figuren bewegen und aus der sie personale sowie kollektive Identitäten beziehen sowie die Elemente, aus denen sie ihre Identität erschaffen. Es folgt daraus zum einen die Analyse der Textbeschaffenheit und der Erzähltechniken sowie des Themenkomplexes Erinnerung und Gedächtnis. Zunächst wird der Fokus auf einigen in den Romanen verwendeten Erzählstrategien liegen. Dabei soll das Erzählen an sich beleuchtet werden, das unter Verdacht steht, die Lesenden durch Illusionsbildung und kohärente Erzählmuster zu manipulieren und ihnen ein Weltbild aufzuzwingen. Die Romane Helder Macedos nutzen aus diesem Grund Techniken der Illusionsverhinderung, die dazu beitragen, die Frage nach Wahrheit und Wahrheitsbildung zu stellen. Wird das Erzählen in Frage gestellt, so wirkt sich dies auch auf die Vermittlung des Erzählten aus. In Zusammenhang mit der Rolle der Erzählinstanz steht das Erzählen aus verschiedenen Perspektiven. Es kommt klar zum Ausdruck, dass es sich bei der eigenen Sichtweise nur um eine von vielen möglichen handelt, indem das Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln wiedergegeben wird bzw. die Figuren zu Erzählenden werden. Auch das multiperspektivisch strukturierte Erzählen, das metafiktionale und intertextuelle Bezüge umfasst, macht durch eine vielschichtige Textstruktur auf die verschiedenen Zugänge zur Realität bzw. auf ihre Konstruiertheit aufmerksam. So postulieren die Romane eine narrative Vermittlung der Welt, woraus folgt, dass auch Identitäten narrativ gebildet werden.

Details

Seiten
254
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631729656
ISBN (ePUB)
9783631729663
ISBN (MOBI)
9783631729670
ISBN (Hardcover)
9783631729649
DOI
10.3726/b11515
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juli)
Schlagworte
Nelkenrevolution Postkolonialismus Identitätskonstruktion Poststrukturalismus Postmoderne Literaturanalyse
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 254 S.

Biographische Angaben

Isabel Francisco (Autor:in)

Isabel Francisco hat Portugiesisch und Geschichtswissenschaft in Hamburg und Lissabon studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg, wo sie auch promoviert wurde.

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