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Nazi-Täterinnen in der deutschen Literatur

Die Herausforderung des Bösen

von Simonetta Sanna (Autor:in)
©2017 Monographie 332 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie verbindet mit der Thematisierung des NS-Vernichtungsapparates und Frauen, die darin als Protagonistinnen wirkten, ein doppeltes Skandalon. Die Autorin untersucht die Werke von Stephan Hermlin, Hans Lebert, Bernhard Schlink, Lukas Hartmann und Helga Schneider. Diese ziehen schuldige Frauen nachträglich zur Rechenschaft, lassen ihnen gegenüber jedoch einen nicht-ausgrenzenden Sinn der Gerechtigkeit gelten. Aus der Erzählperspektive regt gerade die Unmöglichkeit der Vergebung das Interesse an, die Verschränkungen von Gut und Böse, Opfer und Täter wahrzunehmen. Das erfordert umfassende kognitive Fähigkeiten auch beim Leser. Das Buch fasst abschließend den Beitrag des Romans zur Aufarbeitung der Vergangenheit zusammen. Die Autorin geht hierbei der Frage nach, inwieweit die Erfahrung des Negativen zur Selbsterkenntnis des Menschen und damit auch zur Hinwendung zum anderen Menschen beiträgt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Bernhard Schlink, Der Vorleser: die Aufarbeitung von Schuld
  • 1. Einleitung
  • 2. Zwei Generationen im Vergleich
  • 3. Michael Berg: der erste Teil
  • 3.1. Familie und Herkunft
  • 3.2. Die Begegnung mit Hanna
  • 4. Michael Berg: der zweite Teil
  • 4.1. Die Erfahrung von Achtundsechzig
  • 4.2. Der Prozess: Michael, Hanna, die Repräsentanten der Generation der Väter
  • 5. Michael und die Auflösung seiner Beziehung zu Hanna: der dritte Teil
  • 6. Hanna
  • 6.1. Die Begegnung mit Michael im ersten Teil
  • 6.2. Der Prozess im zweiten Teil
  • 6.3. Hanna im Gefängnis im dritten Teil
  • 7. Die Poetik des Romans, die Lektüre und die Schrift
  • II. Lukas Hartmann, Die Frau im Pelz: im Niemandsland des Zweifels
  • 1. Einleitung
  • 2. Die Handlung
  • 3. Die Protagonistin und ihre Geschichte
  • 3.1. Die Kindheit in Adelboden
  • 3.2. Bern, London, München, Berlin und Paris
  • 3.3. La Roquette – Ravensbrück
  • 3.4. Ravensbrück
  • 3.5. Gefängnis und Selbstmord
  • 4. Der Hamburger Prozess zwischen Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit
  • 4.1. Der Konsul
  • 4.2. Die anderen Figuren
  • 5. Die Schweiz und die Funktion der Literatur
  • III. Stephan Hermlin, Die Kommandeuse: an den ursächlichsten Quellen von Gewalt
  • IV. Helga Schneider, Lass mich gehen: individuelles Schicksal und kollektive Dimension
  • 1. Einleitung
  • 2. Die Handlung
  • 3. Die Erinnerungen der Tochter
  • 4. Die Erinnerungen der Mutter
  • 5. Das letzte Treffen von Mutter und Tochter
  • 6. Die biografische und ästhetische Aufarbeitung
  • V. Hans Lebert, Der Feuerkreis: das Polemos Prinzip
  • 1. Einleitung
  • 2. Polemos, der Konflikt zwischen den Protagonisten
  • 3. Der Raum und die Phasen der Handlung
  • 4. Hildes ‚weite Reise‘ zwischen Schuld und Sühne
  • 4.1. Die Kinder: ihr Kind
  • 4.2. Die Jüdin: die Zwillingsschwester
  • 4.3. Franz: der Halbbruder
  • 4.4. Das Sühneopfer
  • 5. Das thematische Beziehungsgeflecht
  • 5.1. Die Elternimagines
  • 5.2. Die Beziehungen zwischen Österreich und Deutschland
  • 5.3. Die Figuren Wotan und Christus
  • 6. Die ästhetischen Intentionen
  • VI. Nazitäterinnen in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit: Drei Thesen zu Roman und Gewalt
  • 1. Die Produktivität des Negativen
  • 2. Die literarischen Verfahren und die drei Phasen der Rezeption
  • 2.1. Der experimentelle Ansatz
  • 2.2. Der systematisierende Reflexionsvorgang
  • 2.3. Bilder fortdauernder Erkundung
  • 3. Im Erfahrungsfeld der Gewalt: das gesellschaftliche Anliegen der Kunst
  • Bibliografie
  • Namenregister
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Es gibt Tatsachen, die nicht gemildert werden können oder die man nicht „wiedergutmachen“ kann, weil sie schlechthin Folgen des Bösen sind. Unter diesen treten in der jüngeren Geschichte vor allem die Verbrechen des Nationalsozialismus gegen die Menschlichkeit mit deren zahllosen einzelnen Opfern hervor. Obwohl die Einbuße an Menschlichkeit und die Überschreitung aller moralischen Grenzen nicht nur Deutschland betreffen, sind sie doch zuallererst ein Kainsmal in der deutschen Vergangenheit. So verwundert es nicht, dass gerade die Deutschen sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, fast stellvertretend für alle anderen Nationen. Besonders seit 1968 hat sich Deutschland intensiv um die Aufarbeitung der „braunen Jahre“ bemüht, aber auch Trauerarbeit geleistet. Auf diese Weise hat es noch einmal den Nachweis erbracht, dass nur die Rekonstruktion jener historischen Epoche, jener traumatischen Erfahrung, die die Generation der Großeltern, der Eltern und Kinder betroffen hat, es ermöglicht, sich der Gegenwart mit wachen Sinnen zu öffnen, statt gleichsam im ‚Bauch eines Wahlfisches‘ weiterzuleben, als wäre man von der Vergangenheit verschluckt.

Die folgenden Seiten werden die Erinnerungen an die zwölf Jahre des Hitler-Regimes, einer hoffnungslos bösen historischen Periode, aus zweifacher Sicht aufgreifen. Es geht um die literarische Darstellung von Frauen in der Rolle aktiver Nazi-Täterinnen in Romanen und Erzählungen von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Unser Diskurs verbindet somit zwei Wirklichkeiten, kausal in dem unheilvollen gesellschaftlichen Irrweg verknüpft: auf der einen Seite der Nationalsozialismus in seiner Mischung aus Barbarei und instrumenteller Rationalität, im Herzen Europas, gleichwohl auf parlamentarischem Wege zur Herrschaft gelangt und insofern eine der einschneidendsten Krisen der modernen Zivilisation; auf der anderen Seite Frauen als Protagonisten des NS-Vernichtungsapparates, hasserfüllt, gewalttätig, Zwietracht verbreitend – eine Rolle, die mit dem traditionellen Bild der Frau als Quelle von Zärtlichkeit, Fürsorge und Harmonie extrem kontrastiert, Frauen, die ihren wehrlosen Opfern Gewalt antun.

Folgende fünf Werke – vier Romane und eine Erzählung, deren Thema die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ist – werden hier nicht chronologisch, sondern in thematischer Folge vorgestellt: Der Vorleser(1995) von Bernhard Schlink, vor 1990 westdeutscher Autor; Die Frau im Pelz (1999) des Schweizers Lukas Hartmann; die Erzählung Die Kommandeuse (1954) von Stephan Hermlin, ehemals ostdeutscher Schriftsteller; Lass mich gehen, Mutter (2001) von Helga ← 11 | 12 → Schneider, österreichisch-deutsche, in Italien eingebürgerte Autorin, deren Roman zuerst auf Italienisch und später auf Deutsch unter dem Titel Lass mich gehen (2003) erschien; und schließlich Der Feuerkreis (1971) des österreichischen Schriftstellers Hans Lebert. Sowohl Hartmann mit Carmen Mory wie auch Hermlin mit Hedwig Weber alias Erna Dorn beziehen sich auf seinerzeit existierende Personen, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Tode verurteilt wurden. Ausgewählt wurden Werke von Autoren aus verschiedenen deutschsprachigen Ländern mit deren heterogenen historisch-sozialen Kontexten. Mithin eröffnen sich fünf unterschiedliche Perspektiven der Aufarbeitung und angestrebten Bewältigung einer Vergangenheit, die nicht vergehen will – sowohl seitens der Autoren wie bei den Protagonistinnen ihrer Werke.

Die Hauptgestalten sind weitestgehend von ihrer schuldhaften Vergangenheit bestimmt, die bei einigen eine Entwicklung auslöst, während andere deren Opfer bleiben. Das Hineinwirken der dunklen Vergangenheit in die Gegenwart oder die Erinnerung daran ermöglicht vor allem der Protagonistin bei Hans Lebert, die ‚weite Reise‘ zu sich selbst anzutreten, sich mit ihrer Schuld zu konfrontieren und also ihr Leben zu ändern. Als eine wilde, grausame Frau, wie sie es in der NS-Zeit war, erlebt sie nach dem Krieg eine unerwartete Wiedergeburt, die ein großer Künstler wie Lebert glaubwürdig zu gestalten vermag, auch weil er die Gestalt nicht als ‚Feindin‘, sondern – wie wir sehen werden – als ‚Verwandte‘ betrachtet. Auch in Der Vorleser von Bernhard Schlink gelingt es der Hauptgestalt Hanna, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, doch – im Gegensatz zu Leberts Hildegard, die mit ihrem Bruder einen wechselseitigen Reifeprozess durchläuft – findet sie in dem Geliebten keinen Partner, mit dem sie die Qualen ihres Gewissens teilen kann. Im Zuge der allgemeinen westdeutschen Entwicklung flüchtet sich dieser eher in ein normatives ethisches Konzept und konzentriert sich ansonsten auf seinen sozialen Erfolg. Vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit und in ihre persönlichen Widersprüche verstrickt kennt Lukas Hartmanns Carmen Mory-Gestalt allein die Flucht nach vorn, d.h. die Orientierung auf ein rundum erfolgreiches Selbstbild, welches so von Licht überflutet ist, dass es keinen Schatten zu werfen scheint. Nur einmal löst sie sich von ihrem Selbstanspruch, im Mittelpunkt zu stehen: Als Gefangene im Lager verzichtet sie darauf, sich gegenüber ihrem eigenen Schmerz und dem der anderen Inhaftierten zu verteidigen. Im Gegensatz dazu ähneln die Protagonistinnen von Helga Schneider und Stephan Hermlin einander in ihrer verbissenen Treue zur Vergangenheit, dabei jeglicher Individualität beraubt, überzeugt vom Recht der „Herrenmenschen“ auf unbegrenzte Machtausübung, wie sie ihnen vorgelebt worden ist. Helga Schneiders Tochter-Gestalt setzt sich der Unsinnigkeit der Welt ihrer Mutter, einer noch ← 12 | 13 → immer überzeugten NS-Anhängerin, aus, ohne ihren Bedürfnissen die Aufmerksamkeit zu entziehen, stellt sich so über den Hass, der deren persönliche und auch die kollektive Vergangenheit heimgesucht hat. Auch die Kommandeuse, unfähig, ihre Vergangenheit zu überdenken und sich demzufolge zu wandeln, wird im Moment ihres Todes in ihrer Schwäche als Mensch fassbar. Diese schuldigen Frauen in eine umfassende Schicksalsgemeinschaft einzugliedern ist ein Bekenntnis zur Zivilisation, zum Potenzial der Würde des Menschen. Mit diesem Bekenntnis stellen sich die Schriftsteller der Verantwortung gegenüber dem Bösen, arbeiten an der Ergründung von dessen aufblitzender Dunkelheit, ohne dabei neue Feindbilder aufzubauen.

Die Autoren teilen vielmehr das Bestreben, die Grenzen des Sagbaren zu erweitern und somit eine Erzählperspektive zu erschließen, die Gewalt thematisiert – verstanden als Schädigung oder Beeinträchtigung der körperlichen, seelischen und geistigen Integrität von Personen in der Aktion zwischen einem handelnden und einem erleidenden Subjekt, zwischen Täter und Opfer –, dabei aber die Praktiken der Gewalt zu desavouieren trachtet, die sich mit dem Abbruch der Kommunikation, der Abweisung des Anderen ankündigen können. Gewalt aber wird nicht ihrer Illustration wegen zur Sprache gebracht, sondern um Wege zu finden, dem verhängnisvollen Grundsatz ‚Aug um Aug‘ zu widerstehen.

Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, namentlich der Versuch, das Phänomen der Gewalt an der Wurzel zu fassen, zieht die spezifische Aufgabe nach sich, den Weg der schuldigen Frauen zu rekonstruieren – um sie sprechen zu lassen, selbst wenn sie schweigen, lügen oder ihre Schuld leugnen wollen. Die Erzähler ziehen die Frauen zur Rechenschaft, stellen sie in die unumgängliche Situation, im Nachhinein die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen. Nicht umsonst geht es in drei der fünf Werke um ein Gerichtsverfahren, während Leberts Hildegard ihrem Bruder und die Mutter von Helga Schneider ihrer Tochter ihre Verbrechen gestehen, die erste freiwillig, die zweite widerwillig: Die Hauptgestalten sind als Zeuginnen gegen sich selbst aufgerufen, im Namen einer Gegenwart und einer Zukunft, die angehalten sind, die Ursprünge (H. Arendt) ihrer gewalttätigen Handlungen zu ergründen.

Folglich vermeiden die Schriftsteller es, die Hermeneutik des Bösen ein für alle Mal festzulegen, um somit Gewalt nicht als das entlegene ausdrücklich Andere und die Gewalttätigen nicht als Monster oder abartige Psychopathen auszugrenzen. Hermlin beobachtet in seiner Gestalt zerstörende Prozesse in der menschlichen Psyche, die dazu führen, der Ratio ihre Gültigkeit abzusprechen, und ist damit Quellen des Bösen auf der Spur. Helga Schneiders Protagonistin lässt die Mutter nicht gehen, selbst wenn Ohnmachtsgefühl und Schmerz unerträglich ← 13 | 14 → werden, und vermag somit die Barriere des Ichs zu überwinden. Lebert, Hartmann und Schlink, deren Gestalten komplexer sind und somit in der Lage, Reue zu bezeugen, arbeiten nicht nur den Sinn der einzelnen Handlungen der Täterinnen heraus, sondern sind bestrebt, unsere zumeist begrenzten moralischen Urteile in Frage zu stellen (S. Sontag), um hierdurch der Integration der vielen Aspekte des Individuums in seiner einzigartigen Singularität einen Weg zu bahnen.

Diese Zielstellung bringt es mit sich, dass die Autoren bestrebt sind, diese Frauen – Nazi-Täterinnen, taub und blind gegenüber der Menschlichkeit des Anderen – in ihrer Spezifik zu erfassen, als alter, dessen Verbindung mit dem ego jedoch nicht abbricht. Besteht das Böse etwa in dem völligen Ausbleiben von wechselseitiger Empathie, so machen die fünf Romane und Erzählungen dieses Defizit für die Leser nachvollziehbar, bauen also die Mauer zwischen wir und sie ab, deren Errichtung die aktiven NS-Täterinnen ihrerseits vorangetrieben haben. Die Autoren lassen auch gegenüber diesen Frauen jenen nicht-hierarchischen und nicht-ausgrenzenden Sinn der Gerechtigkeit gelten, welchen deren zerstörerische und unreflektierte Gewaltausübung an der Wurzel zerstört hat.

Die Untaten der Protagonistinnen werden dabei nicht als bloße Reaktionen auf soziale, von außen beeinflusste Verhältnisse gedeutet. Ihr Verhalten wird vielmehr mit ihren persönlichen Bestrebungen, die ihre Handlungen bestimmen, in Zusammenhang gebracht. Diese ergeben sich aus ihren Entscheidungen zwischen den zur Verfügung stehenden denkbaren Alternativen – die allerdings nicht jede dieser Frauen durchschaut, da sie gedanklich nicht frei und damit kaum fähig sind, nach eigenem Willen und aus selbstständigem Bewusstsein zu handeln. Bei den gewaltsamen Handlungen der Täterinnen untersuchen die Verfasser stets auch die Motivation, die sie antreibt, also welchen ‚Sinn‘ sie dem jeweiligen Konflikt beimessen, den die gewalttätige Aktion lösen soll. Hierbei wird die Aufmerksamkeit auf ihre Anschauungen, Werte, Meinungen, Leidenschaften, Zwänge wie Ängste gelenkt, die als Folge ihres inneren Dialogs zur Entscheidung für die Gewalt führen. Das allerdings betrifft kaum die Kommandeuse bei Hermlin und die Mutter bei Helga Schneider, die jedwede Anordnung ihrer Oberen erfüllen, sodass ein Selbstgespräch ihnen nur lästig sein kann und jeder Sinnentwurf desavouiert wird. Über die unmittelbaren Motivationen hinaus werden die sozialen Hintergründe der Gewaltbereitschaft untersucht, das Zusammenspiel von individuellem und kollektivem Schicksal, das in den persönlich verübten Gewalttaten zudem Aspekte der vorangegangenen gesellschaftlichen Entwicklung deutlich macht, insbesondere den Zusammenhang von unrechtmäßiger Gewaltaktion (violentia) und politischer-rechtlicher Verfügungsgewalt (potestas). ← 14 | 15 →

Es sei hinzugefügt, dass die diesen bösen Frauen gewidmete Aufmerksamkeit keineswegs ‚alles verstehen, alles vergeben‘ bedeutet. „Factum est illud; fieri infectum non potest“ (Plautus), sodass diesen Frauen Aufmerksamkeit zu schenken nicht bedeutet, ihnen ihre Schuld zu vergeben. Gerade die Unmöglichkeit der Vergebung ruft indessen das Gewissen aller am Schreib- wie am Rezeptionsprozess Beteiligten auf den Plan, als Stimulus für die weitere Auseinandersetzung mit der Schuld. Auf der einen Seite regen die genannten Romane und die Erzählung das Interesse an, die mannigfaltige Verflechtung von Recht und Unrecht nachzuspüren, ebenso die Verschränkungen von Menschlichem und Nicht-Menschlichem, Gut und Böse, Öffentlichkeit und Privatwelt, Täter und Opfer wahrzunehmen, die nicht nur zur psychischen Totalität eines Individuums gehören, sondern in ästhetischer Perspektive ein Charakteristikum der Moderne darstellen; zum anderen fördern sie die Abkehr von prinzipiellen moralischen Urteilen, die jeden Unverstandenen zum Fremden, Gegner und Feind machen und ihn aus der gemeinsamen Lebenssphäre ausschließen können. Die Werke vermitteln insofern zukunftsweisende Optionen, auch daraus resultierend, dass sie durchweg keine klare und in sich geschlossene Antwort auf die durch die Handlungsverläufe aufgeworfenen Fragen enthalten. Sie implizieren vielmehr eine Entscheidung für die literarische Erfahrung: denn, wie wir in Lukas Hartmanns Roman lesen, liegt „hinter der Grenze des Verstehens […] das Niemandsland der Zweifel, der unbeantwortbaren Fragen“, die, um eine Äußerung Schlinks vorwegzunehmen, „Möglichkeiten an[zeigen], die nicht gesehen, nicht ergriffen, nicht verwirklicht wurden“, die als „die zweite Trauer zur zweiten Schuld des Verpassens der Möglichkeiten“ hinzukommen – womit es nicht auf ewig sein Bewenden haben sollte.

Welchen Beitrag aber will oder kann Literatur zu den unbeantworteten Fragen oder zur Vermeidung verpasster Möglichkeiten leisten? Warum sollte man sich in Sachen des Bösen und der Gewalt nicht mit den von den Humanwissenschaften, der Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Politologie oder Philosophie bereits gewonnenen bedeutenden Erkenntnissen begnügen? Der Grund ist offensichtlich: Weil es gerade die Kunst, die Sprache der Erfahrung der Literatur ist, die die Selbstbeobachtung vertieft, dabei Ich-Korrekturen einleitet, dergestalt, „dass es uns widerfährt, dass es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt“ (M. Heidegger). Über die ästhetische Ansprechbarkeit, aktiviert von meisterhaften literarischen Werken, baut sich die Beziehung des Menschen zu sich selbst weiter auf, es eröffnen sich Chancen zur weiteren Selbsterkenntnis. Eine gewachsene Selbsterfahrung aber erleichtert die Hinwendung zum anderen Menschen – bis hin zu den schuldbeladenen Gestalten in den hier betrachteten Werken. Mit ← 15 | 16 → dem unendlichen Prozess der Neustrukturierung der Identität wächst mithin die soziale Kompetenz. Gerade hervorragende literarische Werke wie etwa der Roman Der Feuerkreis von Hans Lebert sind prädestiniert, die Sinneseindrücke zu fördern und somit die Fähigkeit des Lesers auszubilden, mit der Außenwelt in eine bereichernde Beziehung zu treten, dabei von pauschalen zu differenzierten Wahrnehmungen fortzuschreiten, die zur Quelle neuer, ja unerwarteter Erkenntnisse werden können. Ein ähnliches zwischenmenschliches Potenzial ergibt sich aus der emotionalen Resonanz, wie sie profunde literarische Werke zu erwecken vermögen, was nicht nur den Psychologen Donald W. Winnicott dazu führt, in der Fähigkeit eines Individuums, virtuell mit den Gedanken und Gefühlen, Hoffnungen und Ängsten einer anderen Person in Verbindung zu treten und dieser Person es ebenso in Bezug auf sich selbst zu gestatten, einen Indikator psychischer Gesundheit zu sehen.

In dieser Perspektive wird das doppelte Unheil – bewirkt vom Nationalsozialismus als System und von den konkreten NS-Täterinnen, eine Allianz des Bösen und der Schatten – zu einer außerordentlichen Herausforderung an die differenzierte individuelle Erkenntnis, bis heute. In der Tat erlaubt die Begegnung mit dem Unheil in den genannten Werken dem Leser, seine eigenen Widersprüche zu erfahren und also die seiner Mitmenschen. Weitaus bequemer aber ist die dichotome Trennung zwischen Opfer und Täter, Gut und Böse, die das Vertrauen in die Vernunft bestärkt und daher die Richtigkeit des eigenen Wertesystems bekräftigt. Doch für die Autoren ermöglicht erst die Erfahrung der menschlichen Komplexität, in der sich Licht und Schatten begegnen, sich mit den eigenen Widersprüchen auseinanderzusetzen und sie ertragen zu lernen. Das Potenzial der Gewalt wird auf diesem Weg abgetragen, sodass der Rezeptionsvorgang nicht nur Gewalt im menschlichen Habitus konstatiert, sondern deren zerstörerische Kräfte schwächt, denn „jedesmal, wenn man wirklich aufmerksam ist, [wird] etwas Böses in einem zerstört“ (S. Weil).

Die Werke von Bernhard Schlink, Lukas Hartmann, Stephan Hermlin, Helga Schneider und Hans Lebert verfolgen auf ihnen gemäßen Wegen die etwa gleichen Ziele: die eigene Identität zu öffnen und immer reicher auszustatten, namentlich durch die Fundierung einer individuellen Ethik, d.h. die „Fähigkeit, Richtiges vom Falschen, Schönes vom Häßlichen zu unterscheiden“, wodurch eine Gemeinschaft von Individuen entstehen kann, die das Gefühl ihrer Weltzugehörigkeit teilen. Nur eine solche Gemeinschaft böte eine Chance, „in jenen seltenen Augenblicken, in denen alles auf dem Spiel steht“, Katastrophen zu verhindern (H. Arendt). In der Tat, wie die fünf Protagonistinnen unserer Romane und der Erzählung der Nachkriegszeit beweisen, begünstigt das Fehlen eines ← 16 | 17 → persönlichen Gewissens und damit der Urteilsfähigkeit die Anpassung des Individuums an anonyme soziale Normen. Das seelische Defizit schürt Machtfaszination und bedingt das Fehlen von moralischen Skrupeln, die zu einer radikalen Herabwürdigung und Missachtung, zur Marginalisierung und Entmenschlichung von Outgruppen führen können. Der Weg zur Reintegration in ein menschliches Miteinander ist für einige Protagonistinnen ein schwerer tiefgreifender Prozess, andere verbleiben auf ihren inhumanen Positionen. Der Leser wird Zeuge beider Alternativen und in seinen ethischen Begriffen wie in seinem Selbstverständnis herausgefordert.

Mit dem Rezeptionsprozess geht die ständige Fortführung des Dialogs mit sich und dem anderen in uns und außerhalb von uns einher. Somit kann der Leser die eigenen verwerflichen Aspekte auf die Nazi-Frauen, die er als etwas Fremdes rezipiert, übertragen, indem er sie dazu gebraucht, das, was er verachtet, in ihnen abzuweisen. Regungen, die ihm unerträglich erscheinen und die er deshalb als Bedrohung erlebt, Anmaßung, Zorn, Neid, Trägheit, Schwäche finden in den Täterinnen ihren abstoßenden Ausdruck, ohne dass der Empfänger zunächst zwischen der eigenen inneren und der von anderen ausgehenden Negativität unterscheidet. Dennoch arbeitet der komplexe Vorgang der Rezeption darauf hin, den Schutzreflex der Wahrnehmungsabwehr weitgehend außer Kraft zu setzen. Der Rezipient gelangt in eine Bewusstseinslage, in der er die defensive Spaltung, die die Rede und Gegenrede zwischen den verschiedenen Aspekten seiner selbst auf den Anderen verlagert, zu überwinden beginnt, weil sie von dem Anderen wie von einem Spiegel zu ihm selbst zurückprallt. Er erlebt in dieser Weise eine Erweiterung seiner Persönlichkeit durch das, was Freud Nachträglichkeit nannte, d.h. im Leser vollzieht sich eine ‚nachträgliche‘ Enthüllung der eigenen verdrängten Aspekte, die eine Nähe zur Biografie des Anderen schaffen. Auch Empathie zeigt sich zumeist nur gegenüber denjenigen, die uns nicht ähneln, sodass Theodor W. Adorno von der archaischen Egozentrik des Subjekts sprechen kann, das – unfähig, dem anderen Menschen in seiner Verschiedenheit und seinem Anderssein zu begegnen – diesen vereinnahmt, dadurch dessen Ich samt seinem Daseinsraum löscht. Der Lektürevorgang setzt mithin auch die notwendige Differenzierung voraus, die Formen der bedingungslosen und entindividualisierten Vereinnahmung überwindet, wie sie autoritären Verhaltensweisen eigen ist. Wie im sozialen Kontext geht es beim Lesen darum, differenziert zu beobachten und beziehungsreich mitzudenken, gesteuert von der eigenen Reflexivität.

Wenn also das literarische Werk Werte und Verhaltensweisen des Empfängers zu ändern vermag, so wird die Interpretationspraxis, die auf den bisher entwickelten Voraussetzungen aufbaut, darum bemüht sein, den Horizont des ← 17 | 18 → Ungleichgewichts, mithin die ästhetische Differenz, aus der das Kunstwerk hervorgeht, zu betonen, einer Erfahrungsperspektive gemäß, die nicht das passive Hinnehmen, sondern das Mitvollziehen akzentuiert. Mithin verfolgen die hier vorgelegten Analysen nicht das Ziel, eine „Topologie der Gewalt“ vorzulegen oder die Systementwürfe der Soziologie, Anthropologie, Philosophie und auch der Psychologie zum Thema Gewalt nachzuvollziehen, sondern sie sind darauf ausgerichtet, die spezifischen literarischen Verfahren und deren Potenzial für das weitere Durchdringen der Problematik vorzustellen. Wir werden auf die Voraussetzungen des ästhetischen Erlebnisses des Öfteren zurückkommen. Vorerst genügt der Hinweis, dass die besprochenen Werke den Leser mit unerträglichen Erfahrungen konfrontieren, verabreicht in Form von Erzählungen. Für den Leser werden im Spiegel des Werkes eigene unbewusste Bilder und latente Motivationen greifbar. Auf diese Weise zum Nachdenken angeregt, bekommt er bei der Wahrnehmung seiner Identität bereichernde Impulse, die sein Selbstbewusstsein menschlich weiter fundieren und damit seine mitmenschliche Kompetenz wachsen lassen. In diesem Sinne impliziert die ästhetische Legitimität eines jeden Werkes auch seine ethische, soziale und politische Berechtigung.

Details

Seiten
332
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631730386
ISBN (ePUB)
9783631730393
ISBN (MOBI)
9783631730409
ISBN (Hardcover)
9783631730379
DOI
10.3726/b11567
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Hermeneutik des Bösen und der Gewalt Vergangenheitsbewältigung heute Frauen als Täterinnen Erfahrung des Negativen Ich-Befragung im Roman-Behälter Literatur und Gesellschaft
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 332 S.

Biographische Angaben

Simonetta Sanna (Autor:in)

Simonetta Sanna ist Professorin für Deutsche Literatur an der Universität Sassari/Sardinien. Neben Aufsätzen zur Aufklärung, Romantik und zur zeitgenössischen Literatur, hat sie Monographien zu Lessing, Döblin, Büchner und Kafka veröffentlicht. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Arbeit mit Bildern und die Narrative des Fremden, des Wahnsinns und der Gewalt.

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