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Das verwehrte Opfer

Strawinskys biblisches Alterswerk «Abraham and Isaac» mit einem Blick zurück auf «The Flood»

von Aloyse Michaely (Autor:in)
©2017 Monographie 174 Seiten

Zusammenfassung

Die biblische Kantate «Abraham and Isaac», ein Werk über die Kraft des Glaubens, handelt von dem alttestamentlichen Vater, der bereit ist, auf göttliche Anweisung hin seinen einzigen Sohn zu opfern. Wenn Strawinskys späte Vertonung sein wahrscheinlich am schwersten zugängliches Werk ist, so liegt das weniger am Stoff, der durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Anstoß erregt hat, als an der musikalischen Umsetzung. In ihrer kompositorischen Dichte, ihrer extremen Reduktion der Mittel und scheinbaren Emotionslosigkeit gibt sie den Genesis-Text adäquat wieder. Diese nüchtern-herbe Strenge wird noch deutlicher im Vergleich mit dem unmittelbar vorausgehenden Werk über die Sintflut («The Flood»). Dem unterschiedliche Stilebenen mischenden Text entspricht hier eine völlig andere Musik: voller Abwechslung, reich an anschaulichen Symbolen. Beide Werke verbindet Strawinskys eigener Umgang mit der Zwölftontechnik, in der sich verselbständigende Hexachorde gleichberechtigt neben die Ganzreihen treten oder diese in den Hintergrund drängen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Abraham and Isaac
  • Strawinskys Bibeltexte
  • Zur Entstehung
  • Eine schöne Erzählung?
  • Zwei verschiedene Stimmen?
  • Abraham, der „Vater des Glaubens“
  • Das Tonmaterial
  • Die Grundreihe
  • Die transponierten Hexachord-Rotationen
  • Die Vertikalen
  • Die Diagonalen
  • Gliederung
  • Die Besetzung
  • Der Text und seine Vertonung
  • The Flood
  • Die Reihenformen
  • Die Hexachordrotationen
  • Die Vertikalen
  • Symbolik
  • Der Text
  • Gliederung
  • Die Darstellung des Chaos
  • Die Jakobsleiter
  • Das Genesis-Rezitativ
  • Die Flut (VI. Satz)
  • Die Himmlischen und die Irdischen
  • Die Stimme Gottes
  • Der Teufel
  • Music of the densest kind
  • Literatur
  • Reihenübersicht

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Abraham and Isaac

Strawinskys Bibeltexte

Strawinskys geistliche Werke, die sich – ungleichmäßig – über den Zeitraum von 1926 (Pater noster1) bis 1967 (Requiem Canticles2) verteilen, verwenden mehrheitlich Bibeltexte, mit einem deutlichen Übergewicht des Alten Testaments gegenüber dem Neuen. Der Hauptanteil fällt auf erzählende Texte: Schöpfungsbericht, Sündenfall, Sintflut, Turmbau zu Babel, Isaaks Opferung (Altes Testament), zu denen nur noch die Stephanus-Episode aus der Apostelgeschichte (Neues Testament) kommt.3 ← 7 | 8 →

    Altes Testament Neues Testament
1930 Psalmensinfonie4 Ps 39, 13-145;
Ps 40, 2-4;
Ps 150
 
1944 Babel Genesis 11, 1-9  
1955 Canticum sacrum Deuteronomium 6, 5; Markus 9, 23-24;
    Ps 116, 10; Markus 16, 15. 20
    Ps 125, 1; 130, 5-6; 1 Johannes 4, 7
    Hoheslied 4, 16; 5, 1  
1958 Threni Klagelieder 1, 3 und 5
(in Auszügen)
 
1961 A Sermon, a Narrative and a Prayer   Apostelgeschichte 6-7
(in Auszügen);
Römer 8, 24-25;
Hebr 11, 1; 12, 29
1962 The Flood Genesis 1, 9-11. 20-22.
24. 26 (in Auszügen)
[Schöpfung];
Anlehnung an Genesis 3
[Sündenfall];
Anlehnung an
Genesis 6, 13-9, 17
[Sintflut]
 
1963 Abraham and Isaac Genesis 22, 1-19  

Diesen Vertonungen gingen zwei gescheiterte Anläufe zu einem biblischen Werk voraus. 1914 wollte Jean Cocteau Strawinsky für ein Ballett mit dem Titel David ← 8 | 9 → gewinnen6, stieß damit aber auf wenig Interesse: „I never did know exactly what Cocteau had in mind about David […] I think David was biblical, and at that time I avoided anything biblical.“7 Aus dem „never-to-be-realized ballet“8 wurde dann – in abgewandelter Form – Parade mit der Musik von E. Satie (1917).9

Dass es 1938, auf Anregung von Ida Rubinstein, nur „fast“ zu einer Zusammenarbeit mit Paul Claudel an dem alttestamentlichen Buch Tobit kam – „Claudel (with whom […] I nearly collaborated on a musical treatment of the Book of Tobit)“10 –, lag erneut an Strawinsky, dem die Theaterbearbeitung eines Bibelstoffes aufgrund seines orthodoxen Glaubens Unbehagen bereitete11, und der stattdessen den Prometheus-Stoff vorschlug12, wozu Claudel wiederum „um ← 9 | 10 → nichts auf der Welt“ bereit war.13 Zu dessen Theaterstück L’Histoire de Tobie et de Sara schrieb dann 1968 Darius Milhaud eine Bühnenmusik, nachdem er vorher (1962) bereits einen Auszug daraus vertont hatte.14 Gut zwanzig Jahre später kehrte Strawinsky, angeregt von dem mit ihm befreundeten Geistlichen James McLane, dem Widmungsträger des dritten Satzes aus A Sermon, a Narrative and a Prayer, zum Buch Tobit zurück – „he mentioned that the story of Sara and Tobias from the Book of Tobit intrigued him“15, um sich dann doch für Noach und die Sintflut zu entscheiden.

Nicht ausgeführt wurde das Vorhaben, eine Markuspassion zu schreiben (1955), auch nicht die Idee einer Vertonung der Sieben letzten Worte, angeregt durch die Anfrage des Festival of Faith and Freedom nach einer „oratorio-symphony“ über ein neutestamentliches Thema (Februar 1959)16.

Dreimal greift Strawinsky in seinen Bibeltext-Vertonungen zur lateinischen Sprache, immer zur Vulgata-Übersetzung (Psalmensinfonie, Canticum sacrum, Threni); dreimal zum Englischen der King James Bible (Babel; A Sermon, a Narrative and a Prayer, The Flood). Die einmalige Ausnahme bringt das letzte biblische Werk, Abraham and Isaac, das den hebräischen Urtext verwendet. ← 10 | 11 →

Zur Entstehung

Am Anfang stand das klangliche Moment – „the discovery of Hebrew as sound“17 –, verbunden mit Strawinskys Wunsch, seine „Dankbarkeit und Bewunderung“ gegenüber dem Staat Israel auszudrücken, dem das Werk gewidmet ist18. Da der Komponist das Hebräische weder sprechen noch lesen konnte – „Shalom is the only Hebrew word I know“19 –, war er auf die Hilfe seines Freundes Sir Isaiah Berlin und die des Komponisten Hugo Weisgall20 angewiesen. Das Hauptverdienst gebührt Isaiah Berlin, der Strawinsky (am 20. Oktober 1961 in Oxford) Bibelstellen auf Hebräisch vortrug und übersetzte und ihm anschließend „eine mit richtigen Akzenten versehene Kopie der Geschichte von Abraham und Isaak in russischer Transliteration“ versprach21, die, bereits am 7. November verschickt, ← 11 | 12 → den Adressaten (Robert Craft) erst am 23. Dezember erreichte.22 Zugleich vermittelte I. Berlin den Kompositionsauftrag aus Israel, den er am 12. Januar 1962 brieflich bestätigte.23 Mit der Komposition begann Strawinsky am 2. August 1962 (in Santa Fe)24, er beendete sie am 3. März 1963 (in Hollywood).25 Zwischen diese beiden Termine fiel Strawinskys erste Israelreise (vom 29. August bis zum 7. September 1962).26 Die Uraufführung, unter der Leitung von Robert Craft und in Anwesenheit des Komponisten, fand am 23. August 1964 in Jerusalem statt.27 Über die Rezeption des Werkes bei einem Festival-Publikum, dem Strawinskys Spätstil noch völlig unbekannt war, machte sich Isaiah Berlin bereits im voraus keine Illusionen: „The mere thought that he [Strawinsky] had written something for them and to be presented there would excite them all so immeasurably that the actual content of the music would play relatively little part, especially if it lasts for twelve minutes, even if it is repeated again.“28 Strawinsky sah es nicht anders: „They have not been able to make any secret of the fact that the whole festival (which depends on my concert) was put together on my name and not on that 12–minute piece of serial music which is both unintelligible and uninteresting [to them], except for the dedication.“29

Möglicherweise kam Strawinsky die Idee einer Bibeltextvertonung in hebräischer Sprache bereits einige Monate vor und unabhängig von der Leseprobe ← 12 | 13 → seines Freundes Isaaih Berlin, angeregt durch Schönbergs De profundis (op. 50b), die Vertonung des 130. Psalms in hebräischer Sprache.30 Von diesem Werk, entstanden 1950 und – wie Strawinskys Kantate – „dem Staat Israel“ gewidmet, erbat er sich am 22. Mai 1961 eine Tonbandaufnahme31, und knapp zwei Jahre später empfahl er für den Partiturdruck von Abraham and Isaac Schönbergs Partitur als Vorlage, „how the Hebrew text and the Latin transliteration beneath the music has been resolved“32.

Das Hebräische ist wesentlicher und unabdingbarer Bestandteil der Komposition: das Werk darf nicht in einer Übersetzung gesungen werden, eine Schwierigkeit, die der Sänger in Kauf zu nehmen hat.33Abraham and Isaac is to be sung only in Hebrew, as Oedipus Rex is sung only in Latin. It was composed this way and cannot be translated.“34

Dass die Wahl gerade auf die Erzählung von der (verhinderten) Opferung Isaaks fiel, mag ein äußerer Umstand begünstigt haben: In der Ausgabe mittelalterlicher Miracle Plays, aus der der Hauptanteil des Textes für The Flood stammt35, folgt unmittelbar auf Noah’s Flood das Stück Abraham and Isaac, wie in Strawinskys Spätwerk auf The Flood (1962) die Kantate Abraham and Isaac (1963) folgt.

Wurde die Geschichte von Abraham und Isaak vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit häufig literarisch verarbeitet – Abraham and Isaac (England, 15. Jahrhundert), Abramo e Isacco von Feo Belcari (Florenz 1449); Abraham sacrifiant von Théodore de Bèze (1550), aber auch noch im religiösen Drama Abraham und ← 13 | 14 → Isaak (1776) des Goethe-Zeitgenossen Johann Caspar Lavater36 –, so hat sie im 20. Jahrhundert vor allem Komponisten angezogen. Zuerst Ildebrando Pizzetti, dessen Sacra Rappresentazione di Abram e d’Isacco (1917) auf das Geistliche Spiel von F. Belcari zurückgreift, während Wolfgang Fortner für seine Oratorische Szene Isaaks Opferung (1952) – wie Strawinsky – den biblischen Text wählt, allerdings in der Vulgata-Übersetzung.

Details

Seiten
174
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631731666
ISBN (ePUB)
9783631731673
ISBN (MOBI)
9783631731680
ISBN (Paperback)
9783631731697
DOI
10.3726/b12097
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Zwöftontechnik Hexachordrotation(en) (musikalische) Symbolik Textvertonung Spätstil
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017., 174 S., 41 s/w Abb.

Biographische Angaben

Aloyse Michaely (Autor:in)

Aloyse Michaely war Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Lübeck.

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Titel: Das verwehrte Opfer
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