Lade Inhalt...

Friedrich Meinecke und das Problem des Historismus

von Wolfgang Kämmerer (Autor:in)
©2014 Dissertation 373 Seiten

Zusammenfassung

Die Arbeit befasst sich mit dem Historismusverständnis des deutschen Historikers Friedrich Meinecke (1862–1954) und stellt dessen Konzeption in den Kontext der Diskussionen in Deutschland zwischen 1870 und 1933. Der zeit- und ideengeschichtliche Hintergrund von Meineckes Denken wird ebenso dargestellt wie Meineckes Biographie sowie seine zentralen Werke und Gedanken. Meineckes Buch Die Entstehung des Historismus von 1936 bildet einen Endpunkt der Debatten um die Krisis des Historismus, die seit Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben die geisteswissenschaftlichen Disziplinen beschäftigte. Um das Besondere an Meineckes Historismusverständnis akzentuieren zu können, wird es in den Horizont der damaligen Debatten um die «Krisis des Historismus» gestellt und mit drei bedeutenden Denkern der damaligen Zeit konfrontiert: Max Weber, Ernst Troeltsch und Otto Hintze. In diesem Kontext zeigt sich das Besondere und Bleibende an Meineckes Historismusverständnis deutlich.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • 1. Vorwort
  • 2. Einleitung
  • 2.1 Die ‚Krisis des Historismus‘: Begriff, Phänomenund zeitgeschichtlicher Kontext
  • 2.2 Die ‚Krisis des Historismus‘ bei Weber, Troeltsch und Hintze Charakterisierung ihres Historismusverständnisses, ihres Problembewusstseins und ihrer Lösungsvorschläge
  • 2.2.1 Weber
  • 2.2.2 Troeltsch
  • 2.2.3 Hintze
  • 3. Hauptteil Meinecke und der Historismus
  • 3.1 Person und Werk
  • Exkurs I: Zu Meineckes Konzept der Geistes- bzw. Ideengeschichte (S. 123–S. 126)
  • 3.2 Meineckes Beziehungen zu Weber, Troeltsch und Hintze
  • 3.3 Kritik der naturrechtlichen Aufklärung und die Entstehung des Historismus
  • 3.4 Relativismus – ein Problem für Meinecke?
  • 3.5 Zwei Antworten Meineckes auf das Problem des Relativismus: Goethes ‚positiver Relativismus‘ und eine ‚vertikale Geschichtsbetrachtung‘
  • Exkurs II: Zu Hans Barths Buch ‚Wahrheit und Ideologie‘ (S. 234–237)
  • 3.6 Historismus im Spannungsfeld von Gewissen und Religion, von Wissenschaft und Leben
  • 3.7 Kritisch-zusammenfassende Würdigung
  • Exkurs III: Zu Leo Strauss‘ Buch ‚Naturrecht und Geschichte‘ (S. 287–293)
  • 4. Schluss: Neohistoristische Tendenzen – drei Fallbeispiele: Postmoderne, Kulturrelativismus, Neue Kulturgeschichte
  • 5. Abschließende Betrachtungen
  • Literaturverzeichnis

| 13 →

1. Vorwort

Die westdeutsche Geschichtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit war durch zwei Tendenzen bestimmt: zum einen setzte zwar nach 1945 allmählich eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit ein,1 zum anderen aber knüpfte man an das Geschichts- und Methodenkonzept des älteren Historismus an.2 Während in politischer Hinsicht alles unternommen wurde, um mit tatsächlichen oder vermeintlichen bedenklichen ideologischen Traditionen des Historismus zu brechen, „dominierte auf der Ebene der Methoden und Frageansätze eindeutig die Kontinuität.“3 Mit Blick auf die Jahre nach 1945 konstatierte Schulin: ← 13 | 14 → „So könnte man zusammenfassend bei Haupt- und Sonderrichtungen für die ersten fünfzehn oder zwanzig Jahre nach 1945 von einem politisch-moralisch gezähmten Historismus sprechen.“4 Bis gegen Ende der 60er Jahre wahrte der Historismus weitgehend seine führende Stellung, erst danach verstärkten sich die Bestrebungen, den Historismus als überholtes Wissenschaftskonzept ‚auszumustern‘. Die Kritiker des Historismus subsumierten nun unter Historismus all das, was ihnen als zu überwinden galt: Kriegs-, Politik- und Diplomatiegeschichte, die Fixierung auf den Staat, auf die Nation, auf die ‚großen Männer‘, welche – angeblich – ‚Geschichte machen‘. Weiterhin lehnten die Kritiker intuitives Verstehen, das Entwicklungs- und das Individualitätsprinzip ebenso ab wie den Gedanken, dass ‚der Geist‘ oder ‚die Ideen‘ die bestimmenden geschichtlichen Faktoren seien. Weitgehende Einigkeit zwischen den Kritikern bestand darüber, dass der Historismus sowohl methodisch und thematisch als auch hinsichtlich seiner politischen Implikationen obsolet war. Damit schien das Ende des Historismus eingeläutet zu sein. Die Kritik an der traditionellen Geschichtsauffassung des Historismus wurde um die Forderung nach einer Etablierung und einer theoretischen Grundlegung einer ‚Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus‘ ergänzt. Als für die Zukunft richtungsweisendes Gegenmodell zum Historismus galt die historische Sozialwissenschaft,5 die eine ← 14 | 15 → stärkere Erforschung der Wirtschafts-, Sozial-, Institutionen- und Verfassungsgeschichte, eine Berücksichtigung von Kollektivmächten und langfristigen Strukturen und eine Einbeziehung der neueren sozial- und politikwissenschaftlichen Methoden leisten sollte. Zu dieser neuen Konzeption kam noch die Öffnung der deutschen Geschichtswissenschaft für ausländische – hauptsächlich französische und amerikanische – Strömungen sowie eine systematisch betriebene Erforschung bislang eher am Rande gebliebener Quellen, Methoden und Themen hinzu. Darüber hinaus wurde die Rezeption von bis dahin als ‚Außenseiter‘ der Zunft geltenden Historikern intensiviert, wofür beispielhaft Eckhard Kehr steht. Schließlich wurde in der interessierten Öffentlichkeit verstärkt in prinzipieller Weise über Anspruch, Bedeutung und Funktion der Geschichtswissenschaft in der Gegenwartsgesellschaft überhaupt diskutiert, wie die ‚Fischer-Kontroverse‘ der 60er Jahre exemplarisch belegt. All das führte dazu, dass die Geschichtswissenschaft langsam ihr Profil änderte.

Die Bemühungen, die neuen theoretischen Konzepte im Rückgriff auf ältere Strömungen – sei es auf die Aufklärungshistorie, sei es auf die ‚Außenseiter‘ während der Epoche des Historismus – zu fundieren, steigerten jedoch zugleich das Interesse an der Geschichte der Geschichtswissenschaft und hatten zur Folge, dass der Historismus zunehmend zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand avancierte. Namentlich das Verhältnis von Aufklärung und Historismus, die Frage, wie der Historismus entstanden war, wer die maßgeblichen Wegbereiter, was die zentralen Themen und methodischen Voraussetzungen gewesen waren und ob es überhaupt so etwas wie einen einheitlichen Historismus gegeben hatte, standen nun zur Debatte. Durch die Beantwortung von solchen Fragen trugen die an diesen Themen interessierten Historiker im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einer Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte bei und sorgten auf diese Weise für eine differenzierte Vorstellung von Entstehung und Ausbildung, von einflussreichen Protagonisten, bahnbrechenden Einsichten und bleibenden Erkenntnissen des Historismus.6

← 15 | 16 →

Die vorliegende Untersuchung steht im weiten Horizont dieses skizzierten wachsenden Interesses an der Geschichte der Geschichtswissenschaft und rückt die Spätphase, die sogenannte ‚Krisis des Historismus‘, noch genauer: Meineckes Beitrag zu dieser ‚Krisis‘ in den Mittelpunkt. Unter folgenden Gesichtspunkten sollen die dafür in Frage kommenden Schriften und sonstigen Äußerungen Meineckes diskutiert werden: Warum beschäftigte sich Meinecke seit den frühen 20er Jahren mit dem Historismus, was waren seine Motive und seine Intentionen, welche Erkenntnisinteressen und -ziele verfolgte er? Welchen Stellenwert nahm der Historismus in seinem Denken ein, was verstand er überhaupt unter dem Begriff Historismus, änderte sich im Laufe der Zeit sein Verständnis von Historismus, wandelte sich sein Standpunkt dem Historismus gegenüber, und wenn ja, warum und in welche Richtung? Was intendierte er mit seinem 1936 erschienenen Buch ‚Die Entstehung des Historismus‘? Um den vollen Gehalt von Meineckes Beiträgen zum Historismus angemessen verstehen zu können, ist es erforderlich, sein Wissenschaftsverständnis, seine religiösen Überzeugungen sowie seine ethischen Überlegungen zum Gewissen einzubeziehen. Erst im Zusammenspiel dieser verschiedenen Momente erschließt sich der volle Gehalt seines Historismuskonzeptes.

Bevor jedoch Meineckes Historismuskonzept dargestellt werden soll, ist es zunächst angebracht, einige summarische Überlegungen zum Phänomen Historismus bzw. zur ‚Krisis des Historismus‘ vorzuschalten. Ferner ist es notwendig, den Kontext, in welchem er seine Vorstellungen entwickelt hat, auszuleuchten, weshalb die entsprechenden Gedanken von Weber, Troeltsch und Hintze geschildert werden und das jeweils Besondere daran akzentuiert wird. Diese vier bedeutenden Wissenschaftler standen zeitweilig in persönlichem Gedankenaustausch und kannten vielfach die Schriften voneinander. Ziel der Darstellung ist es also, Meineckkes Historismusverständnis im Rahmen der damaligen Debatte um die ‚Krisis des Historismus‘ zu rekonstruieren sowie Differenzen zu und Übereinstimmungen mit den anderen drei Autoren namhaft zu machen.

Führt man sich die Rezeptionsgeschichte7 zu Meineckes Historismusbuch vor Augen, so lassen sich grob 4 Phasen erkennen. (1.) In der Zeit unmittelbar nach ← 16 | 17 → dem Erscheinen des Historismusbuches wurde es verhältnismäßig oft und kundig behandelt, zustimmende und ablehnende Rezensionen blieben weitgehend in der Balance.8 In den meisten Rezensionen wurden Meineckes zentrale Thesen referiert, Aufbau und Inhalt des Buches kurz dargestellt und seinen geistesgeschichtlichen Ausführungen und Erkenntnissen Anerkennung gezollt. Bemerkenswert ist, wie gegenwärtig vielen der Rezensenten die Diskussionen um die ‚Krisis des Historismus‘ waren. Begrifflichkeiten wie ‚geschichtsmüde Zeit‘, ‚unfruchtbares Wissen‘ oder dass das ‚Gewordene über das lebendige Werden herrsche‘ belegen, dass die geführten Debatten um die ‚Krisis des Historismus‘ ihre Spuren hinterlassen hatten.9 Die eingehendste zeitgenössische Rezension erfuhr Meineckes Buch in der Historischen Zeitschrift. (Bd. 157, 1937, Heft 2, S. 241–266) Unter dem Titel ‚Zur Entstehung des Historismus. Gedanken zu Friedrich Meineckes jüngstem Werk‘ erschien dort ein ausführlicher Beitrag von Ernst Seeberg. Zu verweisen wäre noch auf Golo Manns weitsichtige Rezension.10 Die nächste Phase (2.) umfasst in etwa den Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende der 60er Jahre und kann verallgemeinernd als affirmative Periode bestimmt werden. Die Mehrheit der Rezensenten dieser Phase, z. B. Carl Hinrichs,11 Walter Hofer,12 Ernst Schulin,13 Ludwig Dehio,14 Hans ← 17 | 18 → Rothfels15 und Walther Goetz16 interpretierten Meineckes Auseinandersetzung mit dem Historismus vor dem Hintergrund der ‚Krisis des Historismus‘ Noch ganz selbstverständlich wurden hier Meineckes Überlegungen mit den Gedanken und Arbeiten von Nietzsche, Troeltsch oder Heussi in Zusammenhang gebracht. Als geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Beiträge fanden seine Schriften durchaus Anklang und Anerkennung. Die ‚Krisis‘ wurde zwar als Hintergrund von Meineckes Historismusstudien wahrgenommen, aber seine Vorschläge zur Bewältigung des Relativismusproblems blieben weitgehend unberücksichtigt. Das mochte auch damit zusammenhängen, dass die ‚Krisis des Historismus‘ in den Jahren nach 1945 nicht mehr die lebensweltliche Relevanz hatte, die sie noch für Troeltsch, Heussi, Meinecke und die anderen Autoren besessen hatte.17 Die Ereignisse zwischen 1933–1945 stellten dem allgemeinen Leben und auch der Geschichtswissenschaft andere Fragen und Probleme zur Aufarbeitung. Die Bedeutung der ‚Krisis‘ hatte sich verschoben: Aus einem das gegenwärtige Leben belastenden Werteproblem war ein Gegenstand der geschichtlichen Betrachtung, aus dem subjektiven Gefühl einer Bedrohung infolge einer ‚Anarchie der Werte‘ war ein ‚Objekt‘ für die Geschichtswissenschaft geworden. Gegen Ende der 60er Jahre meldeten sich dann (3.) jüngere Historiker zu Wort, die sich meist der aufstrebenden historischen Sozialwissenschaft verpflichtet fühlten und die Meineckes Denken und Werk einer prinzipiellen Kritik unterzogen und es in weiten Teilen als obsolet erachteten. Seit den späten 60er Jahren stand vor allem Meineckes politisches Denken im Zentrum der Aufmerksamkeit, während dagegen das Interesse an seinen Beiträgen zum Historismus stark nachließ. Die zunehmende Kritik an Meineckes politischem Denken überlagerte zusehends eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dessen historischem Denken. Der Nachweis von seinen angeblichen politischen Fehlein-schätzungen schien bereits zu genügen, um auch seine Beiträge zur Geschichtswissenschaft insgesamt als überholt abzutun. Bestritten wurde damit zugleich eine Eigenständigkeit des historischen Denkens, stattdessen erschien es als eine ← 18 | 19 → bloße Funktion und Widerspiegelung der politisch-sozialen Klassenlage des Historikers. Aus dieser Phase wären insbesondere das Buch ‚The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present‘18 des amerikanischen Historikers Iggers zu nennen sowie ferner noch der im Jahre 1971 publizierte Aufsatz ‚Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke‘ von Immanuel Geiss, in welchem dieser verkündete, das eine „Demontage des Meinecke-Denkmals längst überfällig“ sei.19 In der Umbruchstimmung seit den späten 60er Jahren konzentrierte sich das Augenmerk auf den Historismus im Allgemeinen und weniger auf Meinecke im Besonderen.20 Gleichwohl ← 19 | 20 → traf jede Kritik am Historismus immer auch ihn, da er als geradezu klassischer Exponent dieses kritisierten Historismus galt. Symbolhaft stand Meineckes Werk für all das, was am Historismus überwunden werden sollte. Vielen jüngeren Historikern erschien der Historismus – und damit auch derjenige Meineckkes – als methodisch, thematisch und politisch obsolet. Die nachhaltigste Kritik am Historismus erfolgte im Namen der historischen Sozialwissenschaft, mit der ein neues Kapitel der Geschichtswissenschaft und -schreibung beginnen sollte21 – damit schien auch das Ende der Rezeption von Meineckes Historismuskonzept erreicht zu sein, denn warum sollte man sich noch weiterhin mit vermeintlich unzeitgemäßen und unhaltbaren Positionen beschäftigen? Doch gleichsam im Windschatten eines stärker aufkeimenden Interesses an der Wissenschaftsgeschichte – die auch der theoretischen Selbstvergewisserung der gerade im Entstehen begriffenen historischen Sozialwissenschaft dienen sollte – wurden sowohl dem Historismus im Allgemeinen wie auch explizit Meineckes Werk erneut Beachtung zuteil. Im Zuge der Debatten darüber, wie z. B. die Grenzen zwischen Spätaufklärung und Frühhistorismus zu markieren seien, erschien es erforderlich, den Historismus einer genaueren Erforschung zu unterziehen, ihn zu präzisieren, die maßgeblichen Autoren und bahnbrechenden Schriften abermals zu studieren. Pointiert darf gesagt werden, dass der Historismus ausgerechnet in dem Moment, in welchem seine Verabschiedung im Namen einer gerade sich etablierenden historischen Sozialwissenschaft anstand, zu einem eigenständigen Forschungsobjekt der Geschichtswissenschaft avancierte. Von den frühen 70er Jahren an mehrten sich Publikationen,22 die ← 20 | 21 → sich in einem umfassenden Sinne kritisch mit der Wissenschaftsgeschichte und damit auch mit dem Historismus auseinandersetzten, und die so dazu beitrugen, die Kenntnisse vom Historismus beträchtlich zu erweitern. Überdies leistete die schärfste Kritik am Historismus noch eines, nämlich dass das Interesse an demselben nicht nachließ, sondern wach blieb und sogar zunahm. Die 4. Rezeptionsphase schließlich, die man mit dem Kolloquium ‚Meinecke heute‘ aus dem Jahre 1979 – der dazugehörige Tagungsband erschien 1981 – beginnen und bis in die unmittelbare Gegenwart währen lassen kann, muss im Kontext des oben erwähnten auflebenden Interesses an der Wissenschaftsgeschichte verstanden werden. Für das genannte Kolloquium ‚Meinecke heute‘ erarbeitete Rüsen den gedankenreichen Vortrag ‚Friedrich Meineckes „Entstehung des Historismus“ – eine kritische Betrachtung‘.23 Als weiteres Beispiel der jüngeren Meinecke-Rezeption kann noch H. W. Blanke genannt werden. In dessen voluminösem Buch finden sich unter der Kapitelüberschrift ‚Historiographiegeschichte als Affirmation des Status Quo Ante‘24 einige summarische Bemerkungen zu Meinecke. Die Abhandlungen von Rüsen und Blanke kreisen darum, die Leistungen und Grenzen von Meineckes Historismuskonzept vor dem Hintergrund der jüngeren Theoriedebatten zu erörtern und darüber hinaus zu prüfen, ob sich aus Meineckes Schriften und Positionen noch anschlussfähige theoretische und methodische Potentiale für eine moderne Geschichtswissenschaft erschließen lassen. Abschließend jetzt noch ein Blick auf zwei Autoren, die Meineckes Historismuskonzept vor dem Hintergrund der damaligen ‚Krisis des Historismus‘ vor allem daraufhin untersucht haben, wie die in der ‚Krisis‘ heftig umstrittenen Themen, namentlich das Verhältnis von Wissenschaft und Leben und das Werterelativismusproblem, von Meinecke behandelt wurden. Oexle und Wittkau sehen in den Beiträgen Meineckes zum Historismus und zum Historismusproblem unzulässige Verkürzungen und Verengungen der ← 21 | 22 → Begriffs-und Problemgeschichte.25 Meinecke sei dafür eingetreten, so deren Haupteinwand, den Begriff Historismus ausschließlich auf die Entstehung des historischen Sinnes in der ‚deutschen Bewegung‘ anzuwenden. Mit dieser folgenreichen Umdeutung aber habe er den für den Historismus zentralen Gedanken der grundsätzlichen Historisierung unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte aufgegeben. Deshalb begann für Oexle und Wittkau mit Meineckes Historismusdeutung eine „Fehlentwicklung“,26 die sie bis in die unmittelbare Gegenwart hinein andauern sehen. Infolge von Meineckes Begriffsbestimmung seien „die beiden Grundprobleme, die bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein unter dem Schlagwort des Historismus diskutiert worden waren, das Problem des Werterelativismus und, damit verbunden, die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Leben aus der Historismusdiskussion eliminiert“ worden.27 In ihren Arbeiten vermitteln beide Autoren den Eindruck, Meinecke habe das aus einem sich absolut setzenden historischen Denken entspringende Problem der Relativierung der Werte nicht erkannt, geleugnet oder eliminiert. Bereits mit ihrer Kapitelüberschrift ‚Der Verlust des Wertrelativismusproblems in der Historismusdiskussion. Begriff und Phänomen des Historismus in Friedrich Meineckes Werk „Die Entstehung des Historismus“ (1936)‘ suggeriert Wittkau, Meinecke habe das ← 22 | 23 → Relativismusproblem unterschlagen.28 In ihrem knapp gehaltenen Kapitel von sechs Seiten kommt sie zu dem weitreichenden Fazit: „Das Phänomen der umfassenden Historisierung des Denkens sowie das damit verbundene Problem der Relativierung der Werte ist in Meineckes Auffassung von Historismus nicht mehr impliziert. Meinecke löste vielmehr gerade das Wertrelativismusproblem, das die Historismusdiskussion bis 1930 als Kernproblem bestimmt hatte, völlig aus der Historismusdiskussion heraus. Die Beziehungen zwischen dem … Phänomen der allgemeinen Historisierung des Denkens und dem Problem des Historismus, die Troeltsch in das Zentrum seiner Überlegungen gestellt hatte, wurden von Meinecke nicht erkannt und in seinem Historismusverständnis nicht berücksichtigt.“29 Durch Meineckes Umdeutungen habe der Historismus das „Bedrohende und das Beunruhigende (verloren), das seit Nietzsche an ihm gesehen wurde.“ Deswegen bezeichnet Oexle Meineckes Deutung als eine „Beruhigungsphilosophie“ und konstatiert eine von diesem verschuldete Verengung des Historismus auf ein fernes und deutsches geistesgeschichtliches Thema, welches die Gegenwart nicht mehr zu beunruhigen brauche.30 Diese Wertung verkürzt in unzulässiger Weise Meineckes Problembewusstsein und resultiert m. E. aus einer ungenügenden Kenntnis des Meineckkeschen Gesamtwerkes.

In den vergangenen Jahren wurde zu Meinecke wenig publiziert. Nennenswert sind ein Aufsatzband aus dem Jahre 2006 von G. Bock und D. Schönpflug mit dem Titel ‚Friedrich Meinecke in seiner Zeit. Studien zu Werk und Leben‘ sowie ← 23 | 24 → die ebenfalls aus dem Jahre 2006 stammende Quellenedition ‚Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1911–1977‘, eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter. Aus diesen beiden Projekten ist Anfang 2012 der X. Band der Werke Meineckes hervorgegangen: ‚Neue Briefe und Dokumente‘, herausgegeben von G. Bock und Gerhard A. Ritter. Zu erwähnen ist auch noch ein Aufsatz von Walther Hofer ‚„Keine Fahnenflucht vor der Schlacht“ – Friedrich Meineckes Warnungen vor dem Nationalsozialismus‘ von 2002.

Dieser kurze Überblick über die Rezeptionsgeschichte offenbart, dass eine Darstellung über Entstehung, Ausprägung und Konsequenzen des Meineckeschen Historismusbegriffs dazu beitragen müsste, die Vorurteile, Missverständnisse, mangelnden Kenntnisse und Fehlurteile darüber auszuräumen und an diese Stelle ein ausgewogenes Gesamtbild von Meineckes Historismusverständnis zu rücken. Insgesamt leiden alle bisher vorgelegten Darstellungen zu Meineckes Historismusinterpretation darunter, dass sie den weitverzweigten Wurzeln von Meineckes Interesse am Historismus und seinen Gründen für seine langjährige Auseinandersetzung mit dem Historismus und dessen Geschichte nicht intensiv genug nachforschten und deshalb zu verzerrten und unzureichenden Ergebnissen kamen. Im Unterschied dazu sollen in der vorliegenden Arbeit Meineckes Positionen zum Historismus in umfassender Weise dargestellt und sein originärer Anteil an der Debatte um die ‚Krisis des Historismus‘ bestimmt werden. Zu fragen ist also, warum, mit welchem Ziel, auf welche Weise und mit welchen Gründen und Argumenten er in die Debatten um die ‚Krisis des Historismus‘ eingegriffen hat. Dabei lasse ich mich von der Grundeinsicht des Historismus leiten, dass das Verstehen von Meineckes Motiven und Intentionen im Vordergrund zu stehen hat. Spinozas Sentenz „Nicht lachen, nicht jammern, noch verwünschen, sondern verstehen“ kann nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Das bedeutet gleichwohl nicht, gänzlich auf kritische Anmerkungen zu verzichten und auf die Zeitbezogenheit hinzuweisen, denn adäquates Verstehen und kritische Distanzierung geraten keineswegs zwangsläufig in Widerspruch zueinander. Verstehen ist nicht gleichbedeutend mit Apologie, vielmehr ist adäquates Verstehen geradezu die unabdingbare Voraussetzung dafür, überhaupt eine fundierte Bewertung formulieren und auch begründen zu können – wobei hier Bewertung nicht bedeutet, gleichsam eine Zensur zu vergeben oder zu richten,31 sondern eher eine Einschätzung meint, was von ← 24 | 25 → Meineckes vielfältigen Arbeiten zum Historismus immer noch Bestand hat, was von diesen Forschungen auch noch für die Gegenwart von Bedeutung ist. Fraglos sind seine Darlegungen zur Geistesgeschichte auch ohne eine unmittelbare Nachwirkung auf die Gegenwart von Wert und in sich ruhende lehrreiche Glanzstücke von bleibendem Belang, gleichwohl muss aber immer wieder eruiert werden, welche Bedeutung seine darin inhärente Geschichtsauffassung heute noch hat. Eine bloße Kritik an Meineckes Auffassungen – wie es zumal in den siebziger Jahren gängig war – ohne angemessenes Verständnis ihres Gegenstandes, unterläuft diesen, bleibt ihm bloß äußerlich, trifft nicht dessen Kern und verharrt deshalb auch unter dem Niveau des Kritisierten.

1 Eine intensivere Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte der Jahre 1933–1945 begann die Geschichtswissenschaft erst gegen Ende der 1990er Jahre. Vgl. dazu etwa: Schulze, W./Oexle, O. G., Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999. Ferner: Schöttler, P. (Hrsg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, 1997. Jarausch, K. H./Hohls, R.: Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus, 2000. Zur Historiographie in der DDR nach 1945: Sabrow, M., Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949–1969, 2001. Ferner: Sabrow, M., ‚Beherrschte Normalwissenschaft‘. Überlegungen zum Charakter der DDR-Historiographie, 1998, S. 412–445. Allgemein zur Kulturgeschichte der Jahre 1945 bis Ende der 50er Jahre: Schildt, A./Siegfried, D., Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, 2009, S. 21–178.

2 Jaeger, F./Rüsen, J., Geschichte des Historismus, 1992, S. 181. Einen Überblick über Probleme und Strömungen in der Geschichtswissenschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit vermittelt: Schulze, W., Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, 1993. Zur deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945: Schulin, E. (Hrsg.), Deutsche Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1965), 1989. Mommsen, H., Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, in: Faulenbach, B. (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland, 1974, S. 112–120. Dort heißt es auf S. 115: „Das Bestreben zu sublimer moralischer Selbstkritik bei gleichzeitigem Festhalten an tradierten Werten ist für die Ausgangslage der westdeutschen Geschichtsschreibung charakteristisch und zeigt, daß keineswegs ein einschneidender Wandel erfolgt war.“ Siehe auch: Cornelißen, Chr., Der wiedererstandene Historismus. Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, 2002, S. 78–108.

3 Faulenbach, B., Historistische Tradition und politische Neuorientierung. Zur Geschichtswissenschaft nach der ‚deutschen Katastrophe‘. in: Wissenschaft im geteilten Deutschland, 1992, S. 203. Dort – S. 245–247 – auch weitere Literatur zu diesem Thema. Beckers, Th., 2001, Abkehr von Preußen. Ludwig Dehio und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. Assmann, A./Frevert, U., 1999, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Jarausch, K. H./Sabrow, M. (Hrsg.), 2002, Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945. Jordan, St, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, 2008, v. a. S. 95–101, dort auch weitere Literatur.

4 Schulin, E., Zur Restauration und langsamen Fortentwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch, 1979, S. 139. Dazu auch: Große Kracht, K.: Zwischen Abgrenzung und Tradition: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. 2005. Ders., Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, 2005. Generell auch: Sabrow, M./Jessen, R./Große Kracht, K. (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. Sowie: Lehmann, H., Historikerkontroversen, 2000. Elvert, J./Krauß, S. (Hrsg.), Historische Debatten im 19. und 20. Jahrhundert, 2003.

5 Die Historische Sozialwissenschaft oder die Gesellschaftsgeschichte „tritt mit dem Selbstverständnis und dem Selbstbewußtsein auf, die historistische Wissenschaftstradition der Geschichtswissenschaft endgültig in ein modernes, den Zeiterfahrungen des 20. Jahrhunderts im allgemeinen und der deutschen zeit-geschichtlichen Selbsterfahrung im besonderen entsprechendes Geschichtskonzept transformiert, das methodische Arsenal der historischen Forschung um die Erkenntnismöglichkeiten der systematischen Sozialwissenschaften erweitert und schließlich auch moderne Darstellungsformen entwickelt zu haben, die einem gestiegenen Wissenschaftlichkeitsverständnis und reflektierten Gegenwartsbezug entsprechen.“ Jaeger, F./Rüsen, J., 1992, S. 182. Vgl. auch: Mooser, J., Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Historische Sozialwissenschaft, Gesellschaftsgeschichte‘, in: Goertz, H.-J. (Hrsg.), Geschichte. Ein Grundkurs, 1998, S. 568–591. Simon, Chr., Historiographie, 1996, S. 225 – 232. Mommsen, W. J., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, in: Rossi, P. (Hrsg.), Theorie der modernen Geschichtsschreibung, 1987, S. 107–146. Wehler, H.-U., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, 1973. Aus der neueren Literatur: Jordan, St., 2008, S. 98–123.

6 Vgl. dazu etwa: Bödeker, H. E. u. a. (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, 1986. Blanke, H. W./Rüsen, J., Von der Aufklärung zum Historismus, 1984. Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 6 Bde., 1977 ff. Reill, P. H., The german enlightenment and the rice of historicism, 1975. Iggers, G. G., Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, 2. Aufl., 1972, S. 328–364. Wehler, H.-U., Deutsche Historiker, 9 Bde., 1971–82.

7 Zur Rezeption Meineckes insgesamt vgl. die bis 1979 reichende Bibliographie von Monika Fettke, in: Meinecke heute, 1981, S. 243–258. Fortgeführt wurde die Bibliographie von Stefan Meineke: Friedrich Meinecke-Bibliographie 1980–2006 mit Nachträgen für die Zeit bis 1979, in: Friedrich Meinecke in seiner Zeit, hrsg. von Bock, G. und Ritter, Gerhard A, 2006, S. 257–292. S. Meineke hat seine Untersuchung ‚Friedrich Meinecke – Persönlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges‘ (1995) mit dem aufschlussreichen Kapitel ‚Darstellung und Kritik der Meinecke-Forschung‘ (S. 4–41) eingeleitet, welches einen guten Einstieg in die allgemeine Meinecke-Rezeption bietet.

8 In Meineckes Nachlass, der im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zugänglich ist, finden sich zahlreiche Rezensionen der ersten Phase. Hauptabteilung I, Repositur 92 Meinecke.

9 Wenn Oexle und Wittkau argwöhnen, Meinecke habe einen neuen, von der bisherigen Debatte abgelösten Historismusbegriff eingeführt und damit auch das Relativismusproblem eliminiert, so bezeugen die Rezensionen eher das Gegenteil. In den Rezensionen wird Meineckes Historismusbuch in die Diskussion um den Relativismus eingeordnet und als Beitrag zu dieser Debatte erkannt. Vgl. vorliegende Arbeit S. 9–11.

10 Golo Manns Betrachtungen ‚Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus‘ von 1938 gehören auch heute noch zu dem scharfsinnigsten, was zu Meineckes Buch geäußert wurde. Mann, G., Zeiten und Figuren. Schriften aus vier Jahrzehnten, 1989, S. 12–17.

Details

Seiten
373
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653026863
ISBN (ePUB)
9783653998726
ISBN (MOBI)
9783653998719
ISBN (Hardcover)
9783631627150
DOI
10.3726/978-3-653-02686-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Geschichte der Geschichtswissenschaft Historismus Krisis des Historismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 373 S.

Biographische Angaben

Wolfgang Kämmerer (Autor:in)

Wolfgang Kämmerer, Magister-Studium an der Universität Frankfurt am Main (Mittlere und Neuere Geschichte, Politologie und Philosophie); 2000 Promotion ebendort; seit 1993 Tätigkeit bei einem amerikanischen Konsumgüterhersteller.

Zurück

Titel: Friedrich Meinecke und das Problem des Historismus
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
376 Seiten