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Russizismen in der deutschen Sprache

von Irina Ostmann (Autor:in)
©2014 Dissertation 330 Seiten

Zusammenfassung

Das Interesse an Russizismen erreichte seinen Höhepunkt während der Diskussion um das sprachliche Ost-West-Problem, die es in der deutschen Germanistik zwischen 1945 und 1989 gab. Die Bewertung des russischen Spracheinflusses veränderte sich in diesem Zeitraum von einer euphorischen bzw. dramatischen Überschätzung bis zur Verminderung seiner Bedeutung. Daraus entstanden mehrere Belegsammlungen und Einzelaspekt-Analysen. Eine erweiterte und erschöpfende Betrachtung von Russizismen fand erst in dieser Untersuchung statt. Es wurde eine neue Typologie der Entlehnungen entwickelt. Die Korpusanalyse zeichnet sich durch ausgewählte Wortgeschichten und Wortartikel aus. Das Russizismenregister ermöglicht ein schnelles Nachschlagen. Abbildungen und Schemata veranschaulichen das untersuchte Material.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einleitung
  • 1.1 Thema
  • 1.2 Fragestellung und Forschungslage
  • 1.3 Methodisches Vorgehen
  • 1.4 Russizismen-Korpus
  • 2 Forschungsstand zum Einfluss des Russischen auf die deutsche Sprache
  • 2.1 Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen
  • 2.2 Forschungslage während der Diskussion um das sprachliche Ost-West-Problem 1945 bzw. 1949 bis 1989 und danach
  • 2.2.1 Erste Phase: 1949–1961
  • 2.2.2 Zweite Phase: 1961–1972
  • 2.2.3 Dritte Phase: 1972–1989
  • 2.3 Nach der Vereinigung Deutschlands
  • 2.4 Problempunkte zum Stand der Forschung
  • 3 Klassifikationen der Entlehnungen aus der russischen Sprache
  • 3.1 Zum Begriff der Entlehnung
  • 3.2 Prägende Klassifikationen
  • 3.3 Klassifikationen russischer Entlehnungen ins Deutsche in der deutschen Linguistik
  • 3.4 Klassifikationen russischer Entlehnungen ins Deutsche in der sowjetischen bzw. russischen Linguistik
  • 3.5 Reichweite vs. Grenzen der Klassifikationen samt ihrer Modifizierungen
  • 3.6 Eigene Typologie
  • 3.7 Zum Begriff des Russizismus
  • 4 Faktoren für die Übernahme von Russizismen bzw. für Analogiebil­dun­gen unter dem russischen Spracheinfluss und Entlehnungswege
  • 4.1 Faktoren für Entlehnungen bzw. für Analogiebildungen
  • 4.1.1 Nichtsprachliche Faktoren
  • 4.1.2 Sprachliche Faktoren
  • 4.2 Wege russischer Entlehnungen ins Deutsche
  • 4.3 Sputnik
  • 5 Veralten von Russizismen
  • 5.1 Gründe für das Veralten von Russizismen
  • 5.1.1 Sprachliche Gründe
  • 5.1.2 Nichtsprachliche Gründe
  • 5.2 Prozess des Veraltens
  • 5.2.1 Theoretische Überlegungen
  • 5.2.2 Archaismen und Historismen
  • 5.2.3 Mehrfachentlehnungen
  • 5.2.4 Okkasionalismen
  • 5.2.5 Ausblick
  • 5.3 Glasnost’ – ein Historismus
  • 6 Russizismen in der Geschichte der deutsch-russischen Sprachkontakte
  • 6.1 Vom 9. Jahrhundert bis zur Oktoberrevolution 1917 in Russland
  • 6.2 Von der Oktoberrevolution 1917 in Russland bis zur national­sozia­listischen Machtergreifung 1933 in Deutschland
  • 6.2.1 Neue Qualität der Entlehnungen infolge der Oktober­revolution 1917
  • 6.2.2 Russische Entlehnungen während des Ersten Weltkrieges 1914–1918
  • 6.3 Zum Gebrauch von Russizismen während des Hitlerregimes 1933–1945
  • 6.4 Kriegsgefangenschaft und Deportation Deutscher in die UdSSR 1941–1956
  • 6.4.1 Russische Entlehnungen im Gefangenenjargon
  • 6.4.2 Bedeutungserweiterung des Begriffes Dystrophie
  • 6.5 Einfluss des Russischen nach 1945 in der deutschen Sprache in der DDR
  • 6.5.1 Ein Zusammenhang zwischen wirtschaftspolitischen und sprachlichen Einflüssen
  • 6.5.2 Russizismen in der Sprache der Staatssicherheit und in der Soldatensprache
  • 6.6 Der Ausdruck Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben
  • 6.7 Einfluss des Russischen nach 1989 bzw. 1991 am Beispiel der deutschen Pressesprache
  • 6.7.1 Typen der Entlehnungen
  • 6.7.2 Oligarchen Russlands
  • 6.7.3 Bereiche des russischen Spracheinflusses
  • 6.8 Russizismen als Marken- oder Produktnamen
  • 6.9 Russizismen als Signalwörter in Stereotypen
  • 7 Integration von Russizismen in der deutschen Sprache
  • 7.1 Zum Begriff der Integration in der Linguistik
  • 7.2 Graphemische Integration
  • 7.3 Phonetische Integration
  • 7.4 Morphologische Integration
  • 7.4.1 Faktoren für die Genuszuweisung von Russizismen
  • 7.4.2 Genusschwankung
  • 7.4.3 Genusschwankung im Integrationsprozess von Oblast’
  • 7.4.4 Typen der Pluralbildung der Russizismen im Deutschen
  • 7.5 Integration in der Wortbildung des Deutschen
  • 7.5.1 Komposition
  • 7.5.2 Explizite Derivation
  • 7.5.3 Kurzwortbildung
  • 7.6 Semantische Integration
  • 7.6.1 Typen der semantischen Integration
  • 7.6.2 Untergang eines Angstklischees: Wenn die Kosaken kommen…
  • 8 Schluss
  • Literaturverzeichnis
  • Wörterbücher, Lexika und Nachschlagewerke
  • Digitale Bibliothek
  • Reisebeschreibungen
  • Dokumente, Reiseberichte und Memoiren
  • Sekundärliteratur
  • Zeitschriften und Zeitungen
  • Abbildungsnachweise
  • Abkürzungen
  • Sachregister
  • Namensregister
  • Russizismenregister

← 10 | 11 → 1 Einleitung

1.1 Thema

Eine Kombination aus fachlichem Interesse und persönlicher Neugier bestimmten die Entscheidung der Verfasserin, sich mit den Russizismen der deutschen Sprache zu beschäftigen. Diese Untersuchung baut auf der im Jahre 2001 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf eingereichten Magisterarbeit „Entlehnungen aus dem Russischen in der deutschen Sprache in der DDR“ auf. In ihrem Rahmen konnten einige Aspekte untersucht werden. Andere wichtige Fragen blieben jedoch offen, was zu einer weiteren Untersuchung motivierte. Mit ihr könnte einerseits ein Ungleichgewicht gegenüber einer großen Menge von Arbeiten über Entlehnungen aus dem Lateinischen, Französischen und vor allem Englischen in der deutschen Sprache vermindert werden. Sie schließt sich andererseits an einer Reihe von Untersuchungen über russische Entlehnungen in anderen Sprachen: im Englischen,1 Finnischen,2 Französischen,3 Italienischen,4 ← 11 | 12 → Polnischen,5 Tschechischen,6 Slowakischen,7 Slowenischen8 an. Ein weiteres Argument für eine Auseinandersetzung mit Russizismen ist Folgendes: Mehrere deutsch- und russischsprachige Untersuchungen entstanden im Zeitraum von 1945 bzw. 1949 bis zur Vereinigung Deutschlands 1989 und spiegelten das pro­blematische Verhältnis von Wissenschaft und Politik wider. Aus diesem Grund verloren sie an Aussagekraft, einige sogar an Glaubwürdigkeit. Außerdem soll gezeigt werden, dass es den russischen Spracheinfluß nicht nur während Existenz der DDR gegeben hat. Russizismen sind nicht nur ein Teil der Sprachgeschichte der DDR. Sie sind ein Teil der deutschen Sprachgeschichte und müssen weiter dokumentiert und beschrieben werden.

Die persönlichen Beobachtungen der Verfasserin zeigen immer wieder, dass der Begriff des Russizismus weitgehend unbekannt ist. Der Kreis der bekannten Entlehnungen aus dem Russischen bleibt dabei nur auf wenige begrenzt. So trifft man auch auf spannende Geschichten über verschiedene Wörter und Ausdrücke. Dazu zählt zum Beispiel das Wort Bistro. Eine Geschichte erklärt die Entstehung des Wortes auf folgende Weise: Russische Soldaten sollen zwischen 1814 und 1815 in Pariser Cafes mit dem Ausruf bistro! ,schnell!‘ die französischen Bedienungen zur Eile angetrieben haben.9 In den etymologischen Wörterbüchern der russischen Sprache wird Бистро (n.) Bistro dagegen als eine Entlehnung des 20. Jahrhunderts aus dem Französischen registriert, in dem es auf das fr. bistro ,Schenke, Kneipe‘ < fr. bistreau ,Hirt‘ < fr. bistre ,dunkelbraun, schmutzig‘ zurückgeführt wird.10 Die Lexikografen erklären somit, dass die Imbiss-Stuben ← 12 | 13 → durch ihr schmutziges Aussehen zu ihrem Namen kamen.11 Auch Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Bistro als ein kleines Restaurant in einigen westlichen Staaten erklärt, also nicht als russische Erscheinung.12

Eine Dissertation bietet ausreichend Raum, um weitere Wortgeschichten aufzuklären und neue zu schreiben.

1.2 Fragestellung und Forschungslage

Für die Auseinandersetzung mit dem Thema ergeben sich mehrere Schwerpunkte, die im Folgenden zu erörtern sind. Die erste globale Frage, die es zu beantworten gibt, ist die nach der Forschungslage. Sie wird hier wegen ihres Umfangs und ihrer Bedeutung zu einem selbständigen Forschungsaspekt hervorgehoben. Im zweiten Kapitel dieser Abhandlung wird die Geschichte der Forschung über die Entlehnungen aus der russischen Sprache im Deutschen untersucht, sowie Traditionen und Ereignisse, die ihre Entwicklung maßgebend beeinflussten. Die Forschungslage muss hier vor dem Hintergrund historischer und politischer Ereignisse gesehen werden, weil diese sie kontinuierlich bestimmten. Daher erscheint eine chronologische Darstellung der Forschungslage sinnvoll. Da sich nicht nur deutsche Sprachwissenschaftler mit den Entlehnungen aus dem Russischen beschäftigten, sondern auch renommierte sowjetische bzw. russische Germanisten, werden auch diese Untersuchungen als ein Bestandteil der Forschung über Russizismen in der deutschen Sprache gesehen. Alle diese Untersuchungen fließen dann in die chronologische Darstellung ein. Die Arbeiten der deutschen und sowjetischen, bzw. russischen Linguisten werden parallel betrachtet.

Im dritten Kapitel sind die theoretischen Grundlagen des Themas schrittweise zu erarbeiten. Der zentrale linguistische Begriff dieser Untersuchung ist der der Entlehnung. Deswegen ist in erster Linie zu bestimmen, was in der Linguistik darunter verstanden wird. Da Entlehnungen in ihren Formen vielfältig sind, gibt es in der linguistischen Forschung viele Klassifikationen. Eine perfekte bzw. alle Formen der Entlehnungen umfassende Klassifikation gibt es nicht. Welche Klassifikation die Eingliederung von Russizismen ins Deutsche erfassen kann, ist im nächsten Schritt zu prüfen. Zuerst soll ein Überblick über die Klassifikationen entstehen, die in der Sprachwissenschaft nach wie vor anerkannt sind und vielen anderen zugrunde liegen. Danach ist zu überprüfen, inwieweit sie die späteren Klassifikationen russischer Entlehnungen prägten. Durch eine vergleichende Dar­stellung von Ansätzen deutscher und sowjetischer bzw. russischer Sprachwissenschaftler ← 13 | 14 → werden individuelle Entwicklungen der Klassifikationen und Termini anschaulich. Eine Analyse und Systematisierung dieser Klassifikationen werden erlauben, sowohl ihre Reichweite als auch ihre Grenzen aufzuzeigen. Wenn die bekannten Schemata für die Eingliederung des gesammelten Materials nicht ausreichen, muss an dieser Stelle nach neuen Lösungen gesucht werden. Im Anschluss geht es um den Terminus Russizismus als Oberbegriff für vielfältige Formen des russischen Spracheinflusses.

Im vierten Kapitel werden Russizismen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die wichtigste Aufgabe hier besteht darin, zu beleuchten, warum und auf welche Weise russische Entlehnungen ins Deutsche gelangten. Sie werden nicht mehr nur als ein fester Bestandteil eines Systems, sondern auch als Einzelerscheinungen betrachtet. Dafür werden ausgewählte Russizismen in einem anderen Format untersucht: im Rahmen von Wortgeschichten. So soll an dieser Stelle ein plastisches und lebendiges Bild über das Schicksal des Russizismus Sputnik in der deutschen Sprache entstehen. „Hier liegt gerade das, was uns bei sprachgeschichtlichen Beobachtungen immer wieder verblüfft. Scheinbar unbedeutende Wörter, die wir jeden Tag gedankenlos verwenden, entpuppen sich als sprechende Geschichtsbücher!“13

Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht ein Phänomen, das einen klaren Ge­gensatz zum vorherigen Abschnitt bildet. Während das Kommen der Wörter zu einem Ereignis in einer Sprache wird, so wird ihr Gehen kaum wahrgenommen. Für die aus dem Russischen stammenden Wörter und Ausdrücke ist kennzeichnend, dass sie veralten und aus dem Deutschen verschwinden. Hierfür gibt es ebenfalls eine Reihe von Motiven und Formen, die an dieser Stelle beschrieben werden. Selbst geschichtsträchtige Wörter veralten, wie das einstige Wort des Jahres 1987 Glasnost’. Abschließend wird das Veralten von Glasnost’ im Kontext einer Wortgeschichte erläutert.

Das Kommen und Gehen der Wörter hängt jedoch unmittelbar von den Sprachkontakten ab. Eine tiefgehende Untersuchung der Entlehnungen aus dem Russischen ist daher ohne das Wissen über die deutsch-russischen Sprachkontakte nicht möglich. Sprachgeschichtliche Zusammenhänge bilden den Schwerpunkt des sechsten Kapitels, weil der sprachliche Einfluss sich nicht vom kulturellen Austausch und den Wechselwirkungen in den deutsch-russischen Beziehungen in Politik sowie anderen Lebensbereichen trennen lässt. Deswegen ist „die Berücksichtigung des zeithistorischen Horizontes“14 notwendig. Es sollen hier die ← 14 | 15 → bis jetzt unzureichend erforschten Einzelaspekte eingeschlossen werden: Erstens trugen auch Kriege und Kriegsgefangenschaft zur gegenseitigen sprachlichen Beeinflussung bei. Es ist interessant, dass die linguistische Forschung diesen Aspekt außer acht gelassen hat. Gründe dafür liegen teilweise an dem Thema ,Kriegsgefangene‘ selbst, das lange Zeit als heikle politische Frage galt. Zweitens liegt die Annahme nahe, dass die Sprache des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR von Russizismen durchströmt sein sollte, da bereits der Aufbau des MfS durch das Ministerium für Staatssicherheit der UdSSR angeleitet worden ist. Vor allem soll an der jeweiligen Etappe der deutsch-russischen Sprachkontakte nicht nur gezeigt werden, welche Entlehnungen ins Deutsche übernommen worden sind, sondern auch die Intensität, der Charakter sowie das Ansehen des russischen Spracheinflusses in den einzelnen Zeitabschnitten. Dieses Kapitel bietet daher auch den passenden Rahmen für die Untersuchung des umfangreichen Wortkorpus. Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Sowjetunion unter Gorbačev, die Vereinigung Deutschlands 1989 und der Zerfall der UdSSR 1991 ließen die Sprache nicht unberührt und brachten die deutsch-russischen Sprachkontakte in Schwung. In welcher Form sich der russische Spracheinfluss seit 1989 bzw. 1991 äußert, wird anhand der deutschen Pressesprache gezeigt. Aber auch außerhalb der Pressesprache gibt es interessante Sprachgebiete, in denen Russizismen anzutreffen sind. Exemplarisch werden hier Russizismen als Marken- und Produktnamen und als Signalwörter in Stereotypen untersucht.

Im letzten Kapitel geht es um das Problem, das in der Forschung bis jetzt ebenfalls nur wenig Beachtung gefunden hat:15 Die Integration von Russizismen in der deutschen Sprache. Es wurde absichtlich der Ausdruck „in der deutschen Sprache“ und nicht „in die deutsche Sprache“ gewählt, weil Integration nicht von außen betrieben wird. Integration ist eine Entwicklung innerhalb einer Sprache. Diese Entwicklung vollzieht sich in der entlehnenden Sprache auf verschiedenen Ebenen. Es wird z. B. betont, dass nicht nur das Verstehen der fremden Wörter Schwierigkeiten bereite: Der grammatische Gebrauch und vor ← 15 | 16 → allem Genuszuweisung der fremden Wörter ruft Unsicherheiten hervor.16 Es ist jedoch eine Tatsache, dass man sich in der Lehnwortforschung „allzu stark einerseits auf die allgemeinere kulturhistorische Auswertung, im engeren sprachwissenschaftlichen Bereich aber zu sehr auf rein lautliche Fragen beschränkt“17 hat. Deswegen werden hier die graphemische, phonetische, morphologische und semantische Integration separat dargestellt. Vor allem ist die Integration von Substantiven interessant, weil sie im Vergleich zu den anderen russischen Entlehnungen die umfangreichste Wortart im Korpus ist.

Trotz eines umfangreichen Korpus und einer breit angelegten Untersuchung müssen folgende Aspekte unberücksichtigt bleiben: Russizismen in den Fachsprachen und der sprachliche Einfluss der russischsprachigen Bevölkerung auf die deutsche Sprache in Deutschland. Sie wären eher in einem weiteren Projekt zu bewältigen, weil dafür umfangreiche empirische Untersuchungen durchzuführen wären. Die deutsch-russischen Sprachkontakte auf dem Gebiet der Wirtschaft nach 1989 bzw. 1991 wurden ebenfalls nicht untersucht, da sich die Rolle deutscher Geschäftsleute als Vermittler von Russizismen im Vergleich zu den früheren Jahrhunderten verändert bzw. vermindert hat. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass Englisch oder Deutsch, und nicht Russisch, oft die Kontaktsprachen sind. Russizismen in der Sprache der deutschen Geschäftsleute wären trotzdem ein interessanter Schwerpunkt, deren Erforschung den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen würde.

Zum Schluss muss noch ein Aspekt bedacht werden. Wie bereits erwähnt ent­standen die wichtigsten Untersuchungen zum russischen Spracheinfluss auf das Deutsche bis 1989 bzw. 1991. Die Verfasser hatten damals auf Grund der politischen Lage teilweise begrenzte Möglichkeiten, sich über die Ergebnisse ihrer Kollegen im Ausland zu informieren. Dadurch waren zum Beispiel in der deutschen Germanistik die Untersuchungen sowjetischer Germanisten kaum bekannt. Außerdem gab es zu jener Zeit nicht die technischen Möglichkeiten von heute. Dieser Untersuchung liegen die Recherchen und Aufenthalte sowohl in deutschen als auch in russischen Bibliotheken und Forschungsstätten zugrunde.18 Die ← 16 | 17 → moderne Technik macht auch Online-Recherchen in den Bibliothekskatalogen der Russischen Föderation möglich.19

1.3 Methodisches Vorgehen

Im Weiteren wird gezeigt, welche methodischen Überlegungen bei der Entstehung dieser Untersuchung eine wichtige Rolle spielen sollen. Erstens ist der zeitliche Rahmen abzustecken. Der hier untersuchte Zeitraum erstreckt sich vom 9. bzw. 10. Jahrhundert bis heute. Aus der methodischen Sicht wird er in zwei große Abschnitte geteilt: Die Zeit vor der Oktoberrevolution 1917 in Russland, die eine Wende in der Qualität des russischen Spracheinflusses bedeutete, und die Zeit danach.

Zweitens lebt diese Untersuchung von den Wörtern und Ausdrücken, den Entlehnungen aus dem Russischen. Das umfangreiche Material im Wortkorpus stammt aus verschiedenartigen Quellen, Dokumenten, Berichten, Zeitungsartikeln, Wörterbüchern oder Lexika. Da quantitative Analysen nicht zum Schwerpunkt der Untersuchung gehören, entsteht kein Bedürfnis nach einer strengen Abgrenzung der Quellen. Obwohl einige Sprachwissenschaftler diesen „engen“ Weg gegangen sind: sie untersuchten Wörter, die sie aus Wörterbüchern bzw. Fremdwörterbüchern zusammengesucht haben.20 Die Fragestellung ermöglicht außerdem keine Festlegung auf eine Art von Quellen. Es ist notwendig, verschiedene Dokumente auszuwerten. Die Russizismen im Wortkorpus stammen somit nicht nur aus Wörterbüchern und bereits vorliegenden wissenschaftlichen Studien zu Russizismen. Für die linguistische Analyse eines Wortes ist das Wissen über einen oder mehrere Kontexte wichtig, in denen es benutzt wurde oder wird. Um den Einfluss des Russischen auf die deutschen Kriegsgefangenen beurteilen zu können, werden Memoiren als Quellen mit einbezogen. Um den Einfluss des Russischen auf die Sprache des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zu analysieren, sind Archivdokumente bzw. Veröffentlichungen des MfS von größter Bedeutung. Es werden lediglich schriftliche Quellen ausgewertet. ← 17 | 18 → und keine Erhebungen und Interviews durchgeführt.21 Trotz moderner elektronischer Datenverarbeitung wäre das in diesem Rahmen zu aufwendig. Auf mündliche Quellen wird ebenfalls verzichtet. Das Sammeln und Auswerten von Belegen aus Kommunikationssituationen würde den Rahmen der Arbeit sprengen.22 Stattdessen wurden mehrere Pressetexte ausgewertet, denn sie „spiegeln auf Grund ihres Aktualitätsbezugs die charakteristischen Veränderungen in der gesprochenen Sprache am ehesten wider.“23

Drittens stellt sich die Frage nach dem Umgang mit dem umfangreichen Wortmaterial des Korpus. Die Korpusanalyse ist in diese Dissertation integriert: Da die Beschreibung aller vorhandenen Beispiele den Rahmen einer Dissertation bei weitem übersteigen würde, werden hier einzelne Russizismen paradigmatisch, d.h. stellvertretend für andere, ausgewählt und untersucht. Die Beschreibung als Methode schließt jedoch Beobachtung, Zusammenfassung, Interpretation und Klassifikation ein.24 Dafür werden hier zwei Formen gewählt: Russizismen werden einerseits in tabellarischen Artikeln beschrieben und erklärt. Neben den Artikeln wird hier andererseits noch ein Format angewendet: Wortgeschichten. Dafür gibt es bereits mehrere Vorbilder in der Sprachwissenschaft. So wie z. B. LTI. Notizbuch eines Philologen25 von Viktor Klemperer, der Sprachgeschichte als Kultur- und Geistesgeschichte verstand. Peter von Polenz betrachtete dieses Werk Klemperers als „Sammlung sprachlich-zeitgeschichtlicher Essays“.26 Im Buch von Hans Peter Althaus Zocker, Zoff & Zores. Jiddische Wörter im Deutschen27 findet man Wörter aus Politik, Sport und Öffentlichkeit. Diese Sammlung besteht ebenfalls aus kurzen Essays. Das Zeitgeschichtliche Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache28 ist eine Sammlung von einzelnen Geschichten, ← 18 | 19 → in denen der Wortgebrauch im Zusammenhang mit historischen Ereignissen dargestellt wird. Um ein schnelles Nachschlagen zu ermöglichen, wird am Ende dieser Dissertation ein Index aller untersuchten Russizismen erstellt.

Unter der Berücksichtigung des beschriebenen Vorgehens bietet sich hier als wissenschaftliche Methode die Induktion an. Somit können Schlussfolgerungen vom Einzelfall, einzelnen Beispielen aus dem Korpus, auf das Allgemeine übertragen werden. Der folgende Gedanke stellt diese Methode lebhaft vor: „Das Wort stellt für den Linguisten und Psycholinguisten in mancher Hinsicht dar, was für den Biologen die Zelle ist. [...] So wie die Erforschung der Zelle wesentlich dazu beigetragen hat, die Psychologie des ganzen Körpers zu verstehen, kann das Studium von Wörtern Einsichten in die Beschaffenheit des menschlichen Sprachsystems bieten.“29

Viertens wird hier gegen statistische Analysen Stellung genommen. In der Lehnwortforschung wurde diese Methode bereits oft abgelehnt. Die Argumente gegen statistische Auswertungen überzeugen. Zum einen steht „demjenigen, der sich Fragen der Gegenwartssprache widmet, ein so ungeheuer großes Material zur Verfügung […], dass Versuche zu Frequenzuntersuchungen nur einen sehr bedingten Aussagewert haben können.“30 Deswegen werden zum Beispiel alle bekannten Angaben zur Anzahl der Russizismen,31 welche im Laufe der Jahrhunderte in die deutsche Sprache eingingen, hier nur als eine Orientierung verstanden und so behandelt. Die Sprachwissenschaftler betonen seit langem, dass das Lehngut sich nicht in Prozentzahlen und Tabellen unterbringen ließe.32 Zum anderen halten sie es für „fragwürdig, sprachliches Leben in Prozentzahlen einfangen zu wollen.“33 Es gibt dennoch Untersuchungen, in denen statistischen Analysen ein wesentlicher Platz eingeräumt wird.34 Dieses Vorgehen wird in dieser Dissertation nicht übernommen. Das Bestreben nach quantitativen Untersuchungen ← 19 | 20 → ist, wie es sich mehrmals gezeigt hat, für diejenigen Arbeiten kennzeichnend, in denen sich die Autoren mit dem aus Wörterbüchern gesammelten Russizismen-Korpus beschäftigen.35

Fünftens ist dies zwar eine linguistische Untersuchung, jedoch kann sie ohne Bezüge zu Slawistik und Geschichte nicht auskommen. Es ist in der Linguistik schon lange erkannt worden, dass die Entwicklung der sprachlichen Verhältnisse unter Berücksichtigung der kulturhistorischen Zusammenhänge aufzuzeigen ist.36 Es wird somit ein großer Wert auf die Zusammenarbeit der Linguisten mit Vertretern anderer Wissenschaften, in der ersten Linie den Historikern gelegt.37 Zudem wird die lexikalische Entlehnung als „ein Teil und Anzeichen kulturellen Kontaktes, kultureller und zivilisatorischer Entlehnung, der daraus resultierenden Verbreitung einer Kultur und der Anpassung an sie“ 38 gewertet. Deswegen gilt der folgende Gedanke in dieser Dissertation als einer der wichtigsten Bausteine des methodischen Vorgehens: „Der Weg eines Wortes aus einer Sprache in eine andere wird von so einer großen Zahl verschiedenartiger Etappen, Hindernisse, unerwarteter Höhen und Tiefen übersät, daß die Erforschung nur der linguistischen Seite der Etablierung eines fremdsprachigen Wortes in das System der übernehmenden Sprache sich für die Klärung eines vollständigen Bildes als unzureichend herausstellt. Und nur die Berücksichtigung eines breiten Spek­trums verschiedener Faktoren kann einer solcher Klärung beitragen.“39

Nicht zu vergessen ist außerdem, dass es in einigen Fällen schwer wird, eine Grenze zwischen der Geschichte der Dinge selbst und der Geschichte der Wörter ← 20 | 21 → zu ziehen, die sie benennen. Damit werden Sprachwissenschaftler immer wieder konfrontiert. Deswegen gilt hier auch: „Um die Ursachen der Wortschatzveränderungen zu begreifen, muß man im Prinzip über die Grenzen der Sprache selbst hinausgehen.“40

1.4 Russizismen-Korpus

Das Russizismen-Korpus wurde bereits 2001 während der Entstehung der Magisterarbeit angelegt. Seitdem wurde es bis 2007 kontinuierlich ergänzt. Momentan umfasst es ca. 1500 Eintragungen, die alphabetisch geordnet sind. Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme eines Russizismus in das Korpus war seine Aussagekraft und seine sowohl semantische als auch formale Vielseitigkeit.

Wie oben erwähnt, werden Russizismen hier in zwei verschiedenen Formaten untersucht: in den Artikeln, die als Tabellen vorliegen oder als Wortgeschichten. Die tabellarische Darstellung erscheint am besten dafür geeignet, die umfangreichen Funde übersichtlich zu machen. Außerdem heben sich die Beispiele auf diese Weise vom übrigen Text ab. Zudem ermöglicht eine solche Darstellung das schnelle Nachschlagen und Nachlesen. Jeder Russizismus wird im Artikel nach einem festen einheitlichen Schema beschrieben. Ein Beispiel:

Klopfer m.

bzw.

Stukatsch m /

Stukatschi Pl.

< стукач (m.) stukač < стучать stučat‘ ‚klopfen‘

Spitzel, Denunziant

Ein Spitzel klopfte an die Tür seiner Gefängniszelle, um für

die Weitergabe von Informationen auf den Flur zu kommen

Die Tabellen haben immer nur zwei Spalten. In der linken Spalte wird der Russizismus kursiv markiert. Hier werden die Varianten seiner Erscheinung in der deutschen Sprache gezeigt, sowie die nachgewiesenen Schreibvarianten als auch Kasus- und Genusangaben (m. = maskulinum, f. = femininum, n. = neutrum) In der rechten Spalte steht zunächst die Entsprechung in der russischen Sprache in kyrillischer Schrift, ebenfalls mit der Genusangabe. Danach wird das russische Wort transliteriert. Im nächsten Schritt wird seine Etymologie im Russischen deutlich gemacht. Erst danach wird die Vokabel übersetzt. Abschließend wird das Motiv der Wortbildung oder der Benennung erklärt. Zur Illustration werden in einigen Artikeln noch Zitate bzw. Belege angeführt. Wenn ein Beispiel an ← 21 | 22 → zwei oder mehreren Stellen hinzugezogen wird, wird eine wiederholte Erklärung vermieden. Solche Fälle werden durch (↑) markiert. Wortgeschichten bieten dagegen wesentlich mehr Platz für intensive Einzeluntersuchungen. Wortgeschichten folgen keinem Schema. Dennoch gibt das jeweilige Kapitel den roten Faden und den Schwerpunkt der entsprechenden Wortgeschichte an, die in ihm vorkommt.

1 Vgl. auch Ė. F. Volodarskaja: Заимствование как отражение русско-английских контактов [Entlehnung als Widerspiegelung der russisch-englischen Kontakte], in: Вопросы языкознания [Fragen der Sprachwissenschaft] (2002), Nr. 4, S. 96–118.

2 A. Plöger: Die russischen Lehnwörter der finnischen Schriftsprache (= Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, Bd. 8). Wiesbaden 1973.

3 Vgl. N. K. Garbovskij: 104 слова о русской культуре [104 Wörter über die russische Kultur], in: Вестник МГУ. Сер. 19. Лингвтстика и межкультурная коммуникация [Informationsblatt der Moskauer Staatsuniversität. Reihe 19. Linguistik und Interkulturelle Kommunikation] 2003, Nr. 4, S. 7–23.

4 Vgl. M. L. Fanfani: Russismi politici novecenteschi: a proposito di un libro di Vincenzo Orioles [Politische Lexik russischer Herkunft in der italienischen Sprache], in: Lingua nostra. Firenze 48 (1987), H. 2–3, S. 59–84.

5 Vgl. M. Sarnowski: Terminy pochodzenia rosyjskiego w jezyku polskim [Termini russischer Herkunft in der polnischen Sprache], in: Acta Universitatis wratislaviensis. Wroclaw 1127 (1991), Slavica Wratislaviensia, Nr. 62, S. 61–70.

6 Vgl. G. Lilicova: Ruske lexikalni prvky v ceskem basnickem jazyce pocatku XIX. stoleti [Russische lexikalische Elemente in der tschechischen Sprache der Dichtung Anfangs des 19. Jh.], in: Jedlička, Alois [u.a.]: Slovanske spisovne jazyky v dobe obrozeni. Sbornik venovany Univ. Karlovou k 200. vyr narozeni Josefa Jungmanna [Slawische Literatursprachen zur Zeit der nationalen Aufklärung. Sammelband zum 200. Jubiläum von Josef Jungmann] Prag 1974, S. 181–186.

7 Vgl. J. Benkovicova: Z vyskumu lexikalnych rusizmov v spisovnej slovencine [Lexikalische Rusizmen in der slowakischen Sprache], in: Kultura slova [Die Kultur des Wortes]. Bratislava 27 (1993), H. 4, S. 104–112.

Details

Seiten
330
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653028300
ISBN (ePUB)
9783653998382
ISBN (MOBI)
9783653998375
ISBN (Hardcover)
9783631627945
DOI
10.3726/978-3-653-02830-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Klassifikationen der Entlehnungen Integration von Russizismen Glasnost Deutsch-russische Sprachkontakte Sprache der Staatssicherheit Deutsche Sprache in der DDR
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 330 S., 24 s/w Abb. und zahlr. Abb.

Biographische Angaben

Irina Ostmann (Autor:in)

Irina Ostmann, geboren in Vorkuta (Russland), ist freiberufliche Dozentin und Übersetzerin. Sie studierte von 1997 bis 2002 Germanistik und Geschichte an der Universität Düsseldorf. Von 2002 bis 2005 war sie Promotionsstipendiatin der Friedrich-Naumann-Stiftung. Die Promotion erfolgte 2011.

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