Lade Inhalt...

Inszenierte und elaborierte Mündlichkeit bei «TV Globo»

Zur soziostilistischen Modellierung morphosyntaktischer Variablen des brasilianischen Portugiesisch

von Mathias Arden (Autor:in)
©2015 Dissertation 343 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch untersucht morphosyntaktische Variablen des brasilianischen Portugiesisch (Objektpronomina, Bewegungsverben, Relativsätze, Kongruenz) anhand eines Korpus von im Fernsehen gesprochener Sprache in Programmformaten des brasilianischen Senders TV Globo. Die Analyse der Nachrichtensendung Jornal Nacional sowie der Telenovela Paraíso Tropical zeigt, wie Sprecher in der elaborierten und inszenierten Mündlichkeit als zwei einschlägigen Formen von in Massenmedien gesprochener Sprache jeweils unterschiedliche Bereiche des Varietätengefüges zwischen Nähe und Distanz, Diastratik und Diaphasik im Einklang mit den Konventionen der Gattung stilistisch ausloten. Dabei stützt sich die Untersuchung auf neuere stilorientierte Ansätze aus der Variations- und Soziolinguistik.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhalt
  • 1. Einführung
  • 2. Variation, Norm und Stil
  • 2.1 Varietätenlinguistische Grundbegriffe
  • 2.1.1 Sprache als Diasystem
  • 2.1.2 Nähe und Distanz
  • 2.1.3 Diskurstraditionen
  • 2.2 Variation und pragmatischer Kontext – Zur theoretischen Fundierung von Sprachstilen
  • 2.2.1 Die diaphasische Variationsdimension
  • 2.2.2 Register und style-shifting
  • 2.2.3 Zur Relevanz der Norm in stiltheoretischer Perspektive
  • 2.2.4 Die Sozioindexikalität sprachlicher Formen
  • 2.3 Variationslinguistische Aspekte des brasilianischen Portugiesisch
  • 2.3.1 Präskriptive Norm und Standard
  • 2.3.2 Autoritäten und ihre Bedeutung für einen brasilianischen Standard
  • Literatursprache als Modell?
  • Instanzen der Präskription und Deskription: Grammatikschreibung und Soziolinguistik in Brasilien
  • Präskription in Presse, Rundfunk und Fernsehen: Die manuais de redação
  • 2.3.3 Zur Diasystematik morphosyntaktischer Variablen im BP
  • 3. Fernsehen, Gattungen und gesprochene Sprache
  • 3.1 Kommunikationstheoretische Grundlagen
  • 3.1.1 Fernsehen als Einwegkommunikation
  • 3.1.2 Fernsehakteure als Sender
  • 3.1.3 Das Publikum als Empfänger
  • 3.2 Programmformate als Gattungen
  • 3.2.1 Der Medienkonzern Globo
  • 3.2.2 Die Nachrichtensendung Jornal Nacional
  • 3.2.3 Die dramaturgische Gattung Telenovela
  • 3.3 Sekundäre Mündlichkeit im Fernsehen
  • 3.3.1 Elaborierte Mündlichkeit im Jornal Nacional
  • Stil und Metasprache – Die manuais de redação
  • Das Sprachbewusstsein der Fernsehakteure
  • Telejournalistische Sprecherrollen und ihre ‘Stimmen’
  • 3.3.2 Inszenierte Mündlichkeit in der Telenovela
  • Authentizität, Mimesis und Überformung
  • Stilisierung und Projektion sozialer Rollen
  • 4. Korpus und Analysemethodik
  • 4.1 Erstellung der Korpora: Jornal Nacional und Telenovela
  • 4.2 Sozio- und variationslinguistische Korpora des BP
  • 4.3 Transkriptions- und Analysemethodik
  • 5. Morphosyntaktische Variation im Jornal Nacional und in der Telenovela
  • 5.1 Die pronominale Markierung des direkten Objektes
  • 5.1.1 Struktur und Funktion der Objektpronomina im BP
  • 5.1.2 Die Objektpronomina in variationslinguistischer Perspektive
  • 5.1.3 Die Positionen der Grammatiken und der manuais
  • Die Grammatiken
  • Die manuais
  • 5.1.4 Korpusanalyse
  • 5.1.4.1 Jornal Nacional
  • Kli3P im JN
  • Pro3P im JN
  • Nullobjekte im JN
  • 5.1.4.2 Telenovela
  • Morphosyntax der Klitika
  • Zur Semantik der Antezedentien
  • Nähe und Distanz
  • Pronominale Variation nach Figuren
  • 5.2 Präpositionen bei Verben der Ortsveränderung
  • 5.2.1 Struktur und Semantik von ir/ chegar und der Präpositionen a/ para/ em
  • 5.2.2 Die Verben ir/ chegar in variationslinguistischer Perspektive
  • 5.2.3 Die Positionen der Grammatiken und der manuais
  • Die Grammatiken
  • Die manuais
  • 5.2.4 Korpusanalyse
  • 5.2.4.1 Jornal Nacional
  • Das Verb ir
  • Das Verb chegar
  • 5.2.4.2 Telenovela
  • Zur Relevanz semantopragmatischer Kovariablen für die stilistische Analyse
  • Präpositionale Variation nach Figuren
  • 5.3 Relativsatzkonstruktionen
  • 5.3.1 Strukturelle und funktionale Merkmale von Relativsätzen
  • 5.3.2 Relativsätze in variationslinguistischer Perspektive
  • 5.3.3 Die Positionen der Grammatiken und der manuais
  • Die Grammatiken
  • Die manuais
  • 5.3.4 Korpusanalyse
  • 5.3.4.1 Jornal Nacional
  • RelS mit pied-piping und cujo
  • RelS mit und ohne Resumptivum
  • 5.3.4.2 Telenovela
  • RelS mit pied-piping und cujo
  • Relativsatz vs. temporaler Nebensatz
  • Variation von RelS-Konstruktionen nach Figuren
  • 5.4 Nominale und verbale Kongruenz
  • 5.4.1 Strukturelle und funktionale Aspekte nominaler und verbaler Kongruenz
  • 5.4.2 Kongruenz in variationslinguistischer Perspektive
  • 5.4.3 Die Positionen der Grammatiken und der manuais
  • 5.4.4 Korpusanalyse
  • 5.4.4.1 Jornal Nacional
  • 5.4.4.2 Telenovela
  • 6. Conclusio
  • 6.1 Diskurstraditionelle Blockierungen im Jornal Nacional
  • 6.2 Paraíso Tropical: Mimesis und Überformung
  • 6.3 Zur soziostilistischen Modellierung in sekundärer Mündlichkeit: Fazit und Ausblick
  • 7. Literatur

1.Einführung

Thema der vorliegenden Arbeit ist das im Fernsehen gesprochene brasilianische Portugiesisch in Nachrichtensendungen und Telenovelas von TV Globo, dem größten brasilianischen Fernsehsender. Während für andere (romanische) Sprachen bereits eine Vielzahl an linguistischen Untersuchungen zum Sprachgebrauch in den mündlichen Massenmedien Radio und Fernsehen vorliegen, sind entsprechende Arbeiten zum brasilianischen Portugiesisch (BP) vergleichsweise rar. Bereits 1999 hat der brasilianische Philologe und Soziolinguist Dino Preti ein entsprechendes Forschungsdesiderat formuliert. In seinem Aufsatz zur Sprache verweist der Autor insbesondere auf die inszenierten Dialoge der dramatis personae in populären fiktionalen Gattungen wie den Telenovelas, als auch auf die Sprache in telejournalistischen Formaten, deren Konzeption vom abgelesenen Nachrichtentext bis hin zu weitgehend frei gesprochenen journalistischen Kommentaren reicht. Auch in den Jahren seit Pretis Appell ist die massenmedial vermittelte gesprochene Sprache im Kontext variationslinguistischer Analysen zum BP bis heute ein kaum betretenes Terrain geblieben. Wie zu zeigen sein wird, haben zwar vereinzelt soziolinguistisch ausgerichtete Studien kleinere Korpora zu Telenovelas oder Fernsehinterviews als Vergleichsfolie zur Analyse des gesprochenen BP herangezogen. Systematische Überlegungen zu den komplexen Produktionsmechanismen von Fernsehmündlichkeit und den spezifischen Gattungskonventionen sowie eine eingehende qualitative Interpretation von Belegen sind von den Analysedesigns bisher allerdings ausgeklammert geblieben.

Die vorliegende Untersuchung zu morphosyntaktischen Variablen versteht sich folglich als Versuch, dieses Gebiet für die brasilianische Varietäten- und Soziolinguistik ein Stück weit zu erschließen. Die Beschränkung auf die Morphosyntax ist vor dem Hintergrund zweier Merkmale zu begründen, die den Varietätenraum des BP entscheidend prägen. Zum einen präsentiert sich dieser Strukturbereich auf der Ebene der Diaphasik im diskursiven Spektrum zwischen kommunikativer Nähe und Distanz als besonders stark ausgelastet. Formen, die im gesprochenen BP selbst unter gebildeten Sprechern als obsolet gelten, sind in der geschriebenen Sprache weiterhin produktiv. Eine solche diaphasisch begründete Distribution betrifft etwa die Verbalklitika der 3. Person o/ a (bzw. -lo/ -la) zur Markierung anaphorischer direkter Objekte (O novo modelo chegou às lojas e muitos foram comprá-lo). Während diese Variante in der Distanzsprache allgegenwärtig ist und zugleich der präskriptiven Norm (norma-padrão) entspricht, dominieren in der Nähesprache Nullkli ← 11 | 12 → tika (…e muitos foram comprar Ø). Alternativ kann das betonte Pronomen ele gesetzt werden – eine Form, die im formalen Sprachgebrauch als ausgeschlossen gilt und auch normativ sanktioniert ist.

Zum anderen ist das polarisierte Verhältnis zwischen diastratisch hoch und diastratisch niedrig markierten Varietäten anzuführen (variedades cultas vs. variedades populares). Die brasilianische Soziolinguistik hat die wesentlichen Differenzen zwischen Sprechergruppen unterschiedlicher sozialer Provenienz vor allem entlang morphosyntaktischer und syntaktischer Variablen nachgezeichnet. Exemplarisch sei hier die variable Pluralmarkierung der Konstituenten von Nominalphrasen sowie zwischen Subjekt und Verb angeführt, die in den Varietäten von akademisch gebildeten Sprechern überwiegend (aber nicht kategorisch) nach dem normativen Prinzip der Redundanz erfolgt. In den variedades populares hingegen trägt in der Regel allein das erste Element der NP die Pluralmarkierung (algumas casaØ velhaØ; os meninoØ comeØ muito). Zwar ließe sich diese Konstellation im Wesentlichen auch auf der lautlichen Ebene für das BP nachzeichnen. Allerdings erfordert eine phonetisch-phonologische Analyse zusätzlich den Bezug zur Diatopik – eine Variationsdimension, in der sich die Morphosyntax des BP als weitaus homogener darstellt und mithin zu vernachlässigen ist.

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, diese Spannungsverhältnisse im Varietätengefüge des BP im Kontext eines Korpus von im Fernsehen gesprochener Sprache sichtbar zu machen und im Rahmen eines soziolinguistischen Zugriffs auf stilistische Variation zu interpretieren. Die hierfür selegierten Programmformate repräsentieren zwei für das Medium Fernsehen charakteristische Formen von geplanter Mündlichkeit. Die in der Nachrichtensendung Jornal Nacional gesprochene Sprache wird im Rahmen dieser Arbeit mit dem Begriff ‘elaborierte Mündlichkeit’ umschrieben. Die Nachrichtensprecher und Reporter transponieren monologisch lesend oder rezitierend einen graphisch vorbereiteten Text in die Phonie. In variationeller Perspektive ist diese Form der sekundären Mündlichkeit gerade deshalb von großem Interesse, weil der konzeptionelle Duktus der Nachrichtentexte einerseits an diskurstraditionellen Mustern der Distanz partizipiert, die ihrerseits am Formenkanon der norma-padrão ausgerichtet sind. Gleichzeitig wird versucht, einem natürlich anmutenden, auf eine optimale Verständlichkeit hin ausgerichteten ‘mündlichen’ Duktus treu zu bleiben. Insbesondere die Nachrichtensprecher bieten ein Maximum phonisch möglicher und zugleich diasystematisch hoch bewerteter Formen. Dabei steht ebenso die Frage im Raum, inwiefern angesichts der diaphasischen Spreizung im Varietätengefüge des BP ein stilistischer Kompromiss zwischen normativ korrekten, aber ← 12 | 13 → eben diasystematisch teils extrem hoch markierten Formen und jenen Formen zu beobachten ist, die als tendenziell familiär gelten.

Die in der Telenovela gesprochene Sprache repräsentiert als ‘inszenierte Mündlichkeit’ eine zweite wichtige Spielart der sekundären Mündlichkeit in der Fernsehkommunikation. Sie gilt als inszeniert insofern, dass Schauspieler memorisierte Dialogzeilen in fingierten Gesprächssituationen kommunikativer Nähe rezitieren. Diese Arbeit diskutiert ausschließlich die Formen von inszenierter Mündlichkeit der für die brasilianische Tradition so charakteristischen Gattung telenovela urbana, deren Handlung im zeitgenössischen Rio de Janeiro und São Paulo angesiedelt ist. Die urbane Telenovela eröffnet fiktionale Schauplätze für die Begegnung von Figuren verschiedener sozialer Milieus. Diese werden über die mannigfachen narrativen Stränge nicht nur parallelgeführt, sondern eben auch bewusst miteinander konfrontiert.

Die dabei entstehenden und mitunter gewollt drastisch anmutenden Kontrasteffekte finden ebenso ihren Niederschlag in der metapragmatisch reflektierten Ausgestaltung der Dialoge. Hier dient das breite Spektrum an sozial hoch und niedrig markierten Erscheinungen des BP als symbolische Ressource für die charakterliche, soziale sowie ideologische Typisierung der Figuren. Natürlich greifen bei der Projektion von Rollenbildern in den Telenovelas auch Stereotypen, die bestimmte gattungskonventionelle Erwartungshorizonte bedienen und dem Publikum eingängige interpretative Zugänge bereitstellen. In der inszenierten Mündlichkeit der urbanen Telenovela entfalten insbesondere jene Formen des BP stereotypische Effekte, die an den diasystematischen Polen des Formenspektrums angesiedelt sind: Zum einen sind das die diastratisch niedrig markierten Strukturen des português popular, zum anderen jene, die in Brasilien mit Diskursen extremer Distanz assoziiert werden und deren Gebrauch in der Phonie manieriert wirkt. Dass diese Stilisierungsprozesse gerade nicht auf die Ebenen Lexik und Lautung beschränkt bleiben, sondern auch in die Morphosyntax hineinreichen, wird in der Korpusanalyse zur Telenovela sowohl anhand von quantitativ-distributionellen Korrelationen zwischen Form und sozialer Rolle, als auch anhand von qualitativen Interpretationen einzelner Belege aufzuzeigen sein.

Die große Zahl an morphosyntaktischen Erscheinungen, die als ‘spezifisch brasilianisch’ gelten, mahnt zur Eingrenzung des Analysegegenstands. Neben der oben erwähnten pronominalen Objektmarkierung und der Numerus-Kongruenz werden zwei weitere Variablen untersucht, die auch von der brasilianischen Variations- und Soziolinguistik angesichts der diastratisch-diaphasisch weit gefächerten Distribution ihrer Varian ← 13 | 14 → ten wiederholt diskutiert worden sind und deshalb als einschlägig gelten. Dies ist zum einen die präpositionale Rektion bei Verben der Ortsveränderung, insbesondere die Variablen ir+a/para/em+NPloc und chegar+a/em+NPloc. Normativ akzeptiert ist ausschließlich die Präposition a (bei ir auch para), während im familiären Gebrauch in der Phonie auch die Variante ir em (bzw. chegar em) produktiv ist. Zum anderen werden komplexe Relativsatzkonstruktionen in die Analyse einbezogen. In der Schriftsprache sind ausschließlich die normativ korrekten komplexen Relativnexus nach dem pied-piping-Prinzip gebräuchlich (Präposition + Relativpronomen: Há muitos bairros em que a polícia não entra). In diaphasisch niedrig markierten Varietäten hingegen überwiegt die Markierung der syntaktischen Relation durch die Setzung des Relativums que bei gleichzeitigem Wegfall der Präposition (Há muitos bairros que a polícia não entra). Eine weitere, allerdings diastratisch markierte Variante greift den Nukleus im Rahmen einer Präpositionalphrase im Relativsatz pronominal auf (Há muitos bairros que a polícia não entra neles).

Die Arbeit besteht im Wesentlichen aus drei großen Kapiteln. In Kapitel 2 werden zunächst zentrale Begriffe einer varietätenlinguistischen Perspektive eingeführt (Kapitel 2.1). Die daran anschließende Abhandlung zum Verhältnis von Variation, Kommunikationssituation und Stil diskutiert Theorieansätze, die speziell auf die Analyse von Variationsphänomenen in einer soziostilistischen Perspektivierung zugeschnitten sind (Kapitel 2.2). Klassische varietäten- und soziolinguistische Modelle erfassen stilistische Variation primär im Hinblick auf die Beschreibung des Sprachsystems, indem sie Varianten auf eindimensionalen Formalitäts-Kontinua hierarchisiert abbilden und ihnen weitgehend fixierte kommunikative Werte und Funktionen zuschreiben. Dieses Vorgehen ist für sich genommen indes nicht ausreichend, wenn zugleich die Motivationen der Sprecher für die stilistische Wahl einzelner Formen im konkreten Diskurs angemessen erklärt werden sollen. Hierfür erweisen sich insbesondere aktuelle Ansätze einer stilistischen Soziolinguistik als fruchtbar. Diese verbinden Methoden der kulturanthropologischen Linguistik und der Diskursanalyse, um in einer sprecherzentrierten Perspektive die Relevanz der Formenwahl im Sinne einer intuitiv gesteuerten sozialen Symbolik zu interpretieren.

Als Grundlage für die varietätenlinguistische und soziostilistische Beschreibung der zur Diskussion stehenden morphosyntaktischen Phänomene werden in Kapitel 2.3 diasystematische Aspekte zum BP in den Blick genommen. Im Zentrum der ersten zwei Abschnitte steht die bisweilen hoch komplexe Frage nach dem Status eines eigenständigen Standards und dessen Verhältnis zur präskriptiven Norm. Ein weiterer Ab ← 14 | 15 → schnitt widmet sich den Autoritäten für eine brasilianische Norm des Portugiesischen. Hier geht es vor allem um die Dialektik zwischen Vertretern einer traditionell normativen und einer linguistisch-deskriptiven Grammatikschreibung, die Rolle von Sprachakademien, sowie die Funktion von Literatursprache und Massenmedien als Instanzen eines exemplarischen Sprachgebrauchs.

Die Ausführungen münden schließlich in eine Übersicht zu charakteristischen morphosyntaktischen Variablen des BP, um sodann eine diaphasisch-diastratisch möglichst präzise gestufte Kategorisierung dieses Strukturbereichs vorzunehmen. Diese Einordnung der Formen anhand ihrer diasystematischen Markierungszuweisungen im Varietätengefüge des BP bietet in der Folge die Blaupause für die soziostilistische Bewertung und Interpretation der Korpusdaten zur im Fernsehen gesprochenen Sprache.

In Kapitel 3 folgt eine Abhandlung zu den technischen und gattungskonventionellen Rahmenbedingungen der Fernsehkommunikation im Hinblick auf die hier zu analysierenden Formen sekundärer Mündlichkeit. Im Anschluss an allgemeine kommunikationstheoretische Anmerkungen wird die Entwicklung und gesellschaftliche Bedeutung des Mediums Fernsehen in Brasilien sowie des Medienkonzerns Globo skizziert. In einem nächsten Schritt werden der Aufbau und die narrative Struktur des Jornal Nacional und der urbanen Telenovela eingehend beschrieben. Abgerundet wird die medienlinguistische Theoriediskussion durch eine Darstellung zu den gattungsspezifischen Formen des Schreibens und Sprechens in elaborierter und inszenierter Mündlichkeit.

Im Anschluss an die Ausführungen zur Korpuserstellung und der Analysmethodik (Kapitel 4) werden in Kapitel 5, das den Kern der Arbeit bildet, die vier morphosyntaktischen Variablen in jeweils eigenen Teilkapiteln zunächst in sprachstruktureller und soziolinguistischer Perspektive vorgestellt. So können morphologische, syntaktische und semantische Kovariablen identifiziert werden, die als potentiell intervenierende Faktoren bei der Formenwahl der Varianten zu berücksichtigen sind. Erst die Kontrolle dieser strukturellen Restriktionsbedingungen ermöglicht den interpretativen Zugriff auf ein nach diskurstraditionellen und stilistischen Parametern geordnetes Variationsverhältnis der Formen. Die daran anschließenden Abschnitte präsentieren und diskutieren die Ergebnisse der Korpusanalyse in quantitativer und qualitativer Perspektive.

← 15 | 16 → ← 16 | 17 →

2.Variation, Norm und Stil

In einer vielzitierten Formulierung hat Eugenio Coseriu für das Phänomen der menschlichen Sprache drei grundlegende Ebenen identifiziert:

El lenguaje es una actividad humana universal que se realiza individualmente, pero siempre según técnicas históricamente determinadas (…) En el lenguaje se pueden, por tanto, distinguir tres niveles uno universal, otro histórico y otro individual (…). (Coseriu 1981: 269f.)

Mit dieser Definition postuliert Coseriu eine „Ebenen-Trias“ (Oesterreicher 2001b: 1558), die auf den ersten Blick der trichonomischen Differenzierung Saussures zwischen langage, langue und parole ähnelt. Dabei entspräche langage der Coseriuschen universellen Ebene der Sprechtätigkeit bzw. -fähigkeit, langue der historischen Ebene, die Sprache als historisch bedingtes, durch eine Sprechergemeinschaft konstituiertes Normengefüge versteht, und parole der individuellen Ebene, also der Ebene der konkreten Diskurse. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch insbesondere bei der Gegenüberstellung der historisch-einzelsprachlichen Ebene Coserius mit dem Saussureschen Begriff der langue theoretisch unterschiedlich gelagerte Begriffsbildungen, aus denen sich methodologische Konsequenzen für die linguistische Analyse ergeben. Während der strukturalistische Ansatz Saussures die parole zum Zwecke einer Ausgrenzung der individuellen, sprachsystemisch irrelevanten Komponenten von Sprache postuliert, um zu einem in sich homogenen Struktursystem einer Einzelsprache (langue) als dem primären Objekt linguistischer Beschreibung zu gelangen, steht die historische Ebene Coserius für eine Auffassung von Sprache „als Gefüge von Sprachtraditionen, als historisch gewordenes Kulturprodukt“ (Coseriu 1976: 22). Die Historizität von Sprachen manifestiert sich also in einer Außenperspektive über die Sprachverschiedenheit, während die Innenperspektive den Zugriff auf die interne Variation der historischen Einzelsprache ermöglicht. Der grundlegende Anspruch eines varietätenlinguistischen Analyseansatzes ist die systematische Erfassung dieser historisch bedingten, internen Differenzierung einer Einzelsprache. Grundlegend ist dabei die Konzeption von Einzelsprache als mehr-dimensionales Gebilde, wie sie im Begriff des Diasystems zum Ausdruck kommt. ← 17 | 18 →

2.1Varietätenlinguistische Grundbegriffe

2.1.1Sprache als Diasystem

In der Varietätenlinguistik1 werden für die Beschreibung der internen Variation einer historischen Sprache einzelsprachliche Ausdrucksstrukturen traditionell mindestens drei unterschiedlichen Variationsdimensionen zugeordnet (Flydal 1951; Coseriu 1988b; Koch & Oesterreicher 1990, 2011): (1) die diatopische Dimension als Bezugnahme auf die sprachliche Variation im geographischen Raum, (2) die diastratische Dimension, die sprachliche Variation anhand sozialer Parameter erfasst (Alter, Geschlecht, soziale Gruppenzugehörigkeit usw.), sowie (3) die diaphasische Dimension zur Beschreibung sprachlicher Variation auf der Ebene der Sprachstile.2 Eine Varietät ist demnach ein systemischer Verbund einzelner sprachlicher Formen, deren Parameterwerte auf den drei diasystematischen Ebenen der Diatopik, Diastratik und Diaphasik fixiert sind. Während einzelne sprachliche Formen als Varianten einer Variable empirisch beobachtbar sind, handelt es sich bei Varietäten um eine Abstraktionsleistung des Linguisten. ← 18 | 19 →

Details

Seiten
343
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653034608
ISBN (ePUB)
9783653996586
ISBN (MOBI)
9783653996579
ISBN (Hardcover)
9783631641972
DOI
10.3726/978-3-653-03460-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Nachrichtensendung Soziolinguistik Varietätengefüge
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 343 S., 37 Tab., 10 Graf.

Biographische Angaben

Mathias Arden (Autor:in)

Mathias Arden studierte Romanische Philologie, Deutsch als Fremdsprache und Allgemeine Sprachwissenschaft an den Universitäten München und Eichstätt-Ingolstadt. Das Studium schloss er mit einer Arbeit zum brasilianischen Portugiesisch ab. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Varietäten des Spanischen in Amerika, die Morphosyntax des brasilianischen Portugiesisch, Sprache in Massenmedien, Kognitive Linguistik und Konstruktionsgrammatik. Darüber hinaus ist er als Übersetzer im Automotive-Bereich sowie als Fremdsprachentrainer für Englisch, Portugiesisch und Deutsch als Fremdsprache bei internationalen Unternehmen aktiv.

Zurück

Titel: Inszenierte und elaborierte Mündlichkeit bei «TV Globo»
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
348 Seiten