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Narrative des Ersten Weltkriegs

von Miriam Seidler (Band-Herausgeber:in) Johannes Waßmer (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 237 Seiten
Reihe: Ästhetische Signaturen, Band 4

Zusammenfassung

Wie lässt sich das Fronterlebnis erzählen? Dieser Frage sahen sich die Soldaten im Ersten Weltkrieg gegenüber. Das, was sie an der Front erlebten, ist so neu und einzigartig, so traumatisch und gewaltsam, dass es nicht in Worte gefasst werden kann, selbst wenn es bildlich vor Augen steht. Traditionelle Darstellungsweisen von Krieg und Gewalt werden dem Erleben nicht gerecht. Nicht nur die Kriegsgräuel, auch die gesellschaftliche Rechtfertigung des Krieges und vor allem die Euphorie bei Kriegsbeginn bedürfen einer Sinndeutung. Neben der kulturgeschichtlichen Verortung des Kriegserlebens nimmt der Band vermeintliche Randphänomene wie das Erleben der Heimatfront, den U-Boot-Krieg und den Krieg in Ostpreußen, sowie das weibliche Kriegserleben in den Fokus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Narrative des Ersten Weltkriegs. Einleitende Überlegungen
  • Der Erste Weltkrieg als kulturelle Katharsis und literarisches Ereignis
  • Feldgraues Dichten. Mobilität und Popularität der Lyrik im Ersten Weltkrieg
  • Erzählungen des Ersten Weltkriegs in Ostpreußen und die Utopie der ›Volksgemeinschaft‹
  • Von Wikingern und Werwölfen. Erlebnisse deutscher U-Boot-Helden im Ersten Weltkrieg
  • Verbotene Gefühle. Echos der Shell-Shock-Traumatisierung in Ludwig Renns frühen Romanen Krieg und Nachkrieg sowie in Lewis Milestones Film All Quiet on the Western Front
  • Chimärisch, kitschig, merkwürdig, eigenwillig? Die pazifistischen Romane Die Katrin wird Soldat von Adrienne Thomas und Die Waffen nieder! von Bertha von Suttner im Spannungsfeld von Gender und Genre. Mit einem Ausblick auf ihre filmischen Umsetzungen
  • Die junge Generation an der Heimatfront. Romane von Wolfgang Koeppen, Klaus Mann, Ernst Glaeser und Georg Fink
  • Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs
  • Autorinnen und Autoren
  • Reihenübersicht

Narrative des Ersten Weltkriegs.

Einleitende Überlegungen

An den Schriftstellern fiel mir auf, wie willkürlich sie die Worte setzten, obwohl es doch eine ganz klare Notwendigkeit gab, wie man die Worte setzen muss, dass nämlich die Worte immer in der Reihenfolge stehen, wie sie der Leser erleben soll, zum Beispiel nicht: eine grüne, über mehrere Kuppen ansteigende Wiese; denn zuerst muss dann doch wissen, dass es eine Wiese ist, und daher muss das Wort vorn im Satze stehen. Um mir über das Wichtige klarzuwerden, stellte ich mir steht das ganze Bild mit allen Einzelheiten vor, mit Beleuchtung, jedem Geräusch und jeder seelischen Regung. Dann schrieb ich erst und ließ alles weg, was nicht unbedingt notwendig war. Aber dieses Schema nützte für die Darstellung der wichtigsten Dinge gar nichts. Dafür fehlten mir stets die Worte.1

Der unter dem Pseudonym Ludwig Renn schreibende Arnold Friedrich Vieth von Golßenau legt seinem Protagonisten diese Worte in den Mund. Die Figur Renn versucht an der Front die eigenen Erfahrungen schriftlich festzuhalten. Dabei scheitert er immer wieder an der Unmöglichkeit, seine Erlebnisse in Sprache zu fassen; dennoch erweist sich das Erzählen als Hilfe, denn es bewirkt „eine Heiterkeit in mir, die alles hell machte, was ich sah“.2 Diese Funktion des Schreibens als die Lebensfreude erhaltende Maßnahme wird allerdings als schwieriger Prozess beschrieben. Was die Figur Renn entwirft, ist eine Alltagserzählung, eine Narration, die einem sehr einfachen Muster folgt. Dennoch thematisiert der Autor damit ein zentrales Problem: Das, was die Soldaten an der Front erleben, ist so neu und einzigartig, so traumatisch und gewaltsam, dass es nicht in Worte gefasst werden kann, selbst wenn es bildlich vor Augen steht. Die Sprache versagt vor dem Kriegserlebnis.

Auch nach 100 Jahren hat der Erste Weltkrieg als Ereignis nicht an ›Faszination‹ verloren. Er wird immer wieder in der Literatur, im Film3, in Bildender ← 9 | 10 Kunst und in hybriden Künsten wie dem Comic4 künstlerisch verarbeitet. Dabei ist es vor allem die Schwierigkeit, das komplexe Ereignis Krieg in Worte zu fassen, das die Autorinnen und Autoren zur Auseinandersetzung mit dem Krieg anregt. Als erstem ›modernen‹ Krieg kommt dem Ersten Weltkrieg eine zentrale Bedeutung zu. Jüngere Beispiele wie die Romantrilogie Regeneration trilogy (1991‒1995) der britischen Autorin Pat Barker, Christian Krachts Roman Ich werde da sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) oder Jean Echenozs 1914 (2014) belegen das Interesse am Ersten Weltkrieg als literarischem Sujet. Dabei kämpfen die Autorinnen und Autoren immer noch mit der bei Renn und anderen Zeitgenossen formulierten Schwierigkeit, die Erlebnisse der Frontsoldaten darzustellen. Die mit den technischen Neuerungen einhergehenden neuen sinnlichen Erfahrungen bedingen auch neue ästhetische Zugänge. Auf eine direkt nach Kriegsende erprobte neusachliche Erzählweise im Sinne der von Arnold Zweig thematisierten Authentizität des Augenzeugen,5 können sich die späteren Generationen aber ebenso wenig berufen, wie die Zeitgenossen bei dem Versuch der mimetischen Darstellung des Kriegserlebnisses stehen geblieben sind. Noch immer sind es die Erfahrungen der Frontsoldaten, die der Grausamkeit des Schützengrabenkrieges an der zunehmend in Materialschlachten6 erstarrenden Westfront ausgeliefert waren, die sich in zahlreichen Erzählungen niederschlagen und unser Bild des Ersten Weltkrieges prägen.7 Der Problematik, Erzählweisen des ›modernen Krieges‹ zu entwickeln, sahen sich bereits die zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller während des Krieges 1914‒1918 und im Anschluss in der Weimarer Republik ausgesetzt. Denn bereits im August 1914 und in den darauffolgenden Monaten wurde der Krieg als epochemachendes Ereignis verstanden, das, so die vielfache Hoffnung der Intellektuellen, die Zeitläufte entscheidend verändern und den Weg in eine ← 10 | 11 erwünschte nationale Zukunft öffnen würde.8 In diesem Forschungsumfeld stellt der vorliegende Band die Erzählstrukturen in den Mittelpunkt und widmet sich der Frage, welche Kriegs-Narrative die Folie dieser zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Ersten Weltkrieg bilden, welchen Strukturlogiken die Handlungen der einzelnen den Krieg deutenden und verarbeitenden Narrationen folgen.

Bereits im Sommer 1914 zeichnete sich ab, dass der Erste Weltkrieg nicht nur ein militärisches Ereignis war, sondern mit der geistigen Mobilmachung zugleich in bislang nicht erlebter Weise die betroffenen Nationen medial miterfasste. Auch nach dem Ende des Krieges hielt die Auseinandersetzung mit den Ereignissen im Juli 1914 die Welt in Atem, so dass der Historiker Gerd Krumeich im Hinblick auf die Auswertung der Quellen und der Beantwortung der Frage der Kriegsschuld von einem „Weltkrieg[.] der Dokumente“9 spricht.

An diesem schriftlichen Kriegsschauplatz kämpften auch die Autorinnen und Autoren bereits lange vor Kriegsende. Bevor die ersten Erfahrungsberichte von der Front die Heimat erreichten, kursierten in den Tageszeitungen und in der Literatur bereits eine Vielzahl teils mythisch verklärter Beschreibungen, teils an den Erfahrungen früherer kriegerischer Auseinandersetzung orientierter Darstellungen vom Krieg an der Front. In diesen Darstellungen fand der Glaube Ausdruck, dass auch dieser Krieg wie der deutsch-französischen Krieg im Jahr 1870/71 dem deutschen Volk einen schnellen Sieg bescheren würde. Da die deutsche Heeresleitung eine Pressesperre erlassen hatte und daher kaum Berichte über den Alltag der Soldaten an der Front und den aktuellen Kriegsverlauf vorhanden waren, hatten diese Narrationen10 auf die Wahrnehmung des Krieges an der Heimatfront einen großen Einfluss.11 So beruhten diese frühen Narrationen, die in der Regel fiktive Szenarien als reale Kriegsbeschreibungen entwarfen,12 auf allgemeinen Vorstellungen des ›Krieges‹, die mit der Realität auf den Schlachtfeldern wenig gemein hatten, da sie sich sehr stark an tradierten ← 11 | 12 Erzählmustern von Krieg und Gewalt orientierten. Die Grausamkeit des ›Großen Krieges‹ traf die Soldaten bei Langemarck, an der Somme oder vor Verdun mit unerwarteter Härte, war aber der Heimatfront kaum vermittelbar. Darüber hinaus hatten die frühen, strukturell als Alltagserzählungen erkennbaren Erzählungen noch keine Erzählelemente entwickelt, die dem Leser oder Zuhörer das Besondere dieser Kriegsführung vermitteln konnte. Insofern verwundert es nicht, dass eine der berühmtesten frühen Erzählungen nicht die Materialschlacht und die verheerenden Verluste an der Westfront thematisierte, sondern den verklärten Blick nach Osten wandte: Walter Flex’ Novelle Wanderer zwischen beiden Welten (1916).

Diese Narration zeichnet sich im Unterschied zu später publizierten Romanen, Erzählungen und autobiographischen Berichten noch durch eine große Nähe zum Alltag der Vorkriegszeit aus. Die jungen Männer werden als Mitglieder des Bildungsbürgertums und Anhänger der Jugendbewegung gezeigt. Sie diskutieren selbst im Krieg noch theologische Fragestellungen und lesen Gedichte Goethes. Der Krieg als Zäsur wird erst mit dem Tod des Protagonisten Ernst Wurche als Einschnitt erfahrbar und stürzt den Erzähler in eine existentielle Krise, die letztendlich auch seinen Tod zur Folge hat.

Der Heldentod der jungen Männer wird als Opfer für das Vaterland plausibel gemacht. Das Erzählen selbst folgt einem recht simplen Ablauf, den man mit Albrecht Koschorke mit dem Begriff des Narrativs bezeichnen kann. Koschorke definiert Narrative als Schemata, die „die in ihnen enthaltenen Elemente konfigurieren, aber nicht bis ins Letzte festschreiben“, d.h. es „können einzelne Elemente ausgetauscht oder vernachlässigt werden, solange die Einheit des Schemas nicht in Gefahr gerät“.13 Inwiefern einzelne Narrationen „kommunikative Verbreitung und soziale Verhandelbarkeit“ erfahren – also inwiefern sie innerhalb einer Gesellschaft wahrgenommen werden und sich als ›funktionsfähig‹ erweisen –, hängt maßgeblich davon ab, „in welchem Maße sie dem Grundmuster eines gebräuchlichen Narrativs gehorchen“14, das sich jeweils über Prozesse von Verknappung, Angleichung und Vervollständigung bildet.15 Damit bilden Narrative die Hintergrundstrukturen einzelner Erzählungen, die maßge-blich den Verlauf der Handlung mitsamt ihren Peripetien steuern.16 Bezogen auf den Ersten Weltkrieg bedeutet das, dass sich bestimmte Handlungssequenzen und Figurenmodelle herausbildeten, die an bereits bekanntes Wissen anknüpfen und diese dem Leser auf einfache Weise verständlich machen. Hier etabliert sich z.B. das Figurenmodell des ›Kriegsneurotikers‹,17 d.h. des Soldaten, der von den ← 12 | 13 Kriegshandlungen so traumatisiert ist, dass an ein ›normales‹ Handeln nicht mehr zu denken ist. Die Peripetie, die an dieses Figurenmodell geknüpft ist, kann drei Lösungsmöglichkeiten bieten: Aus der Perspektive der Nation ist die Heilung des Kranken wünschenswert, damit er wieder kriegsdiensttauglich wird und dem Vaterland ›dienen‹ kann. Aus Sicht des Kriegsendes, das unter anderem mit der Dolchstoßlegende erklärt wurde, kann die Figur als Simulant enttarnt werden, der den Dienst am Vaterland verweigert, um sein eigenes Leben zu schützen und damit wie die Heimatfront eine Mitschuld an der Niederlage trug. Vor allem in eindeutig pazifistischen Texten wurde hingegen die dauerhafte Beeinträchtigung der Figuren angedeutet, die nicht mehr in der Lage waren, in ein normales Leben zurückzukehren.18 Die Traumata der deutschen Nachkriegsgesellschaft waren damit bereits vorweggenommen. Als Wendepunkt in der gesellschaftlichen Entwicklung kann aber auch das Ereignis Krieg selbst interpretiert werden.

Wendepunkte, so hat es Susi K. Frank formuliert, werden insbesondere in der Narration von Konflikten und Kriegen konstitutiv, weswegen „mithilfe narrativer Muster […] Krieg[en] eine Position und eine Bedeutung im temporalen Kontinuum“ gegeben wird und sie zu einem „zentralen, markiert-gliedernden Element innerhalb des Meganarrativs Geschichte“ gemacht werden.19 Susi K. Frank unterteilt Kriegs-Narrative und ihre Erforschung in vier Bereiche: in (a) Wahrnehmung und narrative Konstruktion des Ereignisses Krieg, (b) den „reflektierten Einsatz narrativer Strategien zur Konstruktion kollektiver Identifikationsmuster“, (c) die narrative Konstruktion der Nicht-Erzählbarkeit von Kriegen und (d) die narrative Entgrenzung des Krieges.20 Die Beiträge des vorliegenden Bandes fokussieren sich insbesondere auf die ersten beiden Aspekte und schließen dabei oftmals an die Ausführungen Matthias Schönings an, der mit dem Narrativ der ›Ideen von 1914‹ eines der wirkmächtigsten Narrative des 20. Jahrhunderts beschreibt:

Das Narrativ […] ist das dem so genannten ›Augusterlebnis‹ und der darauf aufbauenden ›Ideen von 1914‹ zu Grunde liegende Darstellungsschema von lang währender Krise, ereignishafter Zäsur und sehnsuchtsvollem Aufbruch […]. Unschwer ist in dieser sequenziellen Struktur eine Inversion des klassischen Tragödienschemas zu erkennen, der gemäß man sich bei Kriegsbeginn auf dem Umschlags- oder Sattel ← 13 | 14 punkt befindet, der die kulturelle Talfahrt der Vorkriegszeit beendet und den Beginn einer fundamentalen Umkehr der Geschichte verspricht.21

Dabei lässt sich das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ punktgenau in allgemeinere Überlegungen zur Konstruktion von Narrativen integrieren, gewinnt es doch von seinem projektierten Endpunkt, der Erfüllung der ›Volksgemeinschaft‹, her seine Kraft22 und mit der Zäsur steht in seinem Zentrum eine ›Komplikation‹, die bereits als „Superstukturkategorie für Erzähltexte“23 klassifiziert worden ist, da sie eine die Handlung auflösende Reaktion provoziere. Doch nicht nur in der Theorie, sondern auch in der narrativen Praxis des Ersten Weltkriegs folgen dem Narrativ der ›Ideen von 1914‹, wie in erster Linie Matthias Schöning gezeigt hat,24 zahlreiche national orientierte literarische wie publizistische Narrationen des Weltkriegs. Das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ erweist sich als mächtiges heuristisches Werkzeug, mit dem die Handlungsstruktur vor allem der Nation und dem ›Volk‹ verpflichteter Kriegserzählungen beschrieben werden können. Jene Erzähltexte jedoch, die nach anderen Funktionslogiken organisiert und auf ein anderes Telos ausgerichtet sind, können nicht unter das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ subsumiert werden, wie ein kurzer Blick auf Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues veranschaulicht.

Remarque verweigert sowohl die dem Krieg vorgängige Krisendiagnose als auch die Vorstellung eines nationalen Aufbruchs: Der durch die Hoffnung auf Erfüllung der ›Ideen von 1914‹ bestimmte nationale Horizont wird im Roman verstellt sowohl durch die Erfahrung Paul Bäumers, dem Krieg auch nach seinem Ende nicht mehr entkommen und sich in einer Zivilgesellschaft „nicht mehr zurechtfinden zu können“25, als auch durch die mit dem Tod des Erzählers Paul Bäumer einhergehende narratologische Verunmöglichung jeder Zukunftshoffnung. Gleichermaßen wird in Im Westen nichts Neues zumindest für die Generation der jungen Frontsoldaten explizit die Festschreibung einer vorgeblichen Krisenerfahrung – Ausgangspunkt des Narrativs der ›Ideen von 1914‹ – in Frage gestellt, die eindeutig der Elterngeneration zugeschrieben wird. So pfropft die Elterngeneration der Generation der jungen Soldaten ihre Weltanschauung und ihr Wertesystem auf, schreibt in Person des Lehrers Kantorek das ← 14 | 15 Ideal einer ›eisernen‹ Jugend vor, verführt zur Kriegsbegeisterung26 und verkennt gleichzeitig die erschütternde Realität des Grabenkrieges.27 Die jungen Soldaten – im Roman repräsentiert durch die vier Jahrgangskameraden Kropp, Müller, Leer und Bäumer sowie den Handwerker Tjaden und den Arbeiter Westhus – übernehmen folgerichtig derart indoktriniert sowie als Adoleszenten „voll ungewisser Ideen, die dem Leben und auch dem Kriege in unseren Augen einen idealisierten und fast romantischen Charakter verliehen“ die Perspektive der Lehrer, deren „klassische[r] Vaterlandsbegriff sich vorläufig realisiert zu einem Aufgeben der Persönlichkeit“.28 Die Ideen von 1914 verfangen somit in dem Maße, in dem „ein betresster Briefträger mehr Macht“ über die Soldaten besitzt als „früher unsere Eltern, unsere Erzieher und sämtliche Kulturkreise von Plato bis Goethe“29 zusammen:

Sie sollten uns Achtzehnjährigen Vermittler und Führer zur Welt des Erwachsenseins werden, zur Welt der Arbeit, der Pflicht, der Kultur und des Fortschritts, zur Zukunft. […] Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschliches Wissen.30

Dennoch speist sich aus der Zäsur des Krieges im Roman im Gegensatz zum Narrativ der ›Ideen von 1914‹ keine Hoffnung auf einen nationalen Aufbruch, wenn die Kameraden im Gegensatz zu den Älteren bereits zu Kriegsbeginn nicht mehr wissen „wie das enden soll“, vom Krieg „weggeschwemmt“ werden,31 und Paul Bäumer zuletzt urteilt „schließlich werden wir zugrunde gehen“32. Auch die Krisendiagnose wird zumindest implizit hinterfragt, insofern die Adoleszenten im Krieg sowohl ihren Kulturkreis (Goethe!) preisgeben müssen als auch ihre vergleichsweise unschuldige, harmonische Jugend verlieren.33 Die in den ›Ideen von 1914‹ formulierte Hoffnung auf eine neue zunächst nationale, dann völkische Identität kippt in ihr Gegenteil: Den jungen Männern wird durch den Krieg jede kulturelle wie personale Identität verunmöglicht.34 Anlass dieses Umsturzes ist der Krieg selbst: ← 15 | 16

Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung. Wir mussten erkennen, dass unser Alter ehrlicher war als das ihre; sie hatten vor uns nur die Phrase und die Geschicklichkeit voraus. Das erste Trommelfeuer zeigte uns unseren Irrtum, und unter ihm stürzte die Weltanschauung zusammen, die sie uns gelehrt hatten.35

Diese Erkenntnis der jungen Frontkämpfergeneration verschiebt den Fokus des zugrundeliegenden Narrativs von den für das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ konstitutiven Kriterien der Krisendiagnose und des nationalen Aufbruchs hin auf den Kern des epochalen Ereignisses: auf die Zäsur des Krieges. Weder sind die jungen Kameraden bereits imstande, ihrer (bzw. der Eltern-)Gesellschaft eine Krise zuzuschreiben, noch sind sie fähig, eine klare Zukunftserwartung zu entwickeln. Die Fronterfahrung selbst steht im Mittelpunkt von Narrationen wie Im Westen nichts Neues.

Mit anderen Worten: Anfangs- und Endpunkt der Erzählung verschieben sich gegenüber dem Narrativ der ›Ideen von 1914‹ in den Krieg hinein. Da derjenige, der „die Hoheit über das Erzählen besitzt […] deshalb auch praktisch Herrschaft über die kollektive Agenda erringen“ kann, bestimmen Erzählanfang und -ende entscheidend die ideologische Ausrichtung des Erzählten. Die Setzung eines Erzählanfangs trennt „die Gegenwärtigkeit des Erzählten von einer aus dem Innern der narrativen Raumzeit unartikuliert scheinenden, ungeordneten Prähistorie“ und definiert „damit immer auch schon den Gegenstand […], der den Kern der Geschichte bildet“. Demgegenüber liegt in der Setzung eines (offenen) Endpunktes gerade in der Narration von ungelösten Konflikten eine Bedingung der Möglichkeit dafür, dass „so viele Nationalmythologien ihre mobilisierende Kraft aus einem Ursprungsmythos gewinnen, der statt eines kollektiven Triumphs die Schmach einer Niederlage im Gedächtnis festhält“.36 Koschorke zufolge folgen Konflikt und Narration des Konfliktes weniger konsekutiv aufeinander; vielmehr markiert die Narration den Konflikt: „Semantisch stellen Konflikte sich als ein Kampf um erzählerische Rahmungen dar […].“37 Dass die Setzung von Anfang und Ende auch für das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ zentrale Funktion einnimmt, zeigt der Blick auf den Endpunkt des Narrativs, den erhofften ›Aufbruch‹, der, wie Schöning beschreibt, zunächst aufgrund der erstarrenden Fronten, dann infolge der Kapitulation wiederholt in eine nahende Zukunft verschoben werden muss38 und darüber zunehmend eskaliert.39

Wenn im Gegensatz dazu wie im Fall von Im Westen nichts Neues Anfangs- und Endpunkt der Erzählung in den Krieg hinein verlegt werden, schlagen wir ← 16 | 17 den Begriff Frontkämpfer-Narrativ vor, das wir als weniger ideologisch, sondern vielmehr als dem Ereignis und der Entwicklung des zentralen Protagonisten verpflichtet und damit hinsichtlich der Sinndeutung des Krieges als offener erachten.40 Es kann das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ ergänzen, kann aber auch eine völlig eigenständige Erzähllogik entfalten, in der die Reaktion des Protagonisten auf die Kriegserfahrung im Fokus steht. Die Grundstruktur des Dreischritts ist zwar vergleichbar, weil auch im Frontkämpfer-Narrativ eine Krise am Anfang und eine oftmals zumindest ansatzweise formulierte Lösung der Krise am Ende stehen: In den Erzählungen der Westfront, insbesondere der Schützengräben, wird die personale Identität der meist jungen Soldaten durch ihre Erlebnisse an der Front und in den Gräben derart prekär, dass sie sie im Verlauf der Erzählung durch eine neue oftmals soldatisch konstruierte Identität ersetzen.41 In der Folge entfremden sich die Soldaten von ihren Familien und damit von ihrer alten, als glücklicher erfahrenen Identität, etwa wenn in Werner Beumelburgs Gruppe Bosemüller der Titelheld, obwohl sich ihm die Möglichkeit bietet, nicht bei der Familie samt neugeborenem Kind bleibt, sondern zurück zu seiner Gruppe an die Front fährt.42 Das Frontkämpfer-Narrativ erzählt jedoch die Schicksale von Individuen, während das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ auf die Nation und die Erfüllung der ›Volksgemeinschaft‹ ausgerichtet ist. Infolge der enger gewählten Start- und Endpunkte – Krise und Lösung liegen im Krieg selbst – gerät das Frontkämpfer-Narrativ weniger ideologisch, sondern arbeitet im Wesentlichen mit emotionalen Schemata, die auf die narrative Veranschaulichung der Entwicklung des Protagonisten und seiner Kameraden abzielen. Folglich ist ihm weniger eine vorab artikulierte Sinngebung des Krieges inhärent, vor allem das Ende ist unbestimmter: Nicht die Nation wird zum Fluchtpunkt des Narrativs, sondern die Neubildung personaler Identität, die sowohl im Verabsolutieren der Nation und des soldatischen Lebens – etwa repräsentiert durch Orden und Ehren –, als auch im Heldentod oder im völlig ergebnisoffenen Neubeginn nach der Kriegsheimkehr liegen kann.

In der Geschichtswissenschaft nahm im Kontext der Analyse der Einschreibung des Ersten Weltkriegs in das kollektive Gedächtnis und im Hinblick auf das Entstehen von Erinnerungsorten im Sinne Pierre Noras die Frage nach dem ← 17 | 18 Kriegsmythen einen großen Raum ein.43 Im Unterschied zum Mythos verfügt das Narrativ über eine vorgegebene Handlungsstruktur. Diese ist in der Regel drei- oder fünfgliedrig, wie dies auch die Definition des Narrativs der ›Ideen von 1914‹ bei Schöning annimmt. Insofern können Narrative an Mythen anschließen, die von Stephanie Wodianka und Juliane Ebert als „erzählerlose Erzählungen“44 definiert werden, weil ihr Name gewissermaßen Programm ist und sie keinem Erfinder zugeordnet werden können. So spielt beispielsweise in vielen Frontkämpfer-Narrativen die Schlacht um Verdun eine Rolle. Zwar unterscheidet sich die Schilderung der Schlacht im Herbst 1916 in der Regel nicht von anderen Kampfesschilderungen, mit ihr ist aber die explizite Frage nach der „neue[n] Wirklichkeit“ des Krieges gestellt, „die Soldaten für fragwürdige Ziele ausbeutete und nachhaltig traumatisierte“.45 Insofern ist das Frontkämpfer-Narrativ eng mit dem Mythos Verdun verknüpft, für dessen Mythosstatus die „notorische Unfassbarkeit Verduns“46 wesentlich ist. Es gestaltet diese Unfassbarkeit aber aus, indem sie das hilflos ihr ausgelieferte Individuum schildert, das mit der traumatische Erfahrung umgehen muss oder daran zerbricht.47 Falls infolge der Fronterfahrung diese Identitätskonstruktion misslingt, sterben die Protagonisten wie Paul Bäumer sinnlos dahin. Daraus folgt, dass das in der Zeitstruktur der Diegese enger gefasste Frontkämpfer-Narrativ nicht konträr zum zeitlich gedehnteren Narrativ der ›Ideen von 1914‹ steht, sondern dass ersteres in das zweitere immer dann integriert werden kann, wenn die einzelne Frontkämpfer-Narration ideologisch nicht quer zu den ›Ideen von 1914‹ läuft.

Der Krieg (als literarisches Sujekt) ist männlich dominiert. Räumlich sind sowohl das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ als auch das Frontkämpfer-Narrativ überwiegend an der Front angesiedelt. Als Protagonisten spielen damit Frauen oftmals eine Nebenrolle. Insofern lässt sich am Beispiel dieser nicht zu vernachlässigenden Bevölkerungsgruppe die Frage stellen, wie die Nation als Ganzes in den Blick genommen werden kann. Wie können Frauen und das Kriegserleben ← 18 | 19 an der Heimatfront in den Fokus gerückt werden und damit in Bezug zu den zentralen Kriegsnarrativen gezeigt werden? Ein aufgrund der symbolischen Aufladung besonders beeindruckendes Beispiel stellt die Novelle des expressionistischen Autors Alfred Lemm Die Hure Salomea48 dar. Lemm erzählt die Geschichte einer jungen, jüdischen Medizinstudentin, die sich in einer Lebenskrise befindet, weil sie ihr Studium nicht ausfüllt und sie kein Ziel vor Augen hat. Der Kriegsbeginn bietet ihr zuerst auch keine Möglichkeit für einen Ausbruch aus der unbefriedigenden persönlichen Situation, denn aus dem Lazarettdienst wird sie bereits nach wenigen Tagen entlassen, da sie keinen Enthusiasmus in Bezug auf den Kriegsbeginn und kein Mitleid mit den Verwundeten empfindet.

Zurück in ihrer Heimatstadt verschärft sich die Krise, denn „[d]ie unan-genehme Erinnerung, wie schlecht sie sich bewährt hatte, deprimierte sie tief.“49 Erlöst aus ihrer Lethargie wird die Figur als sie auf reitende Soldaten, die durch die Stadt ziehen, aufmerksam wird. Den Wendepunkt bildet eine Vision:

Salomea hatte plötzlich eine Vision, und an ihrem starrstehenden Kopf bewegten sich, in äußersten Schrecken versetzt, die blauen Schläfen heftig. Sie sah die jungen Mannesleiber in ihrem Anatomiesaal, plump zerlegt zur Präparation, zerrissen und blutig. Die weichfesten Muskeln waren in strähniges, ochsenhaftes Fleisch der Schlächterläden verwandelt. Dunkelbraune Höhlungen, Obdach für Maden, stanken die zähfasrigen Rippenbuchtungen. Die Arme hingen einzeln ungeheuer lang mit gekrümmten Fingerstöcken am Haken. Die blinden Gallertaugen schwammen schon unter Glas in der Farbe blassen Zahnfleisches – Salomea schrie!50

In der schockhaft erfahrenen Erkenntnis, dass diese jungen Leiber alle in den Tod geschickt werden, findet Salomea ihre Aufgabe und eine Möglichkeit zur Teilhabe am Krieg. In der Hingabe an die Soldaten, die oftmals keinerlei sexuelle Erfahrung haben und damit wie die Protagonisten des Frontkämpfer-Narrativs als unerfahrene Jugendliche gezeigt werden, findet sie ihre Erfüllung:

Sie umschlang ihre Köpfe die vor Aufwärtswollen rauchten und küßte sie, als ob sie ein ganzes Volk küßte. Sie bettete die edlen, zweiteiligen, mit Menschenhaut überzogenen Schalen, Behälter für Unsagbares, auf weiche Kissen, daß sie ja keinen Sprung erhielten!51

Zuerst bietet sie ihren jugendlichen Körper in den Kasernen an, dann fährt sie mit an die Front. Ihr Körper erscheint zunehmend ausgezehrter. Wie die Soldaten leidet sie an den schlechten Lebensbedingungen, gibt aber auch an der Front ihren Körper hin, so dass die Soldaten „noch in seligem Rausch von ihr in ← 19 | 20 die Schlacht“52 gingen. Daher bleibt dort ihr Handeln nicht unbemerkt, aber erst durch Photographien der Kriegsberichterstatter wird ihr Wirken öffentlich gemacht. Daraufhin wird sie wegen der Befriedigung ihrer „geradezu tierische[n] Brunst“,53 in einer Zeit, in der das oberste Ziel aller „Männer und Frauen des Volkes keinen anderen Gedanken kennen, als wie sie dem Land, das sie lieben, dienen können“,54 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und aufgrund ihrer körperlichen Schwäche mit einem Lazarettzug, in dem Gefangene transportiert werden, nach Deutschland zurückgeschickt. Hier wird sie von den Kranken als Schutzheilige erkannt, die zu ihr beten und ihr für ihr Überleben danken. Ob sie selbst die Ankunft in Deutschland noch erlebt, ist allerdings fragwürdig. Erzähltechnisch kommt es zur Apotheose der Figur, die in den Augen der Verwundeten mit der Muttergottes verglichen wird.

„Todsünde oder Gotteswunder“55 – zwischen diesen beiden Optionen verortet ein junger Leutnant die Figur der Salomea und gibt damit die Interpretationsvarianten vor. Die Heiligsprechung der Figur bildet gewissermaßen den Endpunkt der Erzählung. Wie das Narrativ der ›Ideen von 1914‹ arbeitet die Novelle mit den Elementen Krise und Zäsur, das Ende kann allerdings nicht als hoffnungsvoller Aufbruch, wie ihn Schöning beschreibt, gelesen werden, sondern vielmehr als Versagen der Militärführung und Erschöpfung der sich aufopfernden Frauenfigur.56 Bezogen auf die Frauen an der Heimatfront kann hier eine symbolische Erschöpfung der Kriegsbegeisterung in einer ausbleibenden Unterstützung für die Männer gesehen werden. Liest man die Figur der Salomea aber als kämpferische Figur, die für die Verbindung von Kampf und Lust steht, so ist mit ihrem Tod nicht nur das Ende des Krieges, sondern zugleich auch der Untergang des Vaterlandes angedeutet, da sie als Frau ja nur Kampfesmut, aber keine neuen Kämpfer geboren hat. Mit der Verweigerung des ›hoffnungsvollen Aufbruchs‹ steht die Figur Salomea symbolisch für das Vaterland. Sie verkörpert damit nicht nur eine Absage an die Idee der sich aus der Kriegserfahrung heraus entwickelnden ›Volksgemeinschaft‹, sondern zugleich eine Absage an den Krieg als politische Konfliktlösungsstrategie. Krieg, so die expressionistische Lesart, bedeutet letztendlich Zerstörung. Der Untergang des Vaterlandes war kein beliebter Ausblick auf die letzte Phase im Dreischritt der ›Ideen von 1914‹. Insofern verwundert es kaum, dass die Novelle von Alfred Lemm kaum rezipiert wurde.

Die Erzählung des Ersten Weltkriegs zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben aufgrund der Kenntnis der weiteren Geschichte des 20. Jahrhunderts einen anderen Blick auf die Ereignisse in den Jahren 1914‒18. Dennoch stellt sich auch ← 20 | 21 hier immer wieder die Frage, welche Krise zum Krieg geführt hat, wie die Zäsur, die er bedeutete, zu bewerten ist, und ob die mit ihm angestoßenen politisch-nationalen Entwicklungen tatsächlich an ein Ende gekommen sind. Unter anderem mit diesen Fragen setzt sich auch Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten57 auseinander. Der dystopische Roman ist allerdings nicht um historische Detailtreue bemüht, sondern stellt die Frage, inwieweit historische Entscheidungen einzelner Persönlichkeiten die Geschichte verändern können. Ausgehend von der Überlegung, wie sich die Geschichte Europas entwickelt hätte, wenn Lenin aus dem Schweizer Exil nicht nach Russland zurückgekehrt wäre und stattdessen eine sozialistische Räterepublik in der Schweiz gegründet hätte, entwirft Kracht einen kontrafaktisch erzählten Roman. Dieser setzt ein mit der Rückeroberung Neu-Berns knapp hundert Jahre nach Kriegsbeginn ein. Die Schweiz hat sich in der Zwischenzeit mit Frankreich gegen eine Koalition aus Deutschen und Engländern verbündet. Große Teile Süd- und Ostafrikas wurden kolonialisiert, um dort unter anderem Soldaten und Führungskräfte zu rekrutieren und auszubilden. Kampfhandlungen werden nicht erzählt, es wird lediglich von den Gräueltaten der entmenschlichten Kriegsparteien berichtet. Der Leser begleitet den namenlosen Protagonisten, den neu eingesetzten Kommissar der SSR durch Neu-Bern und dessen Umland, auf der Suche nach dem polnischen Juden Brazhinsky. Die Suche endet im sogenannten Reduit, einer Festung in den Alpen, die als das zentrale Bollwerk gegen die Deutschen gilt. Dort hat sich eine Gegenwelt um Brazhinsky, der über eine außersprachliche Form der Kommunikation und zugleich über eine für den Ich-Erzähler undurchschaubare Macht verfügt, als heimliche Führerfigur herausgebildet.

Kracht greift in seinem Roman auf charakteristische Motive der Weltkriegs-Narration zurück, ohne explizit auf die Romane der Zwischenkriegszeit zu verweisen. Wie die Frontkämpfer-Narrative verlegt er den Beginn der Handlung in den Krieg, der dadurch zum Alltag wird, dass in Europa keine Menschen mehr leben, die noch im Frieden geboren worden sind. Die Gesellschaft ist durch und durch von der Kriegserfahrung geprägt. In einer Analepse wird aber dennoch ein Gegenmodell entwickelt, indem die glückliche Kindheit des Protagonisten im fernen Afrika geschildert wird. Auch hier wird also das Muster des glücklichen, vom Krieg (und der durch den Krieg bedingten Rekrutierung von Offizieren im fernen Afrika) vor eine neue Herausforderung gestellten Kämpfers aufgerufen. Dieser wird als einer der wenigen, die des Schreibens noch mächtig sind, als trotz seiner Herkunft der alten Welt verhaftete Figur gezeigt, die andererseits Merkmale einer Messias-Figur erhält, etwa durch sein besonderes Merkmal, dass sein Herz anatomisch verkehrt auf der rechten Seite liegt.

Die aufgeschobene Zäsur, die mit dem Kriegsende herbeigesehnte ›Volksgemeinschaft‹ ist für den Protagonisten in der der Schweizer Sowjet Republik an ← 21 | 22 fänglich verwirklicht: „Die Stärke der SSR war ihre Menschlichkeit.“58 Erst im Lauf der Erzählung wird ihm bewusst, dass er mit seinem Glauben an die SSR einer falschen Ideologie folgt.59 Immer wieder stößt er auf Soldaten, die ihn wegen seiner Hautfarbe ihre Verachtung spüren lassen. Immer wieder beschreibt er die Grausamkeit der Zivilbevölkerung wie der Soldaten. Langsam verändert sich seine Realitätswahrnehmung. Dies wird unter anderem durch die Wahrnehmung einer unbekannten Gefahr vorbereitet, als er auf dem Ritt ins Réduit nach der unerklärlichen Ermordung zweier seiner Soldaten, das Gefühl seiner Verunsicherung eindrücklich formuliert: „Die Kausalität schien aufgehoben. Was ich gesehen hatte und was passiert war – mit meiner Wahrnehmung stimmte etwas nicht.“60 Diese Selbstbeobachtung der fokalisierten Figur trifft das Wesen des Krieges, die Unmöglichkeit, die von ihm ausgelösten sinnlichen Erfahrungen zu verstehen (und zu erzählen). Der Weg der Figur wird im Folgenden als Sinnkrise ausgestaltet. Da seine Identität über den Krieg hergestellt ist – „Es war notwendig, dass der Krieg weiterging. Er war der Sinn und Zweck unseres Lebens, dieser Krieg. Für ihn waren wir auf der Welt.“61 – ist die Reise ins Innere der Schweiz zugleich eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Zwar findet er den Oberst Brazhinsky. Es scheint ihm aber, unter anderem aufgrund der Erkenntnis, dass es sich beim Réduit um einen Raum mit eigenen Gesetzen handelt,62 nicht mehr notwendig zu sein, diesen auch zu verhaften und damit seinen Auftrag zu erfüllen. Er lernt von Brazhinsky die geheime Rauchsprache und erkundet das Réduit. Diese Erkundungen stellen seine auf den Krieg gegründete Identität radikal in Frage:

[Ich] konnte zu keinem rechten Ergebnis kommen im Kopfe, ausser, dass hier oben etwas zu Ende ging, dass eine fürchterliche und allumfassende Dekadenz des Geistes betrieben wurde, die sich durch die Bergfestung manifestierte.63

Nach dem unerklärlichen Selbstmord Brazhinsky und einem heftigen Angriff der Deutschen, der die Grundfesten des Réduit zu erschüttern scheint, zieht er die Konsequenz aus seinen Erfahrungen und begibt sich auf den Weg in die Heimat. Der Ausweg aus der als apokalyptisch erfahrenen Wirklichkeit nach hundert Jahren Krieg besteht, so führt es Kracht vor, in einer Absage an jegliche Zivilisation, der Verlust seines Notizbuches auf der Reise in die Alpen beunruhigt das Ich nicht, und in einer Rückkehr in die Heimat der Kindheit. Das ← 22 | 23 ferne Afrika ist der Sehnsuchtsort, an dem die Natur sich die Kultur zurückerobert. Ob in diesem neuen Raum noch Platz für den Menschen ist, lässt der Roman offen.

Kracht greift in seinem Roman vor allem Elemente aus dem Narrativ der ›Ideen von 1914‹ auf, formuliert sie aber insofern um, als bereits der Ausgangspunkt des Krieges im Roman von sozialistischen Ideen bestimmt ist. Der Glaube an eine den anderen Völkern überlegene ›Volksgemeinschaft‹ wird dabei von einem Menschen mit dunkler Hautfarbe formuliert. Allerdings wird diese Idee einer alle nationalen Grenzen überwindenden, sozialistischen Gemeinschaft im Roman immer wieder unterlaufen. Der Dreischritt – langdauernde Krise, ereignishafte Zäsur und sehnsuchtsvoller Aufbruch – wird auch im Roman von Kracht gestaltet. Allerdings ist der Ausgangspunkt hier insofern verkehrt, als gerade die Idee der ›Volksgemeinschaft‹ die Krise bedingt und erst die Erkenntnis der Figur, dass diese ›Volksgemeinschaft‹ nicht besteht, zur Zäsur führt und damit auch den Aufbruch in eine neue Form der Zivilisation ermöglicht. Rein körperlich wird diese Veränderung der Figur dadurch angezeigt, dass ihre Pupillen sich blau verfärben. Damit wird er zum Vorkämpfer der auf rätselhafte Weise angedeuteten Veränderung: „Und die blauen Augen unserer Revolution brannten mit der notwendigen Grausamkeit.“64

Im Unterschied zur ideologischen Orientierung des Narrativs der ›Ideen von 1914‹ ist das Frontkämpfer-Narrativ am Ereignis und dem Individuum orientiert und bietet zudem, wie die vorgestellten aktuellen bzw. bisher wenig rezipierten Beispiele zeigen, die Möglichkeit die Struktur des Frontkämpfer-Narrativs zu erhalten, die einzelne Narration dennoch produktiv zu variieren, etwa in Form der kontrafaktischen Erzählung Krachts oder Lemms Huren- und Marienfigur Salomea. In dem aufgezeigten Spannungsfeld bewegen sich die Beiträge dieses Bandes.

Details

Seiten
237
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653044188
ISBN (ePUB)
9783653986327
ISBN (MOBI)
9783653986310
ISBN (Hardcover)
9783631651599
DOI
10.3726/978-3-653-04418-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Heimatfront U-Boot Frontdarstellung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 237 S., 2 farb. Abb., 12 s/w Abb.

Biographische Angaben

Miriam Seidler (Band-Herausgeber:in) Johannes Waßmer (Band-Herausgeber:in)

Miriam Seidler ist Akademische Rätin a.Z. am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des 17. bis 20. Jahrhunderts, Geschichte weiblichen Schreibens und Neugier in der Literatur. Johannes Waßmer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Literatur des Ersten Weltkriegs und der Moderne, Hermann Hesse sowie Martin und Paula Buber.

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Titel: Narrative des Ersten Weltkriegs
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