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Wissen

Wissenskulturen und die Kontextualität des Wissens

von Hans Jörg Sandkühler (Band-Herausgeber:in)
©2014 Sammelband 201 Seiten

Zusammenfassung

Wissenskultur ist ein über wissenshistorische und wissenssoziologische Untersuchungen hinaus auch in philosophisch-epistemologischen Theorien verwendeter Begriff. Er bezeichnet, dass das menschliche Erkennen und Wissen in Kontexte komplexer kultureller – epistemischer und praktisch-sozialer – Netzwerke eingebunden ist. Er gehört zum Lexikon des Kontextualismus. Der Begriff bezieht sich in erster Linie auf die Entstehung von Wissen, hat aber auch Konsequenzen hinsichtlich der Geltung von Wissen. Die Problemstellung einer Epistemologie, die Wissenskulturen systematisch berücksichtigt, lautet nicht, wie das menschliche Erkennen und Wissen eine substanziell verstandene Realität nach dem Maß der Dinge abbildet, sondern wie im Pluralismus von Wissensordnungen, epistemischen Konstellationen bzw. Wissenskulturen phänomenale Wirklichkeiten nach Menschenmaß entstehen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Vorbemerkung
  • I. Systematische Wissensforschung
  • Systematic Knowledge Research. Rethinking Epistemology
  • 1. Types and Forms of Knowledge and Their Taxonomy
  • 2. Knowledge Research and Its Objects
  • 3. Knowledge Research as a Reflective, Fundamental Investigation
  • 4. Knowledge Research in Action: Four Examples of Interaction Between Different Forms of Knowledge
  • Example 1: Conceptual and Non-Conceptual Knowledge
  • Example 2: Explicit and Implicit Knowledge
  • Example 3: Distributed and Integrated Knowledge
  • Example 4: Knowing-How and Knowing-That
  • 5. Forms of Knowledge and Creativity
  • 6. Knowledge Research and Epistemology
  • References
  • Knowing-How: Indispensable but Inscrutable
  • 1. The Relevance and Status of Knowing-How
  • 1.1 Knowing-How as a Practical Skill and Procedural Knowledge
  • 1.2 Knowing-How and Propositional Knowledge
  • 2. Knowing-How as Practice Knowledge and as the Ability to Follow Rules
  • 2.1 Practice-internal Rule-Following
  • 2.2 Action and Rule
  • 2.3 Practical Execution Skills and Conceptual Knowledge
  • References
  • II. Wissenskulturen
  • Wissenskulturen. Zum Status und zur Funktioneines epistemologischen Konzepts
  • 1. Der Begriff
  • 2. Zum Status und zur Funktion von Wissenskulturen
  • Literatur
  • Wissenskulturen und epistemische Praktiken
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • 7.
  • 8.
  • Literatur
  • Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie
  • 1. Wissenskulturen
  • 2. Zur Geschichte des Begriffs ›Wissenskultur‹
  • 3. Wissenskulturen, Kulturelles Wissen und Wissen
  • 4. Wissenskulturen, Wissensgeschichte und historische Epistemologie
  • 5. Eine Theorie der Wissenskultur
  • Konstruktionsprobleme des Sozialkonstruktivismus
  • 1. Wissenschaftsgeschichte und Geschichtswissenschaft
  • 1.1 Einleitung
  • 1.2 Konstrukte und natürliche Arten
  • 1.3 Rekonstruktion und Konstruktion
  • 2. Soziale und kulturelle Konstruktion von Wissen. Praktische Schwierigkeitenam Beispiel von Shapin und Schaffers Rekonstruktion der englischen Experimentalkultur
  • 2.1 Kultureller und sozialer Kontext
  • 2.2 Methodische Schwierigkeiten
  • 2.3 Schwierigkeit: Lokales Wissen
  • 3. Folgerungen: Für eine kulturhistorisch-komparatistische Epistemologie
  • 3.1 Kontingenzprobleme: Konstruktionen von Objektivität
  • 3.2 Konstruktionen von Kontinuität
  • 3.3 Kontextualisierte Epistemologie und epistemologischer Kontextualismus
  • Literatur
  • Wissenskulturen und Experimentalkulturen
  • 1. Das Experiment und die (Re-)Präsentation von Realität
  • 2. Experimentelle Praxis als epistemologisches und wissenschaftstheoretisches Problem
  • 3. Experimentalsysteme, epistemische Dinge und Experimentalkulturen
  • 4. Kognitionswissenschaftliche Experimentalkultur
  • Bibliografie
  • Literatur
  • III. Kontextualismus
  • Epistemological Contextualism and Cultures of Knowledge
  • 1. Epistemological contextualism and skepticism
  • 2. Epistemological contextualism as relevant alternatives account
  • 3. Standards of justification
  • 4. Mild epistemological contextualism
  • 5. Non-veritistic social epistemology
  • 6. Veritistic social epistemology
  • 7. Theories of cultures of knowledge
  • Cultures in the social sense
  • Epistemic cultures
  • 8. Veritistic versus non-veritistic social epistemology: A brief comparison
  • 9. Ingredients of epistemic contexts, extended disquotational truth, and superjustifiable belief
  • 10. Veritistic approaches to social epistemology and the problem of relativism
  • References
  • Knowledge in Context
  • 1. Epistemic Contextualism
  • 2. Examples
  • 3. Context-Sensitivity
  • 4. Indexical vs. Nonindexical Contextualism
  • 5. Summary
  • References
  • Personenregister
  • Reihenübersicht

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Vorbemerkung

›Wissenskultur‹ ist ein seit den späten 1990er Jahren über wissenshistorische und wissenssoziologische Untersuchungen hinaus auch in philosophisch-epistemologischen Theorien verwendeter Begriff. Er bezeichnet, dass das menschliche Erkennen und Wissen in Kontexte komplexer kultureller – epistemischer und praktisch-sozialer – Netzwerke eingebunden ist. Er gehört zum Lexikon des Kontextualismus. Der Begriff bezieht sich in erster Linie auf die Genesis von Wissen, hat aber auch Konsequenzen hinsichtlich der Geltung von Wissen. Die Problemstellung einer Epistemologie, die Wissenskulturen systematisch berücksichtigt, lautet nicht, wie das menschliche Erkennen und Wissen eine substanziell verstandene ›Realität‹ nach dem Maß der Dinge abbildet, sondern wie im Pluralismus von Wissensordnungen, epistemischen Konstellationen bzw. Wissenskulturen phänomenale Wirklichkeiten nach Menschenmaß entstehen.

Die mit dem Begriff ›Wissenskulturen‹ verbundene erkenntnis- und wissenstheoretische Konzeption ist eine Antwort auf die nicht allein für Philosophie, Wissenschaften und Künste, sondern auch für die Alltagsorientierung zentrale Frage, ob das Erkennen und Wissen einen direkten Zugang zu einer objektiven, d.h. von menschlichen Bewusstseinsleistungen unabhängigen Realität hat, d.h. auf die unter dem Namen ›Realismusproblem‹ firmierende Problematik.

Spätestens seit Kant hat die moderne Kritik der Möglichkeitsbedingungen von Wissen zu der Einsicht geführt, dass Aussagen keine Kopien des zu Erkennenden sind, sondern mit Voraussetzungen geladene Artefakte: geladen mit epistemischkulturellen und praktischen Voraussetzungen, epistemischen und praktischen Bedürfnissen und Interessen sowie mit propositionalen Einstellungen des Meinens, Glaubens und Überzeugtseins, des Wünschens und Befürchtens.

Aus dem kontextualistischen Begriff ›Wissenskulturen‹ kann, muss aber keine Verwechslung von Genesis und Geltung des Wissens folgen. Wissen kann unabhängig von seiner Herkunft wahr oder falsch sein. Doch das für wahr gehaltene Wissen ist als für wahr gehaltene Überzeugung ein Wissen mit bedingter Wahrheit, ein Wissen, das in einer bestimmten Wissenskultur zu einem bestimmten Zeitpunkt individuell bzw. kollektiv anerkannt ist, und zwar genau dann, wenn sich die epistemische Interaktion auf die als ›dieselbe‹ angenommene mögliche Welt bezieht. Auch folgt aus dem kontextualistischen Begriff ›Wissenskulturen‹ nicht die Leugnung der bewusstseinsunabhängen Existenz der Dinge in der Außenwelt. Solange es um die ihre bloße Existenz geht, ist Antirealismus ein philosophisches Spiel ohne epistemologischen Nutzen, eine, wie R. Carnap sagte, ‹leere Zutat zum Wissenschaftssystem‹. Die ›Außenwelt‹, die ›Gegenstände‹ und die ›Tatsachen‹ sind in erkenntnis- und wissenstheoretischer Perspektive nur deshalb interessant, weil sie die Antwort auf die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten des kognitiven Bezugs zu ihnen nicht selbst liefern. ← 7 | 8 →

Der so umschriebene ›interne Realismus‹ist eine Provokation nicht nur für den Alltagsrealismus, sondern auch für realistische Überzeugungen in Philosophie und Wissenschaften. Neu ist er nicht. Es gab und gibt ihn immer dort, wo ein Veto eingelegt wird gegen das naive Vertrauen in den direkten Bezug (Referenz) der Sinneswahrnehmungen und in deren exklusiven objektiven Zugang zur Realität: Die Sinneswahrnehmung stellt die Daten nicht so zur Verfügung, wie sie interpretiert werden. Vielmehr wird in Erkenntnis und Sprache, in Zeichen und symbolischen Formen, durch Experiment, Messung und Dateninterpretation, die vermeintlich objektiv gegebene ›Realität‹ zu jener Wirklichkeit, wie Menschen sie nach ihrem Maß interpretieren und verstehen können. ›Interner Realismus‹ bedeutet, dass die Frage, aus welchen Gegenständen die Welt besteht, nur im Rahmen einer Theorie bzw. einer Beschreibung sinnvoll gestellt werden kann. Gegenstände existieren nicht unabhängig von Zeichen- und Begriffsschemata. Sowohl die Gegenstände als auch die Zeichen sind interne Elemente des Beschreibungsschemas, und in diesem Rahmen ist es möglich, anzugeben, was wem entspricht. Die Beschreibungsschemata werden in Kontexten spontan oder bewusst gewählt, und zwar innerhalb dessen, was Ludwik Fleck ›Denkstile‹ genannt hat und Gaston Bachelard ›episte-mologische Profile‹.

Die in diesem Buch versammelten Beiträge sind als eine kritische Bilanz der wissenstheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte zu verstehen. Es zeigt sich, dass die mit dem Konzept ›Wissenskulturen‹ zunächst verbundene Euphorie Dämpfer erhalten hat. Eröffnet wird das Buch im ersten Teil mit Günter Abels Systematic Knowledge Research. Rethinking Epistemology, der Vorstellung eines neuen, die Epistemologie revidierenden Ansatzes zur Wissensforschung. Dieses Forschungsprogramm erweitert die Wissenstheorie insofern, als es sich dem Wechselspiel der unterschiedlichen Wissensformen widmet und sowohl begriffliches als auch nicht-begriffliches, sowohl explizites als auch implizites Wissen einbezieht. Die Ausgangsthese lautet, dass in der Dreierkonstellation zwischen einem Individuum, anderen Personen und der Welt verschiedene unverzichtbare Wissensformen wirksam sind. Abel unterscheidet in seiner Taxonomie des Wissens enge und weite Wissenskonzeptionen. Das enge Konzept bezieht sich auf Kognitionsakte, die an methodisch geregelte Verfahren, Rechtfertigung, Wahrheit, Rationalisierung und Demonstrierbarkeit gebunden sind; Wissen muss diskutierbar, kommunizierbar, tradierbar und intersubjektiv verifizierbar sein. Der Prototyp dieses so verstandenen Wissens sind die Wissenschaften. Das weite Wissenskonzept stellt ab (i) auf die Fähigkeiten des angemessenen Erfassens von Vorgängen und unterschiedlichen Dingen (Gesten, Bildern, Sätzen) und (ii) auf basales menschliches Können, auf Kompetenzen und Praktiken; Wissen wird als unhintergehbare Komponente der Faktizität menschlichen Handelns, Sprechens, Denkens und Erfahrens gesehen. Das so verstandene Wissen ist Bestandteil des Alltagslebens, der Alltagspraxis und des knowing-how, aber auch der Künste und Wissenschaften. Dieser weite, das Alltagwissen, das theoretische Wissen, ← 8 | 9 → das praktische Wissen und das Orientierungswissen sowie deren Interaktionen umfassende Wissensbegriff ist unverzichtbar für eine Epistemologie, die Fragen nach der Geltung und Rechtfertigung von Wissen sowie nach Grenzen des Wissens angemessen zu beantworten fähig ist. In diesem Sinne muss Wissensforschung der Epistemologie vorausgehen.

Zu diesem weiten Begriff von Wissen, mit dem Menschen spontan und ohne die Notwendigkeit reflexiver Kontrolle permanent operieren, gibt Günter Abel in seinem zweiten Beitrag Knowing-How: Indispensable but Inscrutable nähere Erläuterungen: Es geht um die drei in praktischer Erfahrung gründenden, mit Regelbefolgung verbundenen und nicht notwendigerweise durch theoretisches Wissen gestützen Wissensmodi (a) ›knowing how something works‹, (b) ›knowing how it is to be or to have an x,, und (c) ›knowing how to do something‹, die ein komplexes Netzwerk von Interaktionen bilden.

Details

Seiten
201
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044850
ISBN (ePUB)
9783653986266
ISBN (MOBI)
9783653986259
ISBN (Hardcover)
9783631651629
DOI
10.3726/978-3-653-04485-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Erkenntnis und Wissen Wissenskulturen Kontextalismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 201 S.

Biographische Angaben

Hans Jörg Sandkühler (Band-Herausgeber:in)

Hans Jörg Sandkühler, Professor emeritus für Philosophie der Universität Bremen, zuvor an der Universität Gießen; ehemaliger Leiter der Deutschen Abteilung Menschenrechte und Kulturen des UNESCO-Lehrstuhls für Philosophie (Paris); Herausgeber der Enzyklopädie Philosophie.

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Titel: Wissen
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