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Der junge Adolf Bastian, 1826 bis 1860

Auf dem Weg zu einer neuen Wissenschaft vom Menschen

von Jutta E. Bellers (Autor:in)
©2015 Dissertation 264 Seiten

Zusammenfassung

Adolf Bastian etablierte die Ethnologie als akademisches Fach. Die Biographie seiner frühen Lebensphase war bislang ethnologiegeschichtlich ein Desiderat. Archivalische Quellen beleuchten Einflüsse auf sein Denken aus dem protestantischen Bremer Bürgertum und seiner Studienzeit im Vormärz. Über ethnologische Fragestellungen hinaus führt dies zu philosophischen Überlegungen seiner Idee einer Wissenschaft vom Menschen, seinen Idealen und Hoffnungen in die Forschung. Impulse dazu entstammen dem Denken Spinozas, Kants, Herder, Humboldt, Krauses und Fechners. Infolgedessen unternimmt er eine Weltreise. In dem neu bearbeiteten Itinerar ist Angola eine seiner Stationen. Zu dieser Etappe verfasste Bastian einen Reisebericht. Dieser enthält seine Sicht auf afrikanische Glaubensvorstellungen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhalt
  • 1. Einleitung
  • 2. Familie und Bildung, 1826–1845
  • 2.1 Bremer Kaufmannsfamilie und der Welthandel
  • 2.1.1 Die Familie Bastian-Dwerhagen
  • 2.1.2 Die kulturelle Bedeutung des Welthandels
  • 2.1.3 Adolf Bastian als Welt-Hospitant
  • 2.2 Protestantische Konfession und die Naturforschung
  • 2.2.1 Protestantismus und Bremer Bürger-Union
  • 2.2.2 Die kulturelle Bedeutung der Naturforschung
  • 2.2.3 Adolf Bastian 1844: Über die Verhältnisse der Welt
  • 2.3 Humanistische Bildung und das Kulturverständnis um 1845
  • 2.3.1 Schulzeit und Freunde
  • 2.3.2 Die kulturelle Bedeutung der höheren Bildung
  • 2.3.3 Adolf Bastian 1844: Die Bildung der Völker
  • 3. Studienorte, 1845–1850
  • 3.1 Heidelberg
  • 3.1.1 Heidelberger Student von 1845 bis 1846
  • 3.1.2 Adolf Bastians naturrechtliche Betrachtungen
  • 3.1.3 Das Modell des freien Bürgers
  • 3.2 Berlin
  • 3.2.1 Berliner Student von 1846 bis 1848
  • 3.2.2 Adolf Bastians naturwissenschaftliche Betrachtungen
  • 3.2.3 Das Modell von der Erde als Habitat der Völker
  • 3.3 Jena und Würzburg
  • 3.3.1 Jenaer und Würzburger Student von 1848 bis 1850
  • 3.3.2 Adolf Bastians psychologische Betrachtungen
  • 3.3.3 Das Modell von der Physis der Psyche
  • 4. Weltreisender und erste Publikationen, 1851–1860
  • 4.1 Die Weltreise von 1851 bis 1858
  • 4.1.1 Adolf Bastian als Mediziner auf Australien-Fahrt
  • 4.1.2 Meine Reise um und durch die Welt
  • 4.2 Afrikanische Reisen: Ein Beitrag zur Mythologie und Psychologie
  • 4.2.1 Ein Besuch in San Salvador
  • 4.2.2 Adolf Bastians kulturhistorische Betrachtungen
  • 4.2.3 Die Begegnung mit dem Grossfetisch von Dembu
  • 5. Der Mensch in der Geschichte, 1860
  • 5.1 Der kulturphilosophische Entwurf
  • 5.2 Adolf Bastians weltanschauliche Betrachtungen
  • 5.3 Die Gedankenstatistik
  • 6. Schlussbetrachtung
  • 7. Anhang: Materialien zu dem Einfluss von Bildung und Reise auf den Lebensweg Adolf Bastians
  • 7.1 Aufsatz Nr. 35: Über das Verhältnis der Welt, 16. 02. 1844
  • 7.2 Aufsatz Nr. 41: Worte, gesprochen bei der Einführung eines neuen Mitgliedes, 07. 07. 1844
  • 7.3 Aufsatz Nr. 42: Die Bildung der Völker, 21. 06. 1844
  • 7.4 Literaturstudium: Auswahl an Gelehrten
  • 7.5 Stationen der Reiseroute von Dezember 1851 bis September 1858
  • 7.5.1 Die nummerierten Stationen der Reiseroute, Dezember 1851 bis September 1858, auf eine zeitgenössische Erdkarte übertragen
  • 7.6 Die Vita activa Adolf Bastians: erste Berliner Ethnologen, 1861–1905
  • 8. Quellenverzeichnis
  • 8.1 Abkürzungsverzeichnis
  • 8.2 Literaturverzeichnis
  • 8.3 Archivalien

1. Einleitung

„Die Jugend der Ethnologie, diese jüngst geborene, oder, wenn man will, kaum erst in embryonaler Entwicklung befindlichen Wissenschaft, ergibt sich von selbst aus der ihr gestellten Aufgabe. Die Ethnologie bezeichnet sich in der Etymologie ihres Namens als die Lehre von den Völkern auf der Erde, sie bedarf also klärlich genug, vorher einer Uebersicht derselben, […]. Andere der induktiven Naturwissenschaften freilich, […], sind rascher zu systematischer Vollendung herangereift, weil ihnen ein deutlich und fest umschriebenes Feld der Beobachtung vorlag, wogegen die Ethnologie, die als die Wissenschaft vom Menschen einen letzten Abschluss anstreben soll, nur langsamer Entwicklung fähig ist, denn sie hängt ab von der Hilfe der Uebrigen, […].“1

Mit dem Namen Adolf Bastian ist die Etablierung der Ethnologie 1871 an der Friedrich-Wilhelms-Universität und die Ausgestaltung der ethnographischen Abteilung der Königlichen Museen ab 1868 zu einem eigenständigen und in seiner Zeit bedeutenden Museum für Völkerkunde in Berlin verbunden. Die biographischen Angaben zu seinem Lebenslauf stützen sich bis heute auf die, mit Bastian zu seinen Lebzeiten bekannten, Autoren Thomas Achelis (1850–1909)2 und Richard Schwarz3. Ihre biographischen Angaben finden sich, ergänzt durch persönliche Einschätzungen, in den Nachrufen verschiedener Zeitgenossen und in den ersten Lexikoneinträgen Anfang des 20. Jahrhunderts. Deren chronologische Fassungen enthalten die Informationen, nach denen der in Bremen geborene Bastian einer Kaufmannsfamilie entstammte und nach dem Abitur in Heidelberg, Berlin, Jena, Würzburg und Prag Jura und Medizin studierte. Seine Promotion erwarb er 1850 im Fach Medizin und wurde als Schüler Rudolf Virchows (1821–1902) bezeichnet. Nach seinem Studium soll er als Schiffsarzt – die Angaben sind in der Literatur jedoch widersprüchlich – zwischen 1850 und 1852 bis 1858 oder 1859 durch die Welt gereist sein, um sich – nach einem Aufenthalt in Bremen und der Publikation von zwei Werken – von 1861 bis 1865 auf eine Asienreise zu begeben. Bastian etablierte sich danach ab 1868 in Berlin – und seine weiteren Forschungsreisen ← 11 | 12 → und seine Verdienste um das Fach und das Museum wurden in diesen frühen Rückblicken herausgestellt.4

Um 1970 erschienen zwei Monographien zu Leben und Werk Bastians. Zur Biographie enthalten die Arbeiten von Wilhelm Seidensticker (1938–1996) und Annemarie Fiedermutz-Laun neben der Erwähnung seiner hanseatischen Herkunft, die Auflistung seiner Ausbildung an den Universitäten und eine kurze Reisebeschreibung.5 Zu Bastians ersten beiden Publikationen wird festgehalten, dass Afrikanische Reisen – Ein Besuch in San Salvador, der Hauptstadt des Königreichs Congo (1859) neben dem Reisebericht theoretische Erörterungen enthalte, die für seine gesamte Lehre von Bedeutung seien.6 Das dreibändige Der Mensch in der Geschichte – Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung (1860) wurde als grundlegendes Werk und Programm für die folgenden Jahrzehnte angesehen, dessen Bearbeitung noch ausstehe.7

Seidensticker spricht an, dass Bastian eine psychologische Theorie des Denkens entwickelt habe und sich mit den Schriften des Gründers der Psychophysik, Gustav Theodor Fechner (1801–1887), auseinandergesetzt haben müsse, weil er auffällig oft auf ihn verweise.8 Fiedermutz–Laun zitiert Bastians kritische Sicht zu Fechners Psycho–Physik, die mit der Selbstbeobachtung in sich selber feststecke.9 Die Psycho–Physik fand jedoch in anderer Hinsicht die Anerkennung Bastians, da sie sein Endziel, das Ineinandergreifen von Natur- und Geisteswissenschaft verwirkliche.10

Fiedermutz-Laun hebt 1970 hervor, dass Alexander von Humboldts (1769–1859) Idee eines harmonischen Kosmos einen Einblick in Bastians Weltanschauung geben könne, weil sein ethisch-religiöser Idealismus darin einen Ausdruck finde.11 Ebenso habe Bastian sein Leben nach dem, ihm persönlich bekannten, Vorbild ausgestaltet und sich A. v. Humboldts Überzeugung, dass Weltreisen am meisten geeignet seien, die Wissenschaften zu fördern12, angeschlossen. ← 12 | 13 → Zum Humanitätsgedanken bei Bastian sah Fiedermutz-Laun eine Anbindung an Johann Gottfried Herder (1744–1803) und dessen Postulat: Humanität ist der Zweck des Menschen, mit dem Ziel der Erziehung des Menschengeschlechts.13

In der vorliegenden Arbeit werden diese hier einleitend skizzierten Einflüsse, nun auf den jungen Bastian, vertiefend aufgegriffen.

Bastian selbst resümierte als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät in Berlin 1868 zunächst eine positive Aufnahme seiner Publikationen durch andere Gelehrte. Er empfand dies als Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistung, die er mit seiner ersten Reise erbracht habe. Bastian sah aber auch schon früh die Gefahr, dass seine bisherigen Schriften unter verkehrten Wappenschildern in die Literatur eingeführt werden, obwohl er zuvor seine Prinzipien im Mensch in der Geschichte dargelegt hatte.14

Anlässlich seines 100. Todestages wurde während eines Symposions15 nach seinem wissenschaftlichen Erbe in den Sammlungen des heutigen ethnologischen Museums und in der Ethnologiegeschichte gefragt. Als Autor hatte er eine Fülle von Abhandlungen, Fachartikeln und Rezensionen hinterlassen, die mehrheitlich noch vorhanden sind.16 Eine numerische Erfassung seiner Titel zeigt, dass er mit 32 selbstständig erschienenen Publikationen zur Ethnologie aller Erdteile und mit weiteren 21 Arbeiten zur Psychologie im Allgemeinen vertreten ist. Hinzu kommen zahlreiche wissenschaftliche Fachartikel und Beiträge in Sammelbänden. Seine darin dargelegten Gedankengänge galten wegen seines eigenwilligen Schreibstils als schwer nachvollziehbar und ihm haftete der Ruf an, als ein theoretischer Wolkenwanderer17 darin seine überquellenden Vorstellungen festzuhalten.

In ihrem Vortrag gab Fiedermutz–Laun im Rahmen des Symposiums einen Überblick über den Nachlass Bastians, dessen Zusammenführung und Erschließung sie sich widmet.18 Der Nachlass umfasst rund 2.000 Archivalien, bestehend aus Briefen, Berichten, Studien und Zeichnungen und erfordert aus gegenwärtiger Sicht eine Bearbeitung in mehreren Abschnitten.19 Ein Beispiel aus den Archivalien verdeutlicht, welche Möglichkeiten der Aussage zu Leben ← 13 | 14 → und Wirken Bastians dieser weitgehend noch nicht veröffentlichte Nachlass enthält. In einem Brief an Georg von Neumeyer (1826–1909) betonte Bastian 1904 rückblickend die Bedeutung der Weichenstellung für die Ethnologie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Seitdem war er bemüht, einen Überblick über das Menschengeschlecht auf dem Globus intellectualis zu erlangen.20 Tapan Kumar Das Gupta21 sah 1990 in Immanuel Kants (1724–1804) Philosophie und in dessen Definition der intelligiblen Welt den Schlüssel zu den im 20. Jahrhundert rätselhaft erscheinenden Ansichten Bastians.

Bastian selbst äußerte sich 1881 in Die Vorgeschichte der Ethnologie – Deutschland’s Denkfreunden gewidmet für eine Mussestunde zu den von ihm so genannten Lebensfäden dieser Disziplin. Die neue Wissenschaft erhielt 1869 den Namen Ethnologie, weil die beteiligten Kollegen im Gründungskomitee der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte an der tradierten Dreiteilung der Welt festhielten. Danach war seit den ältesten kirchlichen Schriften die Welt in die festis christianorum, judaeorum und ethnicorum aufgeteilt. Unter Ethnicismus wurden alle Völker zusammengefasst, die zum so genannten Heidentum gezählt wurden. Für Bastian verdeutlichte dieser Terminus seinerzeit am besten den vorläufigen Gegenstand des Faches. Theoretisch gehörten für ihn aber nicht nur dieser, sondern alle Weltbereiche zur Ethnologie, um eine vollständige Geschichte der Menschheit zu schreiben. Die Vereinbarung einer Beschränkung gelte jedoch nur solange, bis genug Wissen über die Völker der Welt vorhanden sei. Solange beanspruche die Ethnologie, keine historischen Vorrechte auf die Völker der alten Welt.22

Die Völkerkunde oder die Lehre von den Völkern der Erde entstand nach Bastian mit den Gründungen der menschenfreundlichen Gesellschaften zu Beginn des 18. Jahrhunderts und sei ohne begriffliche Festlegung auch Ethnographie oder Ethnologie genannt worden. Ihr Ziel sei es gewesen, eine Universalhistorie der Menschheit zu schreiben, und er verwies auf die Helvetische Gesellschaft und Isaac Iselin (1728–1782). Der hatte mit den Muthmassungen über die Geschichte der Menschheit 1764 einen hypothetischen, kulturgeschichtlichen Abriss von der Antike bis zu den Nationen Europas verfasst. Darin war er auf Unterschiede bei den so genannten barbarischen Zuständen von Völkern und den aufgeklärten und freiheitlichen in den republikanisch verfassten Nationen eingegangen.23 Bastian betonte, der Pfarrer und Schriftsteller Johann Gottlieb Steeb ← 14 | 15 → (1742–1799)24 habe bereits in seinem Versuch einer allgemeinen Beschreibung von den Zuständen der ungesitteten und gesitteten Völker nach ihrer moralischen und physikalischen Beschaffenheit (1766) den Wert der Betrachtung der primitiven Stämme für das Anliegen einer chronologischen Geschichtsschreibung erkannt. Als prophetisches Werk dieser Zeit galt ihm dagegen Herders Ideen zu einer Geschichte der Menschheit, weil der Theologe in ihnen den Gesellschaftszustand des Menschen als Naturzustand erkannt und schon 1785 eine kultur-anthropologische Übersicht oder Völkerkarte der Erde gefordert habe.25 Ansonsten, hielt Bastian fest, habe es im 18. Jahrhundert Arbeiten zu den Völkern nur unter der selbstgewählten Beschränkung auf Europa gegeben. Als Beispiel erwähnte er den Historiker August Ludwig Schlözer (1735–1809).26

Auf der Suche nach den Vorläufern der modernen Kultur- und Sozialanthropologie amerikanischer Prägung ging Han F. Vermeulen 2006 der Verwendung der Begriffe Völkerkunde, Ethnographie und Ethnologie im europäischen Sprachraum nach. Die Bezeichnungen Völkerkunde und ‚Ethnographia‘ wurden im 18. Jahrhundert synonym verwendet und traten 1740 bei Gerhard Friedrich Müller und dann 1767 und 1771 bei den Göttinger Historikern Schlözer und Johann Christoph Gatterer (1727–1799) erstmals auf. Die Göttinger nutzten die Völkerbeschreibungen der Geographie für ihre Universalgeschichtsschreibung. Der Terminus ‚Ethnologia‘ selbst fand sich zum ersten Mal 1783 in einer in Wien veröffentlichten Arbeit über die Geschichte der Ungarn von Adam František Kollár (1718–1783) und 1787 in den philosophischen Schriften des Theologen Alexandre-César Chavannes (1731–1800) aus Lausanne, der sie als Teil einer neuen Anthropologie oder universalen Wissenschaft vom Menschen ansah.27 Chavannes hatte, so das Historische Lexikon der Schweiz, unter diesem Namen zu einer empirischen Anthropologie ou science generale de l’homme aufgerufen. Er hatte die Ethnologie mit pädagogischen Absichten und – ebenfalls in der Tradition der Aufklärung – mit der Aussicht verbunden, eine Geschichte der Entwicklung der Völker zu schreiben.28

Mit der Ermittlung der chronologischen Verwendung von, Ethnographie‘ und, Ethnologie‘ in der Literatur des 18. Jahrhunderts bestätigt sich eine damals existierende Begriffskonfusion. Vermeulen isoliert und gewichtet daraus zwei Entwicklungsstränge, einen national- und einen universalhistorischen. Der erste ← 15 | 16 → sei aus politischen Gründen durch das Zusammenleben vieler Völker in Europa, und da hauptsächlich im Zarenreich, entstanden. Diese Ethnographie sei als Vorläufer der ‘sociocultural anthropology’ anzusehen, weil sie sich der Ethnizität zugewendet habe. Der universalistische Strang sei durch die philosophische Anthropologie geprägt worden, wobei Impulse zum Kulturverständnis einzig durch Herder gegeben worden seien. Dieser habe auch die Kulturanthropologie von Franz Boas (1858–1906) geprägt. Ansonsten habe die philosophische Anthropologie des 18. Jahrhunderts keinen Einfluss auf die Entstehung der Ethnologie gehabt. Durch Theophil Ehrmann (1762–1811) hätten komparative und deskriptive Studien zum ersten Mal eine Stimme bekommen.29

Nach der Definition eines Lexikoneintrags von 1858 untersuchte die frühe Ethnographie, in der Bastian sich 1866 habilitierte, die Völker der Welt nach ethischen Kriterien. Die Völker wurden – ohne Herder zu erwähnen – als Gesellschaften definiert, die durch ethische Bande, wie das der Religion oder das des Rechtssystems, zusammengehalten würden. Die Sprache sei dabei die stärkste Verbindung und bewirke, dass Menschen sich zu Völkern vereinigten. Sie behandle Völker als Mitglieder der zur sittlichen Entwicklung bestimmten Menschheit. Ihr Forschungsgegenstand sei die Kultur und Geschichte lebender Völker und sie unterscheide sich dadurch von der chronologischen Universalgeschichte mit ihrem Bezug auf untergegangene Kulturen und von der universalen Geschichtsschreibung der Politik.30

Bastian gründet 1869 eine ethnologische Vereinigung und eine Zeitschrift für Ethnologie und vollzog damit eine deklaratorische Abgrenzung zur Ethnographie. Er wählt die Bezeichnung Ethnologie und beabsichtigt – vergleichbar mit Chavannes – eine über die Völkerkunde hinausgehend konzipierte Disziplin. In dem Lexikonartikel war dagegen der Terminus Ethnologie der physischen Anthropologie vorbehalten, die dann jedoch, bei der Gründung der Berliner Gesellschaft, abgekürzt als Anthropologie in den Namen aufgenommen wurde. Sie untersuchte die Völker als Varianten der Spezies Mensch, widmete sich deren Verbreitung nach den physischen Merkmalen und behandelte die Fragen der Abstammung. Diese Anregung war von Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) ausgegangen und hatte von James Cowles Prichard (1786–1848) eine erste systematische Behandlung erhalten. Robert Gordon Latham (1812–1888) hatte dies unter dem Gesichtspunkt der Einheit der Menschheit weiter betrieben. Dies hatte in einem Gegensatz zu Joseph Arthur Gobineau (1816–1882) und dessen ← 16 | 17 → Essai sur l’inegalité des races humaines von 1853 gestanden. Im gleichen Sinn hatten amerikanische Rassentheoretiker und Befürworter der Sklaverei, etwa Samuel Morton (1799–1851), Josiah Nott (1804–1873) und George Gliddon (1809–1857) argumentiert.31

Bastian gab seiner Ethnologie eine Vorgeschichte, die er in drei Phasen vorstellte und aus denen durch Kombination und Abänderung der Theorien zur Natur des Menschen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein Spektrum an Human-Wissenschaften entstanden sei. Der Beginn wurzelte im 16. Jahrhundert in dem Bestreben, eine Wissenschaft vom Menschen betreiben zu wollen. Daraus hatten sich zahlreiche Teildisziplinen entwickelt, zu denen beispielsweise die Zoologie, Anatomie und Physiologie, aber auch die Philosophie, Geschichte und Philologie gehörten. Die Ursache der Differenzierung sah Bastian im Dualismus, in der Festlegung, dass der Mensch aus Körper und Geist bestehe. Daraus hätten sich zwei unterschiedliche Forschungsschwerpunkte unter dem Namen Anthropologie ergeben. Im 17. Jahrhundert wiederum habe – aufgrund der neuen empirisch-experimentellen Methoden in der Medizin – der Erkenntnisgewinn zum menschlichen Körper dominiert, und die – noch im 16. Jahrhundert angestrebte – physische und psychische Gesamtschau des Menschen sei aufgehoben worden. Bastian benannte als Beispiel für die noch vereinte Anthropologie die Arbeit des Leipzigers Magnus Hundt (1449–1519), in der der Name Anthropologie 1501 erstmals Verwendung in der deutschen Philosophie gefunden hatte, und die Schrift von Otto Casmann (1562–1607), in Steinfurt 1594 unter dem Titel Psychologia Anthropologica erschienen, deren Ausrichtung aus seiner Sicht nun wieder zum Tragen komme.32

Bastian verweist mit diesen Gelehrten auf die Begründer einer sich autonom verstehenden Wissenschaft vom Menschen. Nach Heinrich Schipperges habe sich in Hundts Anthropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus der Mensch nach seinen zwei Naturen in die Psychologie und die Anatomie aufgeteilt, wobei die geistige Komponente von größerer Bedeutung erschien. Casmann habe 1594 in Steinfurt seine Psychologica anthropologica, sive animae humanae doctrina … verfasst und darin die Leib-Seele-Problematik zu einer Lehre von der menschlichen Natur entfaltet, indem er zwar die duplex natura von eigenständigen Disziplinen untersucht haben wollte, beide Teilbereiche aber in einer übergeordneten, vereinenden Abhängigkeit zur großen Natur stehen sah. 33 ← 17 | 18 →

In der Vorgeschichte der Ethnologie legt Bastian den Einfluss der philosophischen Anthropologie dar und bemängelt, dass eine übergeordnete Abhängigkeit der Dualität des Menschen bisher nicht aufgestellt wurde. In der Entwicklung der Anthropologie sei in der Sparte der Physiologie und Anatomie seit dem 17. Jahrhundert ein großer Wissenszuwachs erlangt worden. Der davon getrennte Bereich der Psyche sei bei der Philosophie verblieben, wobei René Descartes (1596–1650) den Menschen von der ratio bestimmt, Baruch de Spinoza (1632–1677) dagegen Leib und Seele durch ein Denken Gottes vermittelt gesehen habe. Mit John Locke (1632–1704) sei eine empirische Psychologie entstanden, wobei Wahrnehmung und Erfahrung zur Grundlage des Denkens wurden.34 Des weiteren urteilte Bastian: „[…], während Kant die pragmatische Anthropologie nur ‘für eine Art Weltklugheit’ zu verwerthen wusste, und auch in seinem Schwanken zwischen rationaler und empirischer Psychologie mit keiner von beiden fertig zu werden vermochte, […]35 Bastian verortete sich selbst, indem er auf eine philosophische Strömung hinwies, die die Berührungspunkte des Körperlichen und des Geistigen im individuellen Menschen suche. Diese habe mit Herders Ideen zu einer Geschichte der Menschheit einen erweiterten Auftrag erhalten.36 Für Bastian ist es folgerichtig, dass weitere Schritte zu einer vergleichenden Psychologie des Menschen als Gesellschaftswesen gemacht worden seien. Er räumte beiläufig ein, dass Theodor Waitz (1821–1864) in ähnlicher Absicht 1859 eine Arbeit vorgelegt habe. Er selber habe nach den Reisejahren seinen Entwurf dazu in seiner als Erstlingsprodukt auf fast noch ungesichtetem Forschungsfelde wenig geordneten Form 1860 veröffentlicht. Die darin dargelegten Begründungen einer psychologischen Weltanschauung seien die ersten Landmarken gewesen37, die – wie am Beginn der Einleitung zitiert – in einer Ethnologie als Wissenschaft vom Menschen einen Abschluss finden sollten. Seine Ethnologie sei eine neue, empirische Wissenschaft, weil sie im Contactpunkt des menschlichen Auges mit den Aussendingen ansetze. Sie setze dort an, wo Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) die wissenschaftliche Grenze der Geschichtsphilosophie sah: der Ergründung des Gottesbewusstseins Werk.38

Bastians Hinweis einer Verortung in der philosophischen Anthropologie ist der Ansatzpunkt dieser Untersuchung. Dazu erschien es erstrebenswert, seine Jugend-, Studien- und Reisejahre in den Kontext der Geistesgeschichte des 19. ← 18 | 19 → Jahrhunderts zu stellen. Der aus diesem Ansatz gewonnene, wissenschaftsgeschichtlich relevante Themenkanon wird entsprechenden Aussagen aus Bastians ersten Publikationen gegenübergestellt. Dabei können die theologischen und philosophischen Themen in ihrer Rezeption durch Bastian und als Fundament seines ethnologischen Konzeptes dargestellt werden.

Zur Bearbeitung dieser Aufgabe wurde der Zeitraum (von der Geburt 1826 bis zum Erscheinen des Werkes Der Mensch in der Geschichte 1860) in vier Abschnitte unterteilt. Der erste behandelt die Jahre seiner Jugend in Bremen von 1826 bis 1845. Zum einen werden familiengeschichtliche Daten der Familie Bastian, die als protestantische Bürger in der Freien Hansestadt Bremen lebten, in den kulturellen und handelsgeographischen Kontext gestellt. Diese Einordnung basiert auf Archivmaterial zur Familie und zur Handelsreederei J. W. Bastian Söhne und geschichtswissenschaftlichen Publikationen zum Bremer Bürgertum.

Zum anderen werden vor dem Hintergrund der bildungstheoretischen Ausrichtung des Neuhumanismus und staatspolitischer Entscheidungen des Bremer Senats die Archivalien zu Bastians Schulausbildung eingeordnet. Ebenso zwei bisher nicht veröffentlichte naturphilosophische Aufsätze, die er als Primaner für einen privaten Bildungszirkel verfasste. Der von ihm 1844 – ein Jahr vor seinem Abitur – vertretene kulturtheoretische Ansatz wird einer zeitgleichen Bremer Debatte um die Rolle der Wissenschaft entgegengestellt. Die Streitpunkte sind den Dokumenten über die 22. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in der Hansestadt und den Nachforschungen zu seinem Freundeskreis entnommen.

Anschließend wird im zweiten Abschnitt anhand von Universitätsarchivalien der Zeitraums 1846–1850 untersucht: welche Fächer belegte Bastian in seinen Studienorten Heidelberg, Berlin, Jena und Würzburg und welche Professoren hörte er. Vernachlässigt werden dabei jene Fächer, etwa die Gynäkologie, die er zum Abschluss seines Medizinstudiums benötigte; hervorgehoben werden alle Studienbelege zur Naturforschung und Anthropologie. Den Fragen und Antworten zur Erde, zur physischen und psychischen Ausstattung des Menschen, die Mitte des Jahrhunderts von einflussreichen Gelehrten gestellt und gegeben wurden, werden Bastians eigene Betrachtungen zum Naturrecht, zur Weltordnung und zur Psychologie entgegengesetzt, die aus Der Mensch in der Geschichte entnommen wurden.

Der vorletzte Abschnitt untersucht Bastians erste Reise. Dabei wird den Bedingungen und Möglichkeiten seiner Forschungstätigkeit nachgegangen und deren Verlauf anhand von bekannten und bisher unbekannten Quellen rekonstruiert. Es folgt die Rezension seiner Reisebeschreibung Ein Besuch in San Salvador, der ← 19 | 20 → Hauptstadt des Königreich Congo – hierin wird sein Afrika-Bild deutlich und ebenso die Stellung dieses Kontinents für sein Vorhaben. Im letzten Kapitel wird das dreibändige Werk Der Mensch in der Geschichte in seiner wissenschaftstheoretischen Ausrichtung vorgestellt, um eine Grundlage für ethnologiegeschichtliche Einordnungen zu schaffen. ← 20 | 21 →

                                                   

  1 Bastian 1881: 1 f.

  2 Siehe Achelis 1891: 263–300

  3 Siehe Schwarz 1909: 4–13

  4 Steinen, von den 1905: 236–256. Vgl. ferner Lindeman 1905: 1–9, Hantzsch 1907: 148, Focke 1912b: 25, Siebert 1912: Nr. 268

  5 Seidensticker 1969: 27, 81
Fiedermutz-Laun 1970: 5°f.

  6 Fiedermutz-Laun 1970: 13

  7 Seidensticker 1969: 28 u. Fiedermutz-Laun 1970: 13

  8 Seidensticker 1969: 52

  9 Bastian 1900: 119, zit. n. Fiedermutz–Laun 1970: 34*

Details

Seiten
264
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653049190
ISBN (ePUB)
9783653981544
ISBN (MOBI)
9783653981537
ISBN (Paperback)
9783631652435
DOI
10.3726/978-3-653-04919-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Biographie Deutscher Idealismus Weltreise Kulturanthropologie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 264 S., 1 farb. Abb., 5 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jutta E. Bellers (Autor:in)

Jutta E. Bellers studierte Ethnologie, Philosophie und Geschichte an der Universität Münster. Sie arbeitet als freie Autorin in der Nähe von Münster.

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Titel: Der junge Adolf Bastian, 1826 bis 1860
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