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Der Freiheitsbegriff bei Kant

Eine philosophische Untersuchung im Rückblick auf das christliche Freiheitsverständnis

von Igor Nowikow (Autor:in)
©2014 Monographie 261 Seiten
Reihe: Ad Fontes, Band 11

Zusammenfassung

Die kantische Freiheitsphilosophie stellt eine säkulare Fassung der christlichen Freiheitslehre dar. Diese hat zwei unterschiedliche Grundbegriffe der Freiheit herausgearbeitet: die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse und die moralische Freiheit. Im Hauptstrom seiner Philosophie stellt Kant allerdings nur den letzten und nicht den ersten Freiheitsbegriff in den Mittelpunkt seines Interesses. Damit entzieht er seiner Moralphilosophie und seiner Rechtslehre ihr eigentliches Fundament und kann dieses Defizit nur in seiner Religionsschrift annähernd ausgleichen. Das umfassende Problem der Freiheit bei Kant diskutiert der Verfasser vor dem Hintergrund zweier, für das Christentum fundamentaler Freiheitslehren: der von Augustinus und der von Luther.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 0. Einführung
  • 0.1. Die christlichen Wurzeln der kantischen Freiheitslehre
  • 0.2. Überblick über den Inhalt der Arbeit
  • 0.3. Methodologische Bemerkung
  • Erster Teil: Freiheit im Christentum
  • Kapitel 1: Freiheit bei Augustinus
  • 1.1. Vorbemerkung
  • 1.2. Die Freiheit Gottes. Die menschliche Freiheit zum Guten
  • 1.3. Die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse
  • 1.4. Die Freiheit nach dem Sündenfall
  • 1.4.1. Problematik
  • 1.4.2. Die Freiheit im Kontext der Strafe: der ewige Tod, der leibliche Tod und die Sünde
  • 1.4.3. Die Freiheit im Kontext der Gnade
  • 1.4.4. Die Freiheit des ewigen Lebens
  • Kapitel 2: Freiheit bei Luther
  • 2.1. Problematik
  • 2.2. Die Freiheit in Von der Freiheit eines Christenmenschen
  • 2.2.1. Luthers Doppelthese
  • 2.2.2. Die christliche Freiheit. Der Glaubensbegriff
  • 2.2.3. Luthers Ethik
  • 2.3. Die Freiheit in De servo arbitrio
  • 2.3.1. Die Freiheit bei Erasmus
  • 2.3.2. Luthers Lehre vom „geknechteten Willen“
  • 2.3.3. Luthers Rechtfertigungslehre
  • 2.3.3.1. Die objektive Seite der Rechtfertigungslehre
  • 2.3.3.2. Die subjektive Seite der Rechtfertigungslehre
  • 2.4. Ergänzung: die Freiheit in irdischen Dingen bei Luther
  • Zweiter Teil: Freiheit bei Kant
  • Kapitel 3: Freiheit im Kontext der Neubegründung der Metaphysik durch Kant
  • 3.1. Kants Zugang zum Problem der Freiheit
  • 3.2. Kant und die Heilsgeschichte
  • Kapitel 4: Freiheit im Kontext der erkenntnistheoretischen Schriften Kants
  • 4.1. Die Sinnenwelt
  • 4.1.1. Kants Lehre vom Apriori im Hinblick auf die Erkenntnis der Sinnenwelt
  • 4.1.2. Das Ding an sich
  • 4.2. Die Freiheit
  • 4.2.1. „Transzendentale Freiheit“
  • 4.2.2. „Freie Willkür“
  • Kapitel 5: Freiheit im Kontext der moralphilosophischen Schriften Kants
  • 5.1. Kants Ethik
  • 5.1.1. „Kopernikanische Wende“ in der Ethik Kants
  • 5.1.2. Der Dualismus von Geist und Materie in moralphilosophischer Perspektive
  • 5.2. Die moralische Freiheit
  • 5.2.1. Vorbemerkung
  • 5.2.2. Der objektive Aspekt der moralischen Freiheit
  • 5.2.2.1. Die Realität der moralischen Freiheit
  • 5.2.2.2. Die moralische Freiheit als säkulare Fassung der christlichen Erlösungsfreiheit
  • 5.2.2.3. Ergänzung: Die moralische Freiheit unter dem Gesichtspunkt der Lehre vom höchsten Gut
  • 5.2.3. Der subjektive Aspekt der moralischen Freiheit
  • 5.2.3.1. „Das moralische Gefühl“
  • 5.2.3.2. Das Problem der Liebe
  • Kapitel 6: Freiheit im Kontext der Rechtslehre Kants
  • 6.1. Kants rechtsphilosophischer Freiheitsbegriff
  • 6.2. Kants Rechtslehre im Lichte der Kritik von Jan Schapp
  • 6.2.1. Kritik von Kants rechtsphilosophischem Freiheitsbegriff
  • 6.2.2. Kritik von Kants Verständnis des Rechts
  • Kapitel 7: Freiheit im Kontext der Religionsschrift Kants
  • 7.1. Vorbemerkung: der „neue“ Freiheitsbegriff
  • 7.2. Kants Lehre vom „radikalen Bösen“
  • 7.2.1. Der Ursprung des Bösen. Das neue Modell
  • 7.2.2. Die nähere Bestimmung des Begriffs des Bösen
  • 7.3. Das Problem der Gnade bei Kant
  • 7.3.1. Kants Kritik der Gnadenwirkungen
  • 7.3.2. Der kantische Begriff der Gnade
  • Kapitel 8: Abschließende Überlegungen
  • Literaturverzeichnis

← 8 | 9 → Vorwort

Das Thema des vorliegenden Buches ist der kantische Freiheitsbegriff, der im Kontext der Freiheitslehren von Augustinus und Luther untersucht wird. Da das Thema der Freiheit im Mittelpunkt des modernen Denkens steht und dieses wiederum in der Aufklärung seine Wurzeln hat, habe ich mir die Aufgabe gestellt, die aufklärerischen Wurzeln der Freiheitsproblematik zu erforschen. Dabei war es mir von Anfang an klar, dass angesichts der außerordentlich großen Bedeutung, die Kant bis heute zugemessen wird, meine Untersuchung die kantische Philosophie thematisieren soll. Bei der Lektüre von Kants Werken hat sich jedoch ziemlich rasch herausgestellt, dass ohne Einbeziehung des christlichen Denkens ein vertieftes Verständnis seiner Freiheitsphilosophie kaum möglich ist. Dass der zentrale Begriff seiner Ethik ausgerechnet die moralische Freiheit ist, ist sicherlich kein Zufall. Darin liegt vielmehr ein bewusster Rückgriff auf die christliche Freiheitslehre. Kant gelingt es dabei allerdings nicht, den zweiten christlichen Grundbegriff der Freiheit, die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse, die das große Thema der christlichen Heilslehre ist, mit vergleichbarer Überzeugungskraft herauszuarbeiten. Der Grund dafür dürfte sowohl seine Faszination von der Methodik der neuzeitlichen Naturwissenschaften als auch seine starke Rückbindung an den Lutherschen Freiheitsbegriff sein, die ihn zu bestimmten Lösungen nicht nur im Bereich der theoretischen, sondern auch im Bereich der praktischen Vernunft antreiben. Dieses Defizit wird von ihm auch in seiner dualistischen Rechtslehre, in der der Begriff der freien Willkür eine zentrale Rolle spielt, nicht ausgeglichen. Eine befriedigende Lösung des Problems der Wahlfreiheit gelingt Kant nur im Rahmen seiner Lehre vom radikalen Bösen zu präsentieren, aber dort vollzieht er offenbar einen Paradigmenwechsel und weicht damit vom Hauptstrom seiner subjektivistischen Philosophie ab.

Als Vertreter des Christentums wurden zwei Denker gewählt: Augustinus und Luther. Augustinus erarbeitete in Anknüpfung an Paulus eine erste konsistente und in sich geschlossene Freiheitslehre. An diese Lehre knüpft zu Beginn der Neuzeit Luther an, wobei er sie allerdings im entscheidenden Punkt umwandelt: Er spricht dem Menschen die Wahlfreiheit ab, die im Hinblick auf die Erlösung bei Augustinus von entscheidender Bedeutung war. Im Verlauf meiner Darstellung werden ← 9 | 10 → zusätzlich die Positionen von Pelagius und Erasmus von Rotterdam thematisiert. Vor diesem gewaltigen Hintergrund wird dann die Freiheit bei Kant eingehend diskutiert.

In die Problematik der Freiheit hat mich während meines Studiums an der Universität in Gießen Herr Prof. Dr. Jan Schapp eingeführt. Die Lektüre seiner Schriften und die Gespräche, die ich später mit ihm führen durfte, haben mich dazu angeregt, eine Dissertation über den Freiheitsbegriff bei Kant zu schreiben. An dieser Stelle möchte ich ihm also meinen tiefsten Dank sagen. Wesentliche Impulse habe ich auch von anderen Autoren erhalten. Der Leser wird entsprechende Namen im Buch finden. Hier sei insbesondere auf zwei Personen hingewiesen: Herrn Prof. Dr. Konrad Rudnicki und Rev. Prof. Dr. Tadeusz Guz. Professor Konrad Rudnicki verdanke ich wesentliche Anregungen im Hinblick auf das Problem der Erkenntnis im Allgemeinen und die kantische Erkenntnistheorie im Besonderen. Professor Tadeusz Guz hat mich hingegen in das Labyrinth des Lutherschen Denkens eingeführt und hat mich auf die Bedeutung dieses Denkens für die spätere Entwicklung der abendländischen Philosophie hingewiesen. Er hat dann auch das Manuskript des Buches in die wissenschaftliche Schriftenreihe „Ad Fontes. Schriften zur Philosophie“ aufgenommen. Dafür danke ich ihm herzlich, ebenso dem Peter Lang Verlag – Internationaler Verlag der Wissenschaften.

Das Buch wurde als Dissertation im Rahmen des Doktorandenstudiums am Institut für Philosophie der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań (Polen) verfasst. Deshalb gilt mein Dank auch den Personen, die mich im Verlauf dieses Studium in vielerlei Hinsicht unterstützt haben. Herr Prof. Dr. Bolesław Andrzejewski, mein Doktorvater, brachte für die von mir gewählten Gesichtspunkte viel Verständnis entgegen und gab mir beim Schreiben viel Freiheit. Die Seminare, die ich im Rahmen seiner Vorlesung über die Geschichte der deutschen Philosophie leiten durfte, waren ein guter Anlass dazu, über manches Problem nachzusinnen. Auch Frau Prof. Dr. Ewa Nowak hat meine wissenschaftliche Tätigkeit unterstützt und mich mit einem Seminar über die deutsche praktische Philosophie beauftragt.

Dank schulde ich darüber hinaus all denjenigen, deren Namen im Kontext einer wissenschaftlichen Arbeit üblicherweise nicht erwähnt werden, die aber durch eine positive Rolle, die sie in meiner Lebensgeschichte gespielt haben, zur Entstehung des Buches beigetragen haben. In diesem Zusammenhang möchte ich vor allem meine Mutter nennen.

Nicht zuletzt möchte ich allen Lesern dieses Buches sowohl für die Lektüre als auch für alle konstruktiven Anregungen, die zur Vertiefung der spannenden Problematik der Freiheit führen werden, im Voraus meinen innigsten Dank sagen.

← 10 | 11 → Der Text der Dissertation wurde beibehalten und etliche Korrekturen wurden nur an denjenigen Stellen angebracht, an denen es zum Zweck eines besseren Verstehens notwendig war.

Poznań, im April 2014Igor Nowikow ← 11 | 12 →

← 12 | 13 → 0. Einführung

0.1. Die christlichen Wurzeln der kantischen Freiheitslehre

Im Mittelpunkt des Interesses der Philosophie der Neuzeit steht der Begriff der Freiheit. Das Thema der Freiheit greift zunächst die Philosophie der Aufklärung und dann die moderne Philosophie auf. Dabei wird der Ausdruck „Freiheit“ von Philosophen in unterschiedlicher Bedeutung gebraucht.1 Hinzu kommt noch ein vielfältiger Gebrauch dieses Ausdrucks in den außerphilosophischen Diskussionen und im alltäglichen Leben. Trotz dieser Unklarheiten wird die Freiheit oft als Grundbegriff der Neuzeit betrachtet.2 Der Begriff der Freiheit ist aber nicht eine neuzeitliche Erfindung, sondern er hat seine Wurzeln im Christentum. Die Philosophie der Aufklärung, deren zentrale Gestalt Immanuel Kant ist, steht vor dem Hintergrund einer christlichen Vorgeschichte der Freiheit. Wird die kantische Freiheitslehre unter diesem Gesichtspunkt überprüft, so erweist sich, dass Kant wesentliche Bestandteile der christlichen Freiheitslehre tradiert und im Sinne seiner eigenen „kritischen“ Philosophie umgestaltet. Man kann in diesem Zusammenhang von der Säkularisierung der christlichen Freiheitslehre sprechen. Aus dieser Erkenntnis ist die Idee der vorliegenden Arbeit entstanden. Sie knüpft vor allem an die Untersuchungen von Jan Schapp an, der in seinem rechtsphilosophischen Werk das Christentum und die Philosophie der Aufklärung in Beziehung setzt, und vor diesem Hintergrund das Problem der Freiheit erörtert.3 Er thematisiert die Freiheitslehren von Augustinus und Luther. Da die Bedeutung dieser beiden Denker im Hinblick auf das Problem der Freiheit im abendländischen ← 13 | 14 → Kulturkreis bahnbrechend ist, stehen ihre Freiheitslehren auch im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit.

In seinen kritischen Hauptschriften setzt sich Kant weder mit Augustinus noch mit Luther explizit auseinander. Zugleich betont er aber immer wieder die gedankliche Verwandtschaft seiner Philosophie mit der christlichen Tradition.4 Dies ist übrigens auch der Grund dafür, dass seine Freiheitslehre unter dem hier vorgeschlagenen Gesichtspunkt überprüft wird. Im Lichte der Äußerungen, in denen Kant die christliche Denkweise als philosophisch richtig einschätzt, erweist sich sein Ansatz als nicht so ganz revolutionär. Kant ist zwar der „Zermalmer“5 der alten Metaphysik, zugleich aber ein durchaus christlicher Denker. Rudolf Malter, der Kant als den „wirkungsmächtigste[n] Denker der Neuzeit“ charakterisiert, stellt fest: „Kants philosophisches Werk ebenso wie sein Lebensgang zeigen sich von der metaphysischen – und in ihrem Vorfeld: der religiösen – Frageintention geprägt.“6 Diese Verwandtschaft von Kant und Christentum wird dann besonders deutlich, wenn man auf das Problem der Freiheit den Blick lenkt. Es handelt sich dabei nicht nur darum, dass Kant gelegentlich etwas Lobendes über die christliche Religion gesagt hat. Das ist zwar auch von Bedeutung, aber der entscheidende Grund für den Vergleich liegt darin, dass sich zwischen seiner und der christlichen Freiheitslehre tiefe strukturelle Übereinstimmungen erkennen lassen. Die Lehre von der Freiheit ist christlichen Ursprungs, und im Ansatz taucht sie bereits bei Paulus auf.7 Aber erst Augustinus, den Albrecht Dihle als den „Erfinder des ‚modernen’ Willensbegriffs“ charakterisiert,8 hat sie systematisch erarbeitet. Die christliche Entdeckung liegt in der Erkenntnis, dass der menschliche Wille frei ist. In der vorchristlichen Antike wurde eine schlechte Handlung als die Konsequenz der Beeinträchtigung ← 14 | 15 → der vernünftigen Einsicht durch Gefühle betrachtet.9 Im Gegensatz dazu betrachtet das Christentum eine böse Handlung als Akt der Willensfreiheit. Kant weist auf dieses entscheidende Moment in seiner Religionsschrift explizit hin und hält dabei die christliche Denkweise für richtig.10

Augustinus hat zwei Grundbedeutungen des Ausdrucks „Willensfreiheit“ erarbeitet. Nicht Gott, sondern der Mensch, der zwischen Gut und Böse wählen kann, ist der Urheber des Bösen. Die Willensfreiheit bedeutet zunächst die Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse. Augustinus hat darüber hinaus noch eine zweite Bedeutung festgelegt. Gott ist frei, obwohl er zwischen Gut und Böse nicht wählen kann. Seine Freiheit fällt vielmehr mit seiner Güte zusammen. Der Mensch kann erst im ewigen Leben in diesem Sinne frei werden. Diese Willensfreiheit bedeutet also den Zustand der Erlösung vom Bösen. Sie kann als die Freiheit des ewigen Lebens bzw. die Erlösungsfreiheit bezeichnet werden. Der Mensch kann allerdings der Keime dieser Freiheit bereits im irdischen Leben durch den Glauben, dessen wesentlicher Bestandteil das moralische Verhalten ist, teilhaftig werden. Das Wesen der hier charakterisierten Willensfreiheit besteht also nicht in der Möglichkeit des Wählens, sondern in der Hinwendung zum Guten. Als Freiheit vom Bösen ist sie zugleich eine Freiheit zum Guten.

Die von Augustinus begründete Lehre von der Freiheit hat sich als richtungsweisend für die Zukunft erwiesen. Sie hat das mittelalterliche Denken bestimmt; im philosophischen System des Thomas von Aquin ist sie jedenfalls deutlich erkennbar.11 Sie ist dann ihrem gedanklichen Kern nach auch für die Philosophie der Aufklärung von Bedeutung. Kant legt den augustinischen Begriff der Wahlfreiheit zwischen Gut und Böse seiner Lehre vom „radikalen Bösen“ zugrunde. Die augustinische Freiheit des ewigen Lebens verwandelt sich hingegen bei Kant in die moralische Freiheit: Derjenige ist frei, der moralisch handelt. Dieser Freiheitsbegriff spielt eine zentrale Rolle in seiner Ethik. Er beeinflusst auch seine Rechtslehre, in der Kant sich mit der Handlungsfreiheit befasst, deren Wesen nicht in der Willkür, sondern in der Einschränkung der Willkür durch das Recht liegt. Kant überträgt sein moralphilosophisches Verständnis der Freiheit in die Sphäre des Rechts: Es ist das Recht, das den Menschen (diesmal im äußeren Sinne) frei macht.

In einem wesentlichen Punkt weicht Kant jedoch von seinem Vorgänger ab. Augustinus erörtert das Problem der Freiheit vor dem Hintergrund der Heilsgeschichte, ← 15 | 16 → deren Thema die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist. Damit wird das Verhältnis von Gnade und Willensfreiheit zu einem großen Thema der christlichen Freiheitslehre, deren Grundgedanke dahingehend formuliert werden kann, dass der Mensch nach dem Sündenfall ohne die vorherige Erteilung der Gnade das Gute nicht wählen kann. Dieser Gedanke verleitet Luther zu Beginn der Neuzeit zu der These, dass der Mensch keine Willensfreiheit hat. Der Begriff des freien Willens kann nach seiner Auffassung nur Gott zugeschrieben werden; im Hinblick auf den Menschen spricht er vom „geknechteten Willen“. Luther trägt damit eine Lehre vor, die als geradezu revolutionär charakterisiert werden kann. Er beruft sich dabei auf Augustinus, der im Streit mit Pelagius auf den Primat der Gnade vor der menschlichen Wahlfreiheit hinwies. Augustinus hat jedoch nie die Auffassung vertreten, dass der Wille des Menschen unfrei ist. Sein ganzes Bemühen zielt vielmehr darauf ab, die These vom Primat der Gnade mit der These von der Willensfreiheit in Übereinstimmung zu bringen. Den augustinischen Standpunkt übernimmt dann der Zeitgenosse Luthers, Erasmus von Rotterdam, den Luther 1525 in der Schrift De servo arbitrio angreift. Das Erstaunliche ist dabei, dass Luther trotz der Ablehnung der menschlichen Willensfreiheit von der „Freiheit eines Christenmenschen“ spricht. Da diese Freiheit den von Gott geschenkten Glauben bedeutet, kann man sie mit der Freiheit des ewigen Lebens bei Augustinus vergleichen. Der große Unterschied zwischen beiden besteht jedoch darin, dass der Mensch bei Luther durch sein moralisches Verhalten zur christlichen Freiheit nichts beitragen kann. Denn Luther identifiziert diese Freiheit gänzlich mit der göttlichen Gnade. Hinzu kommt noch, dass er die Erteilung bzw. Nicht-Erteilung der Gnade als einen Akt der göttlichen Willkür begreift. Norbert Bolz konstatiert in diesem Zusammenhang: „Radikaler lässt sich das, was bisher Freiheit hieß, nicht bestreiten.“12

Angesichts dessen, dass Luther Freiheit und Gnade gleichsetzt und damit von der von Augustinus begründeten Freiheitslehre Abschied nimmt, stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, Kant mit Luther zu vergleichen. Kants Lehre vom Apriori hindert ihn zwar daran, die christliche These vom Primat der Gnade vor der Willensfreiheit zu akzeptieren. Die Grundlage für den Vergleich mit Augustinus wird aber dadurch geschaffen, dass dieser eine Lehre von der Freiheit begründet hat, deren wesentliche Momente noch bei Kant erkennbar sind. Es ist aber zu fragen, wo es eine solche gemeinsame Basis im Hinblick auf Luther gibt. Denn Kant setzt alles auf die menschliche Willensfreiheit, Luther hingegen alles auf Gnade. Die Tatsache, dass Kant in seinen Hauptschriften zu Luthers Gedankengut ← 16 | 17 → nicht explizit Stellung nimmt,13 stellt einen zusätzlichen, den Vergleich erschwerenden Umstand dar. Bei näherem Zusehen sind jedoch die Gründe, weshalb ein solcher Vergleich sinnvoll, wenn nicht gar notwendig ist, offensichtlich. Die hier gesuchte Basis kann schon darin gesehen werden, dass Kant und Luther zum selben Thema sprechen. Signifikant ist dabei, dass Kant das Thema der Freiheit durchaus im existentiell-religiösen Kontext erörtert. Der Begriff der Freiheit taucht in seinen Schriften in Begleitung solcher „Satellitenbegriffe“ wie: „gut“, „böse“, „Gott“, „Unsterblichkeit“ und „Gnade“ auf. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Problem der Beziehungen zwischen Kant und Luther von zahlreichen Autoren thematisiert wurde. So haben etwa bereits Heinrich Heine und später auch Nietzsche auf die Verwandtschaft beider Denker hingewiesen.14 Auch in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur gibt es entsprechende Studien, wobei man zunächst ganz grob zwischen zwei Grundtendenzen unterscheiden kann. Die einen Autoren versuchen Kant so zu deuten, als stünde er in einer engen geistigen Verwandtschaft mit Luther. Solche Deutungen haben etwa Constantin Gutberlet, Friedrich Paulsen, Julius Kaftan, Bruno Bauch und Georg Picht vorgelegt.15 Die anderen Autoren betonen hingegen die Unterschiede und stellen die Verwandtschaft zwischen Kant und Luther in Frage. Zu ihnen gehören etwa: Hugo Bund, Werner Schultz, Karl Barth und Alma von Stockhausen.16 Auch die Arbeiten von ← 17 | 18 → Erich Fromm und Hans Blumenberg gehen trotz ihres allgemeineren Charakters in eine ähnliche Richtung.17 Dann gibt es aber auch Autoren, die einerseits die Verwandtschaft von Kant und Luther, andererseits aber die Eigenartigkeit beider Denker akzentuieren. Zu dieser Gruppe gehören etwa die Arbeiten von Otto Flügel und Aloysius Winter sowie die bereits erwähnten Arbeiten von Jan Schapp.18

Traditionell wird die Hauptverwandtschaft zwischen Kant und Luther darin gesehen, dass Kant Luthers Lehre von der Kluft zwischen Glauben und Wissen philosophisch begründet hat. Indem Kant der theoretischen Vernunft die Möglichkeit der Einsicht in die Transzendenz abspricht, steht er offenbar in der lutherischen Tradition.19 Es hilft dabei wenig, dass er – im Unterschied zu Luther – den Bereich des Glaubens mit der Stimme der Vernunft zu harmonisieren versucht: Der Glaube ist zwar vernünftig, aber er drückt kein theoretisches Wissen aus, dessen Geltungsbereich auf die Sinnenwelt eingeschränkt ist. Vom Standpunkt des theoretischen Wissens aus sind alle Aussagen, welche die Sinnenwelt transzendieren (also auch die Aussagen der praktischen Vernunft) der Ausdruck des Glaubens. Der modernen Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften liegen wohl eben diese kantischen Vorstellungen zugrunde. Kant entlastet damit die Naturwissenschaft vom Problem der Freiheit, das von nun an lediglich ein moralphilosophisches Problem sein soll.20 Vom Glauben ausgehend sehen sich sowohl Luther als auch Kant vor die folgende Alternative gestellt: Entweder Gott oder der Mensch ist frei. In der Beantwortung dieser Frage gelangen sie zwar zu ← 18 | 19 → entgegengesetzten Lösungen, aber die Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht darin, dass sie eine Lösung im Sinne von „sowohl als auch“ von vornherein ablehnen. Der Mensch bedarf nach der Auffassung Kants der Gnade Gottes nicht, weil er aus eigener Kraft das Böse überwinden kann. Der kantische Begriff der Gnade (die Konsequenz des tugendhaften Lebens) ist lediglich ein Schattenbild der christlichen Gnade. Von den Auffassungen von Augustinus und Erasmus, geschweige denn von denen Luthers, bleibt bei Kant nichts mehr übrig. In der Literatur wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass die Einseitigkeit der kantischen Lösung eine Reaktion auf Luthers Lehre vom geknechteten Willen ist. In diesem Geiste deutet etwa Alma von Stockhausen Kant, die seine Religionsphilosophie als einen Versuch der Verteidigung der menschlichen Vernunft und Willensfreiheit angesichts des Angriffs Luthers betrachtet, zugleich aber ihre Einseitigkeit kritisiert.21 Der geschichtliche Kontext ist für die Historie der Freiheit im Abendland sicherlich von großer Bedeutung. Augustinus erarbeitet seine Freiheitslehre im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Manichäismus und verfolgt dabei den Zweck, Gott von dem Vorwurf des Bösen zu befreien. Luther entfaltet hingegen seine Lehre von der Unfreiheit im Kontext der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. Luther wirft dieser vor, dass sie eine falsche These von der Willensfreiheit vertritt, und formuliert sein eigenes Prinzip: „sola gratia“. Dieses Prinzip wird zur Zeit der Aufklärung von Kant kritisiert. Er hält es für unvereinbar mit der Moral und dem richtigen – vernünftigen – Gottesbegriff.

Die Entgegensetzung von Glauben und Wissen begründet Kant mit Hilfe seiner Lehre vom Apriori („kopernikanische Wende“). Diese Lehre liegt auch Kants Zwei-Welten-Theorie zugrunde, die besagt, dass es zwei Welten, nämlich die intelligible und die sensible gibt. Entsprechend unterscheidet Kant zwischen dem Vernunftmenschen und dem Tiermenschen.22 Angesichts der Kontinuität von Luther und Kant im Hinblick auf das Problem von Glauben und Wissen ist es nicht verwunderlich, dass auch die Zwei-Welten-Theorie ihrer gedanklichen Struktur nach eine frappierende Ähnlichkeit mit Luthers Lehre von der doppelten Natur ← 19 | 20 → des Christen23 aufweist. Der Tiermensch entspricht dem leiblichen Menschen und der Vernunftmensch dem geistlichen Menschen bei Luther. Sowohl für den Tiermenschen als auch für den leiblichen Menschen ist es charakteristisch, dass ihnen keine Willensfreiheit zugeschrieben werden kann. Kant betrachtet dabei auch die Vernunft als Moment des Tiermenschen, soweit sie nicht die „reinen“, sondern die sinnlichen Zwecke verfolgt. Damit ist auch der Wille des Tiermenschen nicht „rein“ und deshalb nicht frei. Kant greift hier auf den Gedanken zurück, der auch bei Luther zentrale Rolle spielt: Der leibliche Mensch hat zwar einen Willen, nicht aber einen freien Willen. Insofern stehen Luther und – paradoxerweise – Kant all denjenigen Denkrichtungen Pate, welche die Unfreiheit des Menschen betonen. In dieser Tradition steht etwa das Denken Schopenhauers.24 Das Reich der Freiheit repräsentiert bei Kant der Vernunftmensch. Er ist frei im Sinne der moralischen Freiheit, deren Quelle die „reine Vernunft“ ist. Seine Verwandtschaft mit Luthers geistlichem Menschen, der frei im Sinne der christlichen Freiheit ist, liegt somit auf der Hand. Die „reine Vernunft“ Kants nimmt die Stellung ein, die bei Luther von Gott besetzt ist. Die lutherische Entgegensetzung von Gott und Welt verwandelt sich bei Kant in die Entgegensetzung von Vernunft und Sinnenwelt.

Es ist bemerkenswert, dass es vor dem Hintergrund dieser dualistischen Lehren weder Kant noch Luther gelingt, das Problem des Bösen auf überzeugende Weise zu lösen. Luther charakterisiert zwar den leiblichen Menschen als böse, aber angesichts seiner These von der Unfreiheit des menschlichen Willens fragt sich, was er tatsächlich unter diesem Ausdruck versteht. Trotz vieler äußerlicher Übereinstimmungen hat das Wort „böse“ offenbar eine andere Bedeutung als bei Augustinus. Der in diesem Zusammenhang naheliegende Schluss wäre der, dass die Quelle des Bösen in Gott liegen muss, weil nur Gott frei ist.25 Doch Luther verteidigt die Güte Gottes mit dem Hinweis darauf, dass diese Güte ungeachtet des Urteils der Vernunft gläubig angenommen werden soll. Entsprechende Schwierigkeiten lassen sich auch bei Kant beobachten. Im Unterschied zu Luther vertritt er die Auffassung, dass der Begriff des Bösen ausschließlich in moralischer Bedeutung gebraucht werden kann. Die Annahme der Wahlfreiheit im augustinischen ← 20 | 21 → Sinne scheint also notwendig zu sein. Das Problem besteht allerdings darin, dass es im Rahmen seiner Zwei-Welten-Theorie für eine derartige Wahlfreiheit keinen Platz gibt. Die reine Vernunft schreibt nur das Gute vor und kann also nur die Quelle der moralischen Freiheit sein. Der Tiermensch kann hingegen deswegen nicht die Quelle des Bösen sein, weil er unfrei ist. Das Böse bildet somit ein ungelöstes Problem der kantischen Ethik. Erst der Paradigmenwechsel, den Kant in der Religionsschrift vollzieht, ermöglicht ihm, dieses Problem zu bewältigen. Kant ersetzt dort seine Zwei-Welten-Theorie durch ein neues Modell, in dem er den Tiermenschen und den Vernunftmenschen aufeinander bezieht. Da im Zentrum dieses Modells die Wahlfreiheit steht, nähert sich Kant dem augustinischen Standpunkt. Dass er dabei das Problem der Gnade nicht im augustinischen, sondern im pelagianischen Sinne löst, beweist jedoch, dass er die Macht des Bösen im Vergleich mit der christlichen Tradition unterschätzt. Die Argumente, die Kant in diesem Zusammenhang formuliert, machen deutlich, dass er im Hinblick auf das Problem der Gnade seiner Zwei-Welten-Theorie verbunden bleibt.

0.2. Überblick über den Inhalt der Arbeit

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil (Kapitel 1 und 2) wird die Freiheit im Christentum und im zweiten Teil (Kapitel 3 bis 8) die Freiheit bei Kant thematisiert. Die Untersuchung fängt mit der Betrachtung über die Freiheitslehre des Augustinus an (Kapitel 1). Um diese Lehre einigermaßen plausibel zu machen, ist der Rückgriff auf die christliche Heilsgeschichte, so wie sie Augustinus in Anlehnung an die Bibel in Vom Gottesstaat (413–426) zur Darstellung bringt, notwendig. Zunächst wird die Freiheit vor dem Sündenfall und in diesem Zusammenhang die zwei Grundbegriffe, die Freiheit zum Guten und die Freiheit der Wahl zwischen Gut und Böse, diskutiert (Kapitel 1.2 und 1.3). Diesem Teil folgt die Betrachtung über die Freiheit nach dem Sündenfall, in der das Problem der Erbsünde und das Problem des Verhältnisses von Gnade und Willensfreiheit, das Augustinus vor allem in der Schrift De gratia et libero arbitrio (426 bzw. 427) behandelt, diskutiert werden (Kapitel 1.4). In diesem Zusammenhang wird auf die Kontroverse zwischen Augustinus und Pelagius eingegangen. Kapitel 1 schließt mit der Skizze zur augustinischen Freiheit des ewigen Lebens.

Kapitel 2 befasst sich mit der Freiheit bei Luther. Die Untersuchung wird in zwei großen Schritten durchgeführt. Zunächst wird der Begriff der christlichen Freiheit, mit dem Luther sich in der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520) beschäftigt, diskutiert (Kapitel 2.2). Grundlegend für das Verständnis ← 21 | 22 → dieser Freiheit ist Luthers Lehre von der doppelten Natur des Christen. In diesem Zusammenhang werden Luthers Glaubensbegriff und seine Ethik diskutiert. Die Konsequenzen der Ablehnung der menschlichen Willensfreiheit werden bereits jetzt deutlich und dieser Problematik wird im Kontext von Luthers Schrift De servo arbitrio (1525) noch tiefer nachgegangen (Kapitel 2.3). Die Darstellung fängt mit der Skizze zu Erasmus von Rotterdam an, der in De libero arbitrio (1524) die augustinische These von der Koexistenz von Gnade und Willensfreiheit verteidigt. Im Anschluss daran wird Luthers Lehre vom „geknechteten Willen“ ausführlich diskutiert. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Gründe, die Luther zur Ablehnung der Willensfreiheit veranlasst haben. Die Darstellung kulminiert in der Betrachtung über Luthers Rechtfertigungslehre, die unter zwei Gesichtspunkten, dem objektiven und dem subjektiven, diskutiert wird. Die in Kapitel 2.2 signalisierten Unterschiede zwischen Luther und Augustinus kommen jetzt mit aller Deutlichkeit zum Vorschein. Zum Schluss der Darstellung der Freiheit bei Luther wird ergänzungsweise auf seinen Begriff der Freiheit in irdischen Dingen eingegangen. Diese „äußere“ Freiheit wird im Kontext von Luthers Lehre von den zwei Regimenten, dem geistlichen und dem weltlichen, kurz diskutiert (Kapitel 2.4).

Mit der Darstellung der Freiheit im Christentum wird der Boden für den zweiten Teil der Arbeit vorbereitet. Dieser Teil fängt mit der Skizze zum Problem der Neubegründung der Metaphysik durch Kant an (Kapitel 3). Im Mittelpunkt dieser Neubegründung steht die Lehre vom Apriori (die sogenannte „kopernikanische Wende“), die Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft philosophisch erarbeitet hat. Mit dieser Lehre destruiert er die alte Metaphysik, ohne jedoch auf das Thema selbst zu verzichten. Die metaphysische Triade Gott, Freiheit und Unsterblichkeit rechnet Kant im Kontext der theoretischen Vernunft dem Bereich des Glaubens zu, aber den eigentlichen Zugang zu dieser Triade glaubt er mit Hilfe der praktischen Vernunft (Moral) gewonnen zu haben (Kapitel 3.1). Es stellt sich dabei heraus, dass Kant einerseits die wesentlichen Bestände der christlichen Heilsgeschichte übernimmt, dass er sich aber andererseits von dieser Geschichte, die für Augustinus und Luther so bedeutend war, distanziert (Kapitel 3.2). Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind für Kant – ähnlich wie bei Augustinus und Luther – vor allem unter dem praktisch-existentiellen Gesichtspunkt von Interesse. Anders als seine Vorgänger betrachtet er aber die Heilsgeschichte als etwas, worüber die „reine Vernunft“ richten kann. Diese Denkweise ist die Folge seiner Faszination für die (mathematischen) Methoden der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Kant bewundert die Sicherheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnis und mit seiner Lehre vom Apriori legt er eine philosophische Begründung dieser Sicherheit vor.

← 22 | 23 → Die Freiheit wird daher zunächst im Kontext von Kants erkenntnistheoretischen Schriften, der Kritik der reinen Vernunft (1781) und der Prolegomena (1783), diskutiert (Kapitel 4). Von grundlegender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Lehre vom Apriori, die Kant im Hinblick auf die Erkenntnis der Sinnenwelt entfaltet (Kapitel 4.1.1). Sie besagt, dass Raum und Zeit subjektive (formale) Bedingungen der Erkenntnis seien. Das Gleiche gilt für das Denken: Man müsse um der echten Erkenntnis willen zwischen dem „reinen“ Denken und der Wahrnehmung unterscheiden. Das reine Denken sei keine Wahrnehmung, sondern eine Bedingung der Erkenntnis der Wahrnehmungen. Von dieser Lehre ausgehend, formuliert Kant die These, dass nur „Erscheinungen“ und nicht die „Dinge an sich“, das heißt Dinge, die unabhängig vom erkennenden Subjekt existieren, erkannt werden können. Dies führt zu der Frage nach dem ontologischen Status der Dinge an sich (Kapitel 4.1.2). Kant betrachtet sie als Elemente der „intelligiblen“ Welt, die im Unterschied zu der „sensiblen“ Welt nicht wahrgenommen, sondern bloß gedacht werden kann. Wird Kants These, dass es ein Irrtum sei, dem bloß Gedachten die Existenz zuzuschreiben, ernst genommen, stellt sich die Frage, was Kant sagen will, wenn er den Dingen an sich trotzdem die Existenz zuschreibt. Indem er dies behauptet, verwickelt er sich in kaum lösbare Aporien. Seine Lehre vom Apriori erweist sich damit als problematisch. Auf dieser Grundlage entfaltet Kant seinen Begriff der transzendentalen Freiheit (Kapitel 4.2.1). Als Repräsentant der intelligiblen Welt tritt in diesem Zusammenhang nicht „das Ding an sich“, sondern die „reine Vernunft“ in den Vordergrund. Sie bildet einen absoluten Gegensatz zu der sensiblen Welt, die Kant als „Natur“ bezeichnet. Da in der Natur alles durch Naturnotwendigkeit geschieht, erklärt Kant die reine Vernunft zur Quelle der Freiheit. Bereits an dieser Stelle wird die gedankliche Nähe zu Luthers Lehre von der doppelten Natur des Christen recht deutlich. Hinzu kommt noch, dass Kant die transzendentale Freiheit mit dem moralischen Sollen identifiziert. Er verfährt damit sehr konsequent, weil in seinem System der gesamte Bereich des Seins mit der Natur und damit also mit der Unfreiheit zusammenfällt. Die Folge davon ist aber, dass Kant das Problem der Wahlfreiheit in der Kritik der reinen Vernunft nicht zu lösen vermag, auch wenn er dort den Ausdruck „freie Willkür“ gebraucht (Kapitel 4.2.2).

Mit dem Thema der Freiheit befasst sich Kant auch in seinen moralphilosophischen Schriften, in denen der Begriff der moralischen Freiheit eine zentrale Rolle spielt. Diesem Freiheitsbegriff wurde Kapitel 5 gewidmet. Im Kontext der transzendentalen Freiheit hat Kant zwar darauf hingewiesen, dass ihre Quelle im moralischen Sollen liegt, aber den Inhalt des Sollens noch nicht bestimmt. Dies tut er erst in seinen moralphilosophischen Schriften: Grundlegung zur Metaphysik ← 23 | 24 → der Sitten (1785), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Die Metaphysik der Sitten (1797). Entsprechend wird zunächst die kantische Ethik diskutiert (Kapitel 5.1). Indem Kant das „moralische Gesetz“ aus der reinen praktischen Vernunft begründen will, vollzieht er – analog zu seiner Erkenntnistheorie – eine kopernikanische Wende in der Ethik (Kapitel 5.1.1). Die Unterschiede zwischen der „autonomen“ Ethik Kants und der „heteronomen“ Ethik im Sinne von Augustinus bzw. Luther werden damit deutlich. Es entsteht der Eindruck, als ob Kant die Moral aus dem Kontext der christlichen Heilsgeschichte zu befreien versuchte. Die Skizze zum moralischen Gesetz führt dann zu der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie, die unter dem moralphilosophischen Gesichtspunkt diskutiert wird (Kapitel 5.1.2). In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass sich trotz der kopernikanischen Wende zahlreiche Verbindungslinien zwischen Kant und Christentum ziehen lassen. Dies rührt daher, dass Kant seiner Ethik die Unterscheidung von Vernunftmensch und Tiermensch zugrunde legt. Die Art und Weise, wie er das Verhältnis beider Menschengestalten zueinander bestimmt (Gegensatz), lässt vor allem eine auffallende Ähnlichkeit mit Luthers Lehre von der doppelten Natur des Christen erkennen.

Details

Seiten
261
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653043624
ISBN (MOBI)
9783653981131
ISBN (ePUB)
9783653981148
ISBN (Hardcover)
9783631652640
DOI
10.3726/978-3-653-04362-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
Augustinus, Aurelius Kant, Immanuel Luther, Martin transzendentale Freiheit christliche Freiheitslehre
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 261 S.

Biographische Angaben

Igor Nowikow (Autor:in)

Dr. Igor Nowikow studierte Germanistik und Philosophie in Gießen und Poznań (Polen). Er lehrte an verschiedenen Hochschulen in Polen und ist derzeit als Übersetzer tätig.

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Titel: Der Freiheitsbegriff bei Kant
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