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Die Chimäre als dialektische Denkfigur im Artusroman

Mit exemplarischen Analysen von Teilen des «Parzival» Wolframs von Eschenbach, des «Wigalois» Wirnts von Grafenberg und der «Crône» Heinrichs von dem Türlin

von Eva Bolta (Autor:in)
©2014 Dissertation 270 Seiten
Reihe: Mikrokosmos, Band 81

Zusammenfassung

«Vorn ein Löwe, hinten Schlange und Ziege inmitten», so beschreibt Homer die Chimäre. Das Mischwesen tritt als komposite Figur in Erscheinung, die als liminales monstrum die Grenzen zwischen engem Regelsystem und imaginativer Freiheit überwindet. Aus ihr entwickelt die Philosophie das Prinzip topisch-dialektischen Kombinierens, das sich auch in der Poetik mittelalterlicher Texte zeigt. Die Arbeit setzt den Begriff des Chimärischen von «hybrid», «fantastisch» und «grotesk» ab und führt die Differenzierung mittels einer Analyse exemplarischer monstra aus den Artusromanen Parzival, Wigalois und Diu Crône fort. Schließlich enthüllt eine komparatistische Interpretation Gaweins das widerspruchsvolle Konzept des scheinbar idealen Ritters, der damit zum wichtigsten Agenten der chimärischen Denkfigur wird.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel2
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Danksagung
  • Einleitung
  • Kapitel I – Terminologische Differenzierung
  • 1 Das Phänomen Chimäre
  • 1.1 Pikturale Chimären
  • 1.2 Literarische Ausgestaltungen
  • 1.3 Die Reflexion der Chimäre in der Philosophie
  • 2 Chimäre und Groteske
  • 2.1 Pikturale Grotesken
  • 2.2 mirabilia mundi
  • 2.3 Divergenzen
  • 3 Metamorphose
  • 3.1 Narrativ inszenierte Metamorphosen
  • 3.2 Erzählkalkül Metamorphose
  • 4 Hybride
  • 4.1 Pikturale Hybride
  • 4.2 Hybride Poetik
  • Kapitel II – Chimärische monstra
  • 1 Cundrie in Wolframs von Eschenbach Parzival
  • 1.1 Hässlichkeit und innere Tugend
  • 1.2 Das chimärische Phantasma
  • 1.3 Terminologie
  • 1.4 Expertenwissen
  • 1.5 Das Schwellenwesen
  • 2 Pfetan in Wirnts von Grafenberg Wigalois
  • 2.1 Die Begegnung mit dem Drachen
  • 2.2 Der Drache in antiker und mittelalterlicher Tradition
  • 2.3 Archaische Spuren
  • 2.4 Das heraldische Phantasma
  • 3 Das Wundersame Tier / König Lar in Wirnts von Grafenberg Wigalois
  • 4 Marrien in Wirnts von Grafenberg Wigalois
  • 5 Die Botenfigur in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône
  • Kapitel III – Der chimärische Protagonist
  • 1 Reflexion
  • 1.1 Grundsätzliches zur Protagonistenanalyse
  • 1.2 Die Protagonistenbezogenheit der Erinnerung
  • 1.3 Wolframs von Eschenbach Idee zur Figur
  • 1.4 Wirnts von Grafenberg genealogisches Figurenkonzept
  • 1.5 Heinrichs von dem Türlin gespaltener Protagonist
  • 2 Liminalität der Figur
  • 2.1 Phantasmatische Verstrickungen in Wolframs Parzival
  • 2.2 Raumaggregationen im Wigalois
  • 2.3 Die Wunderketten in der Crône
  • 2.4 Im Reich des Todes
  • 3 Transgression
  • 3.1 Mord, Minne und roup im Parzival
  • 3.2 Vergewaltigung im Wigalois
  • 3.3 Verrat in der Crône
  • 4 Propagierte, gespiegelte und verlorene Identität
  • 4.1 Zusammenschluss der Generationen im Wigalois
  • 4.2 Doppelgänger in der Crône
  • 4.3 Gaweins invertierte Identität in Sir Gawain and the Green Knight
  • 4.4 Die verlorene Identität im L´Âtre Périlleux
  • 4.5 Ein Fazit – Gawein als ander
  • Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Reihenübersicht

← 8 | 9 → Einleitung

Auffällige Figuren schmücken die Initialen und Ränder mittelalterlicher Prachthandschriften und illuminierter Gebrauchstexte sowie die Fassaden und Eingangsbereiche gotischer Kathedralen. Ihre Körper setzen sich aus disparaten Komponenten zusammen; sie drohen jede Ordnung, ob weltlich oder klerikal, zu durchbrechen. Als Phänomene der Liminalität umspielen und übertreten sie die Grenzen zwischen Heidnischem und Religiösem, Dämonie und Apotropeia, klassischem Regelsystem und imaginativer Freiheit. Ihr vermehrtes Auftauchen gerade im religiösen Bereich mag zunächst als heidnisches Relikt erscheinen und bringt Bernhard von Clairveaux zu dem Ausspruch: „Caeterum in claustris coram legentibus fratribus quid facit illa ridicula monstruositas, mira quaedam deformis formositas, ac formosa deformitas? – Was hat in den Klöstern unter den Augen der mit Beten beschäftigten Fratres diese Galerie lächerlicher Ungeheuer zu suchen, diese verwirrende missgebildete Schönheit und diese schöne Missgebildetheit…?“1 In seiner Frage schwingt die Ambivalenz des mittelalterlichen Verständnisses solcher Kreaturen mit: Einerseits werden sie mit dem eindeutig negativ konnotierten Terminus monstruositas belegt; andererseits lässt sich eine eigentümliche, als irritierend wahrgenommene Faszination nicht leugnen, die ihnen Schönheit zugesteht, wo eigentlich Hässlichkeit zu erwarten wäre.

Denn das Mittelalter übernimmt das antike Ideal der Kalokagathie, wonach innerer Wert und äußere Hülle notwendig aufeinander verweisen, ein tugendhafter Mensch folglich schön, ein hässliches Wesen bösartig sein muss – doch ebenso oft, wie dieses Ideal auf bildlichen Darstellungen und in der volkssprachigen Literatur zutrifft, wird es von Didaktikern und Künstlern hinterfragt und durchbrochen. Auch die monstra der Buchillustrationen, der Baukunst und Malerei erweisen sich überraschenderweise nicht als eindeutig negativ besetzt; ihnen eignet zugleich eine apotropäische Funktion, so dass sie zum Schutz der Reliquien eingesetzt werden (können). Ihre Präsenz lässt folglich auf eine Semantik des Monströsen schließen, die sich vom heutigen Verständnis deutlich unterscheidet.

Abseits solcher pikturalen Inszenierung tauchen auch in der volkssprachigen Epik des Hochmittelalters entsprechende Figuren auf, deren Ambivalenzen und Liminalität von der Forschung nicht oder nur in anderweitigem Interessenszusammenhang berücksichtigt wurden. Etwa die anderweltlichen Figuren des Artusromans, deren körperliche Erscheinungen gekennzeichnet sind durch anthropozoomorphe Attribute oder die Kombination von Körpergliedern unterschiedlicher Spezies: Figuren wie Cundrie aus dem Parzival Wolframs von Eschenbach, Pfetan aus dem Wigalois Wirnts von Grafenberg, der Bote des Meereskönigs Piure aus der Crône Heinrichs von dem Türlin u. a., denen ich den ersten Teil meiner Arbeit widmen möchte. Bislang fehlt eine Monographie, die diese in verschiedenen Artusromanen ← 9 | 10 → auftretenden Einzelfiguren einerseits auf ihre spezifischen Besonderheiten überprüft und sie andererseits in einen dialektischen Gesamtzusammenhang einordnet. Im Anschluss an Walter Haugs einschlägige Arbeiten versteht man sie aber vorwiegend als fantastische Vertreter der Anderwelt, als „Ausgeburten einer perversen Einbildungskraft“, welche der Freiheit des Fiktionalen geschuldet sind,2 und bescheinigt dem späten Artusroman eine dämonisierte Gegenwelt, vor der sich der krisenlose Held umso glanzvoller abhebe, je wilder und ungehiurer seine Aventiuregegner erscheinen.3

Analog zu den Initial- und Randillustrationen der Buchkunst und plastischen Figurationen der Baukunst belegt das close reading der ausgewählten Texte jedoch auch für die literarischen Figuren eine nicht zu leugnende Ambivalenz, die mit Begriffen wie ‚fantastisch‘ oder ‚ungeheuerlich‘ nur unzureichend beschrieben wird und deren Funktionalität erst vor dem Hintergrund einer (Denk)Figur erhellt wird, die in der Antike ihren Anfang nimmt: die Chimäre.

Als er aber empfangen des Schwiegersohns tückisches Zeichen,
Hieß er ihn zuerst die ungeheure Chimaira
Töten; die war von göttlicher Herkunft, nicht von den Menschen:
Vorn ein Löwe und hinten Schlange und Ziege inmitten,
Hauchte sie aus die schreckliche Glut des lodernden Feuers.4

Ausgehend von ihrer ersten Nennung in Homers Ilias, wird das Wesen der Chimäre bereits in der Antike in divergenten Wissenszusammenhängen diskutiert, wobei mythologische und naturkundliche Interpretationen einander ergänzen. Als intelligibles Phantasma nimmt sie zudem großen Einfluss auf Philosophie und Wissensräume der mittelalterlichen Kultur. In ihrer ikonischen Präsenz erscheint die Chimäre als eine Aggregation von Körpergliedern verschiedener Lebewesen zu einer gestalthaften Einheit; daneben kann sie auf der Ebene des ordo artificialis die Form eines disparate Elemente kombinierenden Gedankenspiels annehmen.

Um terminologische Unschärfe zu vermeiden, muss das Phänomen der Chimäre deutlich von ähnlichen Kombinationsmodi abgesetzt werden. So werden Begriffe wie ‚grotesk‘ und ‚hybrid‘ in der Forschung häufig für Kombinatoriken bzw. Darstellungen verwendet, die als chimärisch identifiziert werden können. Während das Groteske zumeist die Deformation eines Körpers durch Verzerrung und/oder Übertreibung seiner Konturen und Proportionen ← 10 | 11 → bezeichnet, meint hybrid die Verschmelzung typischer Merkmale und Funktionen verschiedener Gattungen. Eine weitere Denkfigur, die Einfluss sowohl auf Figurenkonzepte als auch auf die Poetik eines Textes nehmen kann, ist die Metamorphose. Dabei handelt es sich um eine Transformation einer Gestalt in eine andere mittels der Überschreitung einer Gattungsgrenze. Im Anschluss werden diese vier Kombinationsmodi im Anschluss anhand pikturaler und literarischer Darstellungen beleuchtet, um einen systematischen Umgang mit dem Begriff der Chimäre im weiteren Verlauf der Arbeit zu ermöglichen. ← 11 | 12 →

1 Bernhard von Clairvaux, Opera omnia, zitiert nach: Migne, PL 182, XII, 29. Übersetzung nach Schmitt, Jean Claude: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter. Stuttgart 1992, S. 178.

2 Vgl. Haug, Walter: Das Fantastische in der späteren deutschen Artusliteratur, in: Karl Heinz Göller (Hrsg.): Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn, 25.-29. September 1982. Paderborn 1984, S. 133-149, hier S. 146.

3 Vgl. Cormeau, Christoph: ›Wigalois‹ und ›Diu Crône‹. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Aventiureromans. München 1977, S. 34ff.; sowie Haug, Das Fantastische, S. 143; derselbe: Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman, In: Seminar 21 (1985), S. 165-191 – wieder in: derselbe: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, S. 67-85, hier S. 80.

4 Homer: Ilias. Übersetzung, Nachwort und Register von Roland Hampe. Stuttgart 1979, S. 115.

← 12 | 13 → Kapitel I – Terminologische Differenzierung

1 Das Phänomen Chimäre

Zum ersten Mal taucht die Chimäre in Homers Ilias als dreigestaltiges Wesen auf, zusammengesetzt aus Löwe, Schlange und Ziege: „Vorn ein Löwe und hinten Schlange und Ziege inmitten.“5 Homer erzählt in VI 179-183 von ihrer Bezwingung durch Bellerophon und verweist in XVI 328f. auf die lykische Sage ihrer Aufzucht durch Amesidoros. Grundsätzlich folgen antike Autoren wie Hesiod, Vergil und Ovid dieser Beschreibung, obgleich sie die drei Komponenten unterschiedlich kombinieren. So handelt es sich nach Hesiods Theogonie um ein dreiköpfiges Wesen;6 in Ovids Metamorphosen heißt es im Unterschied zu Homer: „[…] quoque Chimaera iugo mediis in partibus ignem, pectus et ora leae, caudam serpentis habebat. – […] Chimaera [...], Feier im Leib, mit dem Kopf und der Brust einer Löwin und dem Schweif eines Drachen.“ (9, 6477) Vergil dagegen verzichtet völlig auf eine genaue Beschreibung und konfrontiert seinen Helden im sechsten Gesang seiner Aeneis mit einer großen Anzahl Ungeheuer, unter denen sich die flammenbewehrte Chimäre befindet.8 Der Mythos liefert die exemplarische Form, in der sich die Chimäre denken lässt – sie ist von Anfang an ein kombinatorisches Phänomen. Darüber hinaus scheinen die Abstraktheit des Mythos und die chimärische Mischgestalt eine starke Verbindung zu teilen:

Formen verschiedenartiger Wesen in einer Gestalt vereinigt zu haben, bedeutet für die Griechen eher etwas Negatives als Positives, ja, es bedeutet die Gestaltlosigkeit selbst. Mischgestalt und Begrifflichkeit stehen in demselben Gegensatz zu den mit griechischen Augen erblickten reinen Gestalten der Weltwirklichkeiten. Urweltliche, vorhomerische Götter haben in Vergleich mit den homerischen Göttergestalten beides in höherem Maße: sowohl Begrifflichkeit wie Mischgestalt. Die Begrifflichkeit stützt die Mischgestalt und erhält sie bis in spätere Zeiten hinein, wo gerade das fortschreitende ← 13 | 14 → Begrifflichwerden neue Mischungen hervorzubringen fähig ist, und am Ende zur Verwirklichung der Paradoxie führt: reinste Begrifflichkeit – reinste Chimäre.9

Diese Form der Gedanklichkeit der Chimäre tritt in naturkundlichen Traktaten oder philosophischen Diskussionen mehr oder weniger deutlich hervor. Es wäre deshalb falsch, von einer evolutionären Entwicklung auszugehen, die am Anfang ein konkretes mythologisches Tier ansetzt, das im Laufe der Zeit durch ein reines Gedankenkonstrukt ersetzt würde.

Neben dem Mythos deutet die Naturkunde die Chimäre rationalisierend als Berg, so zuerst Palaiphatos in den Unglaublichen Geschichten: „Die Schluchten [in Lykien] sind auch sonst sehr steil, in der Mitte aber ist eine große Erdschlucht, aus der Feuer aufsteigt. Dieses Gebirge trägt den Namen Chimaira.“10 Er hinterfragt darüber hinaus die Existenz dieses Wesens:

Einige glauben, dass es dieses Tier gegeben habe – mit drei Köpfen und nur einem Körper. Unmöglich ist es, dass eine Schlange, ein Löwe und eine Ziege ähnliches Futter gebrauchen, und [anzunehmen,] dass etwas mit sterblicher Natur Feuer speie, ist töricht. Und welchem der Köpfe folgte der Körper?11

Diese Methode setzt Lukrez fort, indem er die potenzielle Existenz von Mischwesen in De rerum natura ausführlich diskutiert:

[…] qui fieri potuit, triplici cum corpore ut una, prima leo, postrema draco, media ipsa, Chimaera ore foras acrem flaret de corpore flammam? – […] wie hätte sein es können, daß eins, mit dreifachem Körper, Leu vorn, Drachen zuletzt, in der Mitte sie selber, Chimaira, aus dem Schlunde vom Leib die beißende Flamme versandte? (904-906)12

Lukrez kommt im Folgenden zu dem Schluss, dass Centaur, Scylla, Satyr und Chimaira nach den Gesetzen der Natur nicht existieren können, da sie aus widersprüchlichen Komponenten bestehen:

← 14 | 15 → […] qui fingit potuisse animalia gigni, nixus in hoc uno novitatis nomine inani, multa licet simili ratione effutiat ore, […]. nam quod multa fuere in terris semina rerum tempore quo primum tellus animalia fudit, nil tamen est signi mixtas potuisse creari inter se pecudes compactaque membra animantum, propterea quia quae de terris nunc quoque abundant herbarum genera ac fruges arbustaque laeta non tamen inter se possunt complexa creari, sed res quaeque suo ritu procedit, et omnes foedere naturae certo discrimina servant. – Wer darum erdichtet […] es hätte gezeugt werden können derlei Belebtes, einzig gestützt auf diesen Begriff, den leeren, der Neuheit, mag dann Unsinn noch viel auf ähnliche Weise herplappern! […] Denn wenn auch Samen der Dinge viele waren auf Erden damals, als zuerst die Erde Belebtes erzeugte, gibt es doch Anzeichen nicht, daß vermischt hätten unter sich können Tiere geboren werden, vermählt die Glieder von Wesen, darum, weil auch was jetzt aus Erden in Fülle ergießt sich, Arten von Kräutern, die Frucht des Feldes und üppige Büsche, dennoch nicht unter sich gekreuzt zu entstehen vermöchten, sondern ein jegliches Ding in eigner Weise hervortritt, alle nach festem Gesetz die Grenzen des Wesens bewahren. (908-924)13

Diese trotz aller Divergenzen doch recht konkreten Vorstellungen von einem (wie auch immer gearteten) animalischen Wesen werden ergänzt durch ein abstrakteres Verständnis der Chimäre. So begreift Servius Honoratus sie als Metapher: „Der Fuß des Berges [der den Namen Chimaera trägt] sei von Schlangen verseucht, an den Hängen gäbe es Weiden und Ziegen, der Gipfel speie Flammen, und Löwen hätten dort ihre Höhlen; die Chimaira wäre eine Art Metapher dieses seltsamen Berges.“14 Diese Auslegung wird von Horaz aufgenommen (vgl. I, 1.2) und spielt eine Rolle in den Überlegungen des Aristoteles (vgl. I, 1.3).

Der lateinische und aus ihm hervorgegangene althochdeutsche Physiologus sowie der Millstätter Physiologus erwähnen die Chimäre nicht, führen aber chimärisch-kombinierte Sirenen und Onocentauren an, wobei der anthropomorphe Körper des letzteren in der Auslegung einen Zwiespalt des Herzens anzeigt:

Sirene, inquit, animalia sunt mortifera, que a capite usque ad umbilicum figuram femine habent. Extrema pars usque ad pedes volatilis imaginem tenet atque musicum quoddam dulcissimum melodie carmen canunt [...] – Sirene sint meremanniu unde sint uuibe gelih unzin ze demo nabilin, dannan uf uogele, unde mugin uile scono sinen.

[...]

Eo modo onocenthaurus duabus naturis constat, ut Phisiologus asserit. Nam superior pars homini similis est, posteriorque asino similis et natura eius valde agrestis. Per hunc assimilantur bicordes et bilingues homines [...] – Ter onocentaurus, er ist halb man, halb esil, unde bezeichinet di dir zuiualtic sint un in iro herzon [...]15

← 15 | 16 → Konrads von Megenberg Buch der Natur kennt ebenfalls eine Vielzahl chimärisch kombinierter Wesen. Zusammengesetzt aus animalischen und humanoiden Komponenten werden beispielsweise Onacenthauren (ez hat ein haupt als ein eſel vnd einen leip ſam ein menſch16), Pilos (daz hat ein geſtalt oben als ein menſch vnd iſt vnden geſtalt als ein tier17) und der rein animalische bomachen (daz hat ein geſtalt oben als ein menſch vnd iſt vnden geſtalt als ein tier18) undifferenziert zwischen all den anderen heimischen und fremden Tieren genannt.

Es lassen sich demnach zwei Traditionsschienen voneinander scheiden: Zum einen die Infragestellung der Kombinationslogik verschiedenartiger Wesenheiten durch Lukrez und die Umdeutung der Chimäre zur Metapher; zum anderen verbürgen Bestiarien in Anlehnung an die Autoritäten Plinius und Solinus die Existenz anthropomorph-kombinierter Wesen. Auf diese Weise erhalten chimärische Mischwesen epochenübergreifende Kontinuität und werden noch in der frühen Neuzeit auf Holzschnitten und Flugblättern abgebildet (vgl. II, 2.2).

1.1 Pikturale Inszenierungen

Die mythologische Chimäre und chimärisch zusammengesetzte Wesen sind in fast allen Kunstbereichen des Mittelalters verbreitet: Wand- und Buchmalerei, Tapisserie, Bauskulptur, Mosaik, Tierplastik sowie Dekoration von Gewändern und Gebrauchsgegenständen.19

Den Variations- und Kombinationsmöglichkeiten von menschlichen und tierischen Mischwesen sind hier kaum Grenzen gesetzt. Vogelmenschen und Meermenschen, Bauchgesichter und Schlangenfüßler, Skorpionmenschen und Schildkrötenmenschen, Baummenschen und Hirschköpfige, drachenfüßige und mehrköpfige Riesen, Mannweiber und borstige Riesenfrauen mit Eberzähnen und Stierschwänzen, Seepferdchen und Elephantenfische, Schlangenhalslöwen und Ameisentiger, Vögel mit Eisenkrallen oder Eisenschnäbeln, geflügelte Steinböcke und Schlangenvögel tummeln sich20

auf zahlreichen Bildzeugnissen. Besonders beachtenswert ist Wulf Raecks Hinweis auf die Funktion des Chimärenkampfes: „Apotropäische oder glückbringende Funktion […] wird ← 16 | 17 → man wohl für das Vorkommen des Bellerophon-Themas auf Gürtelschnallen, Schwertknäufen und sonstigen Rüstungsteilen anführen können.21 Diesen Befund konnte Ulrich Kuder durch Einbezug von Buchkunst und Architektur erweitern:

In der Bauskulptur und in den Fußbodenmosaiken des Mittelalters gibt es eine große Gruppe von Tieren und tierisch-menschlicher Mischwesen, Sirenen, Kentauren und Drachen, die als Apotropoia dienen. Zu dieser Gruppe gehört auch die Chimäre, ein Mischwesen par excellence. Die Gestalt anderer Tiere, denen im Kontext des betreffenden Bauwerks oder Geräts apotropäische Aufgaben zukommen, wurde zuweilen der der Chimäre angeglichen.22

Dabei fällt auf, dass seit dem Übergang von der Antike zum Mittelalter die Illustrationen des Kampfes Bellerophons gegen Chimaira abnehmen,23 dessen Sieg man bereitwillig eine glücksbringende Funktion zusprechen möchte.24 Indes werden Einzeldarstellungen der Chimäre häufiger, auf denen der Held und mit ihm die Assoziation des Sieges über das zunächst doch bedrohliche Wesen fehlen.25 Dies spricht deutlich für eine Positivierung der Semantik dieses monstrum im Mittelalter. Zunächst erstaunlich, aber der Logik dieser Veränderung folgend, obliegt Chimären und den chimärisch kombinierten Wesen nicht mehr nur wie in der Antike der Schutz des Eingangsbereichs, sondern sie treten

vor allem auch in der mittelalterlichen Kunst selbst überall dort auf[…], wo es darum geht, die magische Heilkraft von Reliquiaren und anderen sakralen Gegenständen zu verstärken, die Gebäude zu schützen und die Grenzen. Zu diesen Wesen gehören die Sirenen,[…] die Kentauren und andere Mischwesen, insbesondere solche, deren Leib in den Schwanz einer Schlange bzw. eines Drachens ausläuft.26

Neben dieser Funktionalität existiert im Mittelalter ein allegorisches Verständnis der chimärischen Mischgestalt, das zur Ausgestaltung eines eigenen Bild-Text-Typs führt. So verlangt etwa der auf das Prinzip des Chimärischen zurückgehende vir bonus, den Reinmar von Zweter um 1250 entwirft und der im Spätmittelalter wieder aufgegriffen und bildlich ausgestaltet wird, eine moralisierende Deutung. Dieser ideale Mann fügt sich aus diversen Körperteilen unterschiedlicher Spezies zusammen: „Straußenaugen, Schweineohren, Kranichhals, ← 17 | 18 → Löwenherz; Adler- bzw. Greifenklauen statt Händen, und Bärenfüße.“27 Die tierischen Komponenten werden allegorisch zu Tugenden ausgedeutet, etwa mit chranches hals kann er wol swîgen / unt mit strûzes ougen sehen (185,9f. 28).

In Zusammenhang mit dem vir bonus stehen die seit dem 11. Jahrhundert verbreiteten bildlichen Darstellungen von Lasterallegorien, deren zoomorphe Körper eindeutig chimärisch zusammengesetzt sind. Der beistehende Text deutet die einzelnen Komponenten als Laster.29 Graphische Darstellung und Text ergeben so ein

fest etabliertes Bild-Text-Schema, […] das den Menschen als theriomorphe Summe seiner Laster abbildete und kennzeichnete. Hier verband sich graphische Anschaulichkeit mit sprachlicher Analyse zur formelhaft verkürzten Mitteilung einer übergeordneten, abstrakten Wahrheit.30

Aus dem selben Prinzip entwickelt sich im 14. Jahrhundert die Bild-Text-Formel des sog. Lasterweibchens,31 eine Personifizierung der menschlichen Sündhaftigkeit „als selbständig wesenhafte Summe aller Laster, mit unübersehbarem visuellen Anspruch auf totale Erfassung allen weltlichen Lebens.“32

Details

Seiten
270
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653044898
ISBN (ePUB)
9783653977745
ISBN (MOBI)
9783653977738
ISBN (Hardcover)
9783631654194
DOI
10.3726/978-3-653-04489-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Fabelwesen Kognitionstheorie Monstra Komparatistik
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 270 S.

Biographische Angaben

Eva Bolta (Autor:in)

Eva Bolta studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Stuttgart und hielt dort im Anschluss regelmäßig Lehrveranstaltungen ab. Für einen Vortrag über Gawein erhielt sie den Nachwuchsförderpreis des Deutschen Germanistenverbandes. Derzeit ist sie bei einem großen Medienunternehmen tätig.

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