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Die Gemeinsamkeit der Leiber

Eine sprachkritische Interexistenzialanalyse der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz und Thomas Fuchs

von Johannes Preusker (Autor:in)
©2014 Dissertation 229 Seiten

Zusammenfassung

Immer und überall existieren wir durch, mit und zu den Anderen. In der Philosophiegeschichte ist die Gemeinschaftlichkeit von Sprache, Welt und Leben lange Zeit verkannt worden. Eine irrtümliche Orientierung am Einzelsubjekt beherrschte das Denken von Descartes bis Husserl. Noch heute sind Alltag und Wissenschaft zutiefst geprägt von der cartesianischen Spaltung in Idealität und Realität, Geist und Materie. Zu einem Hoffnungsträger der ganzheitlichen Beschreibung des Menschen hat sich die moderne Leibphänomenologie etabliert. Kann sie diesen Anspruch einlösen? Dieses Buch untersucht dahingehend die Ansätze von Hermann Schmitz und Thomas Fuchs mit teils ernüchternden, teils positiven Ergebnissen. Am Ende wird ein weiterführendes Konzept des Holismus entwickelt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorbemerkung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Die Einführung in das Thema
  • 1.1 Die philosophiegeschichtliche Kontextualisierung
  • 1.1.1 Die Verdeckung und Entdeckung des Leibes
  • 1.1.2 Eine kritische Einordnung
  • 1.2 Der Werdegang und das Werk von Hermann Schmitz
  • 1.2.1 Das System der Philosophie
  • 1.2.2 Die Quellen und Grundzüge der Schmitz’schen Philosophie
  • 1.3 Der Forschungsstand
  • 1.4 Die Zielstellung, der Aufbau und die Begrifflichkeit der Arbeit
  • 2 Die Interexistenzialanalyse der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz
  • 2.1 Die Gegenwart
  • 2.1.1 Angst und Schmerz
  • 2.1.2 Die Appräsenzdimension
  • 2.1.3 Interexistenzialität und Gegenwart
  • 2.2 Der Leib
  • 2.2.1 Interexistenzialität und Leiblichkeit
  • 2.3 Der leibliche Raum
  • 2.3.1 Das motorische Körperschema
  • 2.3.2 Interexistenzialität und leiblicher Raum
  • 2.4 Der Gefühlsraum
  • 2.4.1 Eine Struktur in Analogie zum leiblichen Raum
  • 2.4.2 Das affektive Betroffensein
  • 2.4.3 Interexistenzialität und Gefühlsraum
  • 2.5 Die leibliche Kommunikation
  • 2.5.1 Ein- und Ausleibung
  • 2.5.2 Suggestion und Synästhesie
  • 2.5.3 Interexistenzialität und leibliche Kommunikation
  • 2.6 Ein situativer Rekurs: die Liebe
  • 2.7 Die Zusammenfassung
  • 2.7.1 Fehlerbetrachtung und Endergebnis
  • 2.7.2 Würdigung und Ausblick
  • 3 Die Interexistenzialanalyse der Leibphänomenologie von Thomas Fuchs
  • 3.1 Werdegang und Werk
  • 3.2 Die kritische Weiterführung von Schmitz
  • 3.2.1 Die Leib-Körper-Problematik
  • 3.2.2 Die Leib-Gefühl-Problematik
  • 3.3 Der interpersonale Raum
  • 3.4 Exkurs: Zeit-Diagnosen
  • 3.5 Auswertung und Endergebnis
  • 4 Die weitere Annäherung an die Interexistenzialität
  • 4.1 Eine anthropologische Lesart von Hermann Schmitz: der Leib als Negativität
  • 4.2 Der Leib als Verschränkung von Negativität und Praxis
  • 4.3 Eine nähere Beleuchtung der Sinnkonstitution: der Leib als Transzendenz
  • 4.4 Die Gemeinsamkeit der Leiber: das Sein zu den Anderen als Intertransistenzialität
  • 5 Das Resümee
  • Literaturverzeichnis

1. Die Einführung in das Thema

1.1 Die philosophiegeschichtliche Kontextualisierung

Der Philosoph Hermann Schmitz, geboren 1928, versteht sich selbst als der erste Denker nach 2.000 Jahren, der sich vollständig von der dualistischen Vorprägung gelöst hat.1 Im Blick auf eine solche Selbsteinordnung in die abendländische Philosophiegeschichte soll die Kontextualisierung des Themas zunächst am Leitfaden von Schmitz erfolgen. Anschließend wird eine kritische Würdigung der historischen Analysen von Schmitz zu deren Einbettung in einen allgemeineren Horizont überleiten.

1.1.1 Die Verdeckung und Entdeckung des Leibes

Mit seiner detaillierten historischen Rekonstruktion unter der Überschrift „Die Geschichte der Verdeckung und Entdeckung des Leibes“ verfolgt Schmitz das hochgesteckte Ziel, die sprachlich-geschichtlichen Voraussetzungen eines Menschenbildes durchsichtig zu machen, welches von Introjektion und Dualismus verstellt worden sei.2 Darin rufen die Introjektion als Verlagerung menschlichen Erlebens in eine fiktive Innenwelt und der Dualismus als Seele-Körper-Spaltung des eigentlich ganzen Menschen eine Verdeckung der leiblichen Ganzheit hervor.

Den Ausgangspunkt von Schmitz’ Analyse bildet die Ilias Homers (8. Jh. v. Chr.). Hier findet sich der sogenannte archaische Dynamismus, ein dezentrales und grenzenloses leibliches Erleben, das den Hintergrund für die sich davon entfernende griechische Entwicklung bedeutet:

Es scheint also eine Zeit gegeben zu haben, in der nichts erlebt wurde, ohne daß dieses Erleben am eigenen Leibe gespürt worden wäre.3 ← 11 | 12 →

Dieses Erleben, das Schmitz ungeachtet des Anachronismus mit seinem Terminus des eigenleiblichen Spürens aufnimmt, wird an folgender Textstelle deutlich:

Zürnend vor Schmerz; es schwoll ihm das finstere Herz voll der Galle / Schwarz umströmt; und den Augen entfunkelte strahlendes Feuer.4

Die Gegenden des archaischen Erlebens werden herausgestellt: „frenes“ (φρένες) als Sonnengeflecht und Magengrube, „thymos“ (θυμός) als Brust und Zwerchfellgegend, „menos“ (μένος) als heftiger Drang und kraftvolle Ausdauer, „noos“ (νόος) als Schwellung in der Brust, „stethos“ (στήθος) als Brust im Wechsel von Spannung und Schwellung, „etor“ (ήτορ) als Regung des Reagierens, „kradie“ (κραδίη) als Regung der Initiative und „ker“ (κήρ) als düstere Regung.5

Die erste Station der Introjektion ist die Odyssee Homers. Laut dem Philologen Bruno Snell (1896–1986) beginnt hier die „Entdeckung des Geistes“6; Schmitz identifiziert sie mit der Verdeckung des Leibes. Doch es gilt, diesen undialektischen Ansatz mit Hegel zu relativieren, nach dessen Philosophie die Gleichung so lauten müsste: Die Entdeckung des Geistes ist auch die Entdeckung des Leibes. Nach Schmitz aber geht der Mensch in der Odyssee auf Distanz zu seinen leiblichen Regungen:

Also bellte sein Herz, durch die schändlichen Greuel erbittert. / Aber er schlug an die Brust, und sprach die zürnenden Worte: / Dulde, mein Herz!7

Im Fortgang der Analyse wird der Introjektion die entscheidende Rolle bei der Begründung des psychosomatischen Dualismus zugeschrieben. Schon bei Hesiod (7. Jh. v. Chr.) ist sie greifbar, und Heraklits (520–460 v. Chr.) Kampf gegen den „thymos“ bildet das Gegenstück zum Leib bei Parmenides als locker gefügter Gliederhaufen und zu seiner „meleon physis“ (μελέων φύσις) als leiblicher Ganzheit.8

Die zweite Station bildet Demokrit (460–400 v. Chr.), der die sensualistische Reduktion auf Seiten der Weltdeutung lehrt und damit der Introjektion im menschlichen Selbstverständnis entgegenarbeitet: Die Wahrnehmungsgegenstände werden auf einfachste Reize reduziert, und der atmosphärische Wahrnehmungsrest wird in die Seele verlegt. Dabei vollzieht sich die Introjektion in zwei Schritten: ← 12 | 13 → Zunächst besagt die Innenwelthypothese, dass das Außen nur dann zu Bewusstsein kommt, wenn es im Innen eine Repräsentation findet. Dann erfolgt die besagte Verlagerung des Erlebens vom Außen in das Innen.

An dritter Stelle steht Platon (428–348 v. Chr.), der laut Schmitz zusammen mit dem Wirken von Demokrit die sogenannte Prägungsphase von 450 bis 350 v. Chr. bestimmt.9 Bei ihm vollendet sich der Paradigmenwechsel vom archaischen Dynamismus zum Innenweltdogma. Zwar ist der „thymos“ als ein dem Ich entzogener Antrieb 450 bis 400 v. Chr. noch sehr wirkungsmächtig, aber in den Dialogen „Phaidon“, „Phaidros“ und „Philebos“ erreicht der intellektuell-asketische Rigorismus seinen Höhepunkt:

Sie [die Seele] denkt aber dann am besten, wenn nichts Körperliches sie stört, weder Gehör noch Gesicht noch ein Schmerzgefühl noch auch ein Lustgefühl, sondern wenn sie sich so viel wie möglich auf sich selbst beschränkt ohne Rücksicht auf den Körper und möglichst ohne Gemeinschaft und Berührung mit ihm dem wirklich Seienden zustrebt.10

Mit Platon ergänzt der Rationalismus die Introjektion und den Körper-Seele-Dualismus insofern, als die innere Seelenvernunft die durch den äußeren atmosphärischen Wahrnehmungsrest hervorgerufene Affektion ordnend kompensiert.

Für Schmitz markiert der Platonismus das bedeutendste Ereignis der geistig-sittlichen Geschichte Europas, nämlich das Hervorgehen der nachhomerischen Revolution des menschlichen Selbstverständnisses aus dem Interesse an personaler Erhebung über das Diktat unwillkürlicher Regungen.11 So ist das Selbstgespräch vom homerischen Thymos zur platonischen, stimmlosen Unterredung der Seele mit sich selbst verstummt. Dem ist entgegenzuhalten, dass Platon keineswegs ein einseitiger Verächter des Körpers ist, sondern im „Timaios“ die Materie sogar als notwendige Komponente der Schöpfung behandelt.

Die Geschichte der Verdeckung des Leibes setzt sich für Schmitz bei Aristoteles (384–322 v. Chr.) fort. Zwar lokalisiert er in seiner Frühzeit die Seele zunächst im Herzen12 und betrachtet sie später in eleatischer Tradition als Aussehen des ← 13 | 14 → Körpers13, doch das Festhalten an der platonisch-dualistischen Begrifflichkeit lässt ein Zusammendenken von Körper und Seele gänzlich nicht gelingen. Aristoteles „kann sich nicht mehr von Platons Bann befreien, so wenig, wie die Anthropologie und Psychologie der Folgezeit bis hinein in unser Jahrhundert.“14 Dabei ist anzumerken, dass Schmitz hier die aristotelischen Werke nicht zu Wort kommen lässt, in denen eine situativ-praktische Ganzheit des Menschen vorliegt: die Poetik und die Nikomachische Ethik.

Erst mit den Philosophen des Stoizismus (3. Jh. v. Chr. - 2. Jh. n. Chr.), so der Fortgang der Schmitz’schen Analyse, beginnt die Wiederentdeckung des Leibes. Sie gestaltet sich jedoch mehr als Peripetie denn als konsequentes Vorschreiten. So wird das eigenleibliche Spüren von der Stoa bis zum deutschen Idealismus zunächst in Gott, in Natur und in Bewusstseinsbedingungen hineinprojiziert. Die Leiblichkeit erfährt unter den Stoikern insofern eine Wiederbelebung, als ihre Physik und Psychologie besagen, dass die Seele den Körper durch eine von der Mitte zu den Enden und zugleich von den Enden zur Mitte verlaufende Bewegung zusammenhält. Die leibliche Herkunft dieser sogenannten Tonos-Lehre (τόνος, dt. Spannung) ist für Schmitz unverkennbar, auch wenn hier immer noch eine Körper-Seele-Dichotomie die Begriffswahl prägt.15

Auch Paulus (8–62 n. Chr.) gilt als ein Wiederentdecker des Leibes. Die nicht-dualistische Betroffenheit von überpersönlichen Mächten findet auf einem leiblichen Boden statt:

Der Leib aber nicht der Hurerei, sondern dem Herrn, und der Herr dem Leibe. Gott aber hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft. Wißt ihr nicht, daß eure Leiber Glieder Christi sind?16

Unklar ist an dieser Stelle, weshalb allein Paulus als Leibesautor gewertet wird. So beruht doch die gesamte christliche Tradition, sei es Dogmatik oder Mystik, auf der Fleischwerdung des Wortes nach Johannes, wobei das Fleisch den ganzen Menschen bedeutet.

Ungeachtet dessen fährt Schmitz fort: Bevor sich die Entdeckungsgeschichte des Leibes der weitestgehend leiblosen christlichen Dogmatik unterordnet und sich über Jahrhunderte lediglich im Bereich der Mystik fortsetzen kann, wirkt der ← 14 | 15 → Neuplatonismus (3. Jh. n. Chr.) mit seiner Lehre einer wesentlichen Zusammengehörigkeit der Teile im Weltganzen zumindest auf erkenntnistheoretischer Ebene noch einmal gegen die Auffassung der Sinnesorgane als einzige Wahrnehmungskanäle zwischen Außen und Innen – eine Auffassung, die als Physiologismus die Nahtstelle von Dualismus und Introjektion darstellt.17

In der Herz-Jesu-Mystik des 13. Jahrhunderts erfolgt das Streben nach der Einheit mit Gott am Leitfaden des eigenleiblichen Spürens in der Herzgegend. Schmitz führt ein Zitat des David von Augsburg (1200–1272) an:

Das Herz nämlich, wenn es von der Freude an göttlicher Liebe oder von der Sehnsucht nach göttlichem Genuß entflammt wird, erweitert sich in sich und dehnt sich aus, und, als ob es sich in der Enge der Brust nicht zu fassen vermöchte, versucht es, aus dem Gemüt auszubrechen, um die Flamme, die es innerlich leidet, nach außen zu speien und, indem es irgend eine Abkühlung seiner Glut findet, zu verrauchen.18

Durch die theologische Spekulation des Meister Eckhart (1260–1328) wird die Herz-Jesu-Mystik verdrängt, und innerhalb der christlichen Dogmatik setzt sich die Verdeckungsgeschichte des Leibes fort: Thomas von Aquin (1225–1272) verleiht dem „soma“ (σῶμα), dem paulinischen Leibkörper, eine rein körperliche Wendung zum „corpus“, der nach platonisch-aristotelischem Muster der Seele gegenübersteht, ja für sich allein leblos ist.19

Johannes Duns Scotus (1266–1308) lässt Thomas’ Einheit der substantialen Form als schwache Synthese von Körper und Seele fallen und „nähert sich hier also wieder, nach dem nur halb gelungenen Ausbruchsversuch des Aristoteles und Thomas von Aquino, dem echt platonischen Dualismus und bereitet damit die dualistische Anthropologie des Descartes vor.“20

René Descartes (1596–1650) reduziert die pluralistische Substanzontologie der aristotelisch-scholastischen Tradition auf die Substanzen Geist und Materie, die als „res cogitans“ und „res extensa“21 in einem dualistischen Verhältnis stehen. Der Mensch ist eine entsprechende Zusammensetzung aus Seele und Körper, wobei dieser als mechanischer Automat jene umgibt.

Während sich für Schmitz der anthropologische Dualismus von Descartes über Franz Brentano (1838–1917) bis Johannes Rehmke (1848–1930) weiter zuspitzt, ← 15 | 16 → wird die Entdeckungsgeschichte des Leibes mit der Wiederkehr der physikalisch-theologischen Tonos-Lehre der Stoa fortgeschrieben. Als ein erster Rezipient dieser Lehre gilt Jacob Böhme (1575–1624):

Denn die Härte gibt Wesen und Gewichte, und der Stachel gibt Geist und das fliegende Leben: Dies drehet sich miteinander in sich und aus sich, und kann doch nirgends hin. Was die Begierde, als der Magnet, hart macht, das zerbricht das Ziehen wieder, und ist die größte Unruhe in sich selber, gleich einer wütenden Unsinnigkeit, und ist eine erschreckliche Angst.22

Die herbe Begierde als zentripetale und der bittere Stachel als zentrifugale leibliche Bewegung wird für die Begrifflichkeit von Schmitz noch von größter Bedeutung sein. Allerdings fällt hier abermals der anachronistische Grundzug dieser Rekonstruktion auf: Bei einer solch kryptischen Schreibweise wie der Böhmes grenzt es an Beliebigkeit, in diesem Autor einen Vorreiter der Schmitz’schen Terminologie zu sehen.

Der protestantische Theologe Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) führt nicht nur die Reflexionen Böhmes fort, sondern auch die Isaac Newtons (1643–1727) und der Kabbala, die seit dem 13. Jahrhundert menschliche Leiblichkeit in Gott projiziert, während Newton für die Projektion des Leibes in die Natur steht.23 In den folgenden Worten Oetingers erblickt Schmitz gleichsam die Vorwegnahme einer Differenzierung zwischen Leib und Körper:

Die Quelle des innerlichen Körpers sind die Newton’ianischen Centralkräfte aus dem Widerstande der Attraktion und Repulsion […] Die äußerliche Subsistenz liegt im undurchdringlichen Raum der Materie […]24.

Die Tonos-Kräfte Attraktion und Repulsion oder Kontraktion und Expansion durchdringen sich wechselseitig und sind unteilbar ausgedehnt. Diese aus der Scholastik stammende definitive Ausdehnung hat die Formel „das Ganze überall im Ganzen und wiederum auch in jedem Teile“25.

Obwohl Schmitz Immanuel Kant (1724–1804) den am anthropologischen Dualismus orientierten Autoren zuordnet, muss er zahlreiche leibliche Aspekte des Kant-Opus zu ihrem Recht kommen lassen. So erneuert die dynamische Theorie der Materie die stoische Tonos-Lehre insofern, als das Wechselspiel von Attraktion und Repulsion zur Grundlage der gesamten materiellen Raumerfüllung ← 16 | 17 → erhoben wird.26 Wie bei Oetinger taucht das scholastische „esse in loco definitivum“ wieder auf: Die Seele ist im ganzen Körper unteilbar ausgedehnt. Ein weiterer leiblicher Aspekt bei Kant ist die Lehre von der konstruierenden Bewegung der Einbildungskraft, nach welcher die räumliche Gestaltauffassung von innerer Nachzeichnung abhängig ist.27 Im Erlebnis des Erhabenen und im Spaß am Lächerlichen beschreibt Kant mit „Rührung“ und „Rüttelung“28 leibliche Vorgänge. Wie viele Seiten aus Kants Nachlass aber dem Leib als Möglichkeitsbedingung sinnlicher Erfahrung gelten, wird von Schmitz gänzlich übersehen.

In der Romantik wird der Leib bei Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) als fester Terminus behandelt. Durch „das Überschauen unendlicher Räume, das Wunder der locomotiven Bewegung, Ansteckungen ohne unmittelbare körperliche Berührung, den sogenannten tierischen Magnetismus, die Erzeugung und so weiter“29 gelangt Troxler zu der Auffassung des Leibes als Erfüllung des Raumes über die Körpergrenzen hinweg. Indem er den Leib und die Seele gleichwertig als „zwei Psychen“30 beschreibt und diese vom Geist, jene vom Körper abgrenzt, zeichnet Troxler die wissenschaftliche Verwendung dieser Gegensatzpaare vor.

Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) nimmt die Tonos-Lehre in seine Bewusstseinstheorie auf. Das Ich folgt einer zentrifugalen Richtung, indem es in die Unendlichkeit strebt, und erfährt dabei einen hemmenden Anstoß durch das Nicht-Ich, woraufhin wieder eine zentripetale Bewegung einsetzt. Die Grundlage dieser Theorie ist laut Schmitz abermals das eigenleibliche Spüren.31 Im Werk von Joseph Schelling (1775–1854) sieht er eine Bündelung der theologischen (Böhme), naturalen (Kant) und transzendental-idealistischen (Fichte) Projektion des leiblich spürbaren Tonos.32

Als „Seitentrieb der romantischen Entdeckung des Leibes“33 wird die Philosophie von Arthur Schopenhauer (1788–1860) bezeichnet: Zum einen ist sein Leib ← 17 | 18 → eigentlich der reine Körper Schmitz’, zum anderen stellt er die Objektivation eines an sich metaphysischen Willens dar, dessen Äußerungen wiederum leiblichen Drangcharakter besitzen.

In der Analyse nimmt die Projektion des Leibes in Gott, Natur oder Bewusstsein mit Maine de Biran (1766–1824) ein Ende. Den äußeren fünf Sinnen fügt er den inneren Sinn hinzu, dessen Grunderlebnis darin besteht, über eine gegen den Widerstand körperlicher Trägheit gerichtete Willensanstrengung zum Selbstbewusstsein zu gelangen. Dieses Erleben ist räumlicher Art:

Details

Seiten
229
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653047929
ISBN (ePUB)
9783653978742
ISBN (MOBI)
9783653978735
ISBN (Hardcover)
9783631655818
DOI
10.3726/978-3-653-04792-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (August)
Schlagworte
Phänomenologie Anthropologie Introjektion Dualismus
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 229 S.

Biographische Angaben

Johannes Preusker (Autor:in)

Johannes Preusker studierte Philosophie und Alte Geschichte an der Universität Dresden und forschte ebenfalls dort in Philosophie.

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