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Leben und Lehre

Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus- Studien zu Gerhard, König, Spener und Freylinghausen

von Tim Christian Elkar (Autor:in)
©2015 Dissertation 347 Seiten

Zusammenfassung

Ist lutherische Orthodoxie mit toter Dogmatik und Pietismus mit reiner Frömmigkeit gleichzusetzen? Lange wurde dies so gesehen. Tatsächlich begegneten sich beide Richtungen in einer Orientierung auf die theologischen Grundkategorien von Leben und Lehre. Dies wird erstmalig in dieser dogmatischen Arbeit über die vier herausragenden Vertreter beider Richtungen nachgewiesen: Johann Gerhard, Johann König, Philipp Jakob Spener und Johann Anastasius Freylinghausen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Vorwort
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • 1. Auswahl von Personen und Werk
  • 2. Forschungsstand
  • 2.1. Lutherische Orthodoxie und Pietismus
  • 2.2. Gerhard, König, Spener und Freylinghausen
  • 2.3. Verhältnis von lutherischer Orthodoxie und Pietismus
  • 3. Ausgangspunkte
  • 4. Vorgehensweise
  • 5. Zielsetzungen und Thesen
  • B. Historische Rahmenbedingungen
  • 1. Lutherische Orthodoxie
  • 2. Pietismus
  • 3. Konturen des Streits zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus
  • C. Dogmatische Rahmenbedingungen
  • 1. Die reformatorische Rechtfertigungslehre als Grundlage für lutherische Orthodoxie und Pietismus
  • 1.1. Sola fide – Martin Luther
  • 1.2. Forensische Rechtfertigungslehre – Philipp Melanchthon
  • 1.3. Fazit: Gemeinsame Ablehnung der römischen Rechtfertigungslehre – unterschiedliche Ausgangsposition der eigenen Lehre
  • 2. Die Systematisierung der lutherischen Theologie durch Philipp Melanchthon
  • 2.1. Die Ausbildung evangelischer Dogmen – dargestellt am Beispiel Melanchthons
  • 2.2. Die Nachwirkungen der „Loci“ Melanchthons in lutherischer Orthodoxie und Pietismus
  • 3. Die dogmatischen Werke
  • 3.1. Johann Gerhards „Loci“
  • 3.2. Johann Königs „Theologia“
  • 3.3. Philipp Jakob Speners „Glaubenslehre“
  • 3.4. Johann Anastasius Freylinghausens „Grundlegung“
  • 4. Das Schriftprinzip Johann Gerhards als hermeneutischer Schlüssel für lutherische Orthodoxie und Pietismus
  • 4.1. Die Schriftlehre von Johann Gerhard
  • 4.2. Gerhards Schriftlehre als die Richtlinie für „Theologia“, „Glaubenslehre“ und „Grundlegung“
  • 5. Theologieverständnis
  • 5.1. Doppelte Bestimmung der Theologie bei Johann Gerhard
  • 5.2. Johann König – postlapsarische, geoffenbarte und akroamatische Theologie
  • 5.3. Philipp Jakob Spener – gottseliges Leben als Voraussetzung für Theologie
  • 5.4. Johann Anastasius Freylinghausen – die Verantwortung des Theologen für seine Lehre
  • 5.5. Fazit: Die Frage nach Wissenschaft und Person
  • 6. Gottebenbildlichkeit und Verlust des Heils
  • D. Das Heil
  • 1. Die Theologie des Heils – zur Methodik von lutherischer Orthodoxie und Pietismus
  • 1.1. Die Loci-Methode und ihre Ablösung durch die analytische Methode
  • 1.2. Die Konvergenzmethode und das pneumatologische Schema
  • 1.3. Methodenvergleich
  • 1.3.1. Gemeinsamkeiten
  • 1.3.2. Soteriologische Gliederung: Von der Loci-Methode zur analytischen Methode
  • 1.3.3. Anthropologische Zuspitzung durch die Konvergenzmethode und das pneumatologische Schema
  • 1.3.4. Stellung der Buße
  • 2. Systematische Neuordnung der Begriffe
  • 3. Der Heilsrahmen
  • 3.1. Lehre von der Gnadenwahl
  • 3.1.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 3.1.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.1.3. Fazit: Stoffreduktion und Schwerpunktverlagerung durch die „Grundlegung“ und die „Glaubenslehre“
  • 3.2. Christologie
  • 3.2.1. Die Person Christi
  • 3.2.1.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 3.2.1.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.2.1.3. Fazit: Der Rückgang der Bedeutung der Idiomenkommunikation und der Verzicht auf die Personalsätze durch die „Grundlegung“ und die „Glaubenslehre“
  • 3.2.2. Die Ämter Christi
  • 3.2.2.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 3.2.2.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.2.2.3. Fazit: Die große Bedeutung der Ämterlehre in „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.2.3. Die beiden Stände Christi
  • 3.2.3.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 3.2.3.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.2.3.3. Fazit: Die große Bedeutung der Ständelehre in der „Theologia“
  • 3.2.4. Die Erlösung als Werk Christi in „Theologia“ und „Glaubenslehre“
  • 3.2.5. Fazit: Christus als Geschenk und ethisches Vorbild
  • 3.3. Der Heilige Geist
  • 3.3.1. „Theologia“ und „Locorum“
  • 3.3.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 3.3.3. Fazit
  • 3.3.3.1. Die Einführung des vierfachen Amtes des Heiligen Geistes in die Dogmatik durch Philipp Jakob Spener
  • 3.3.3.2. Das Verhältnis von Pneumatologie und Soteriologie
  • 4. Der Weg zum gerechtfertigten Sünder
  • 4.1. Buße und Rechtfertigungslehre in den „Loci“
  • 4.2. Die Gnadenelemente
  • 4.2.1. „Theologia“
  • 4.2.1.1. Berufung
  • 4.2.1.2. Wiedergeburt
  • 4.2.1.3. Bekehrung und ihre Wirkungen (Buße und Rechtfertigung)
  • 4.2.1.4. Mystische Einheit der Glaubenden mit Gott
  • 4.2.1.5. Erneuerung
  • 4.2.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 4.2.2.1. Gnadenruf
  • 4.2.2.2. Göttliche Gnadenerleuchtung
  • 4.2.2.3. Wiedergeburt
  • 4.2.2.4. Rechtfertigung
  • 4.2.2.5. Geistliche Vereinigung mit Gott
  • 4.2.2.6. Heiligung und Erneuerung
  • 4.2.3. Fazit
  • 4.2.3.1. Materialdogmatische Übereinstimmungen
  • 4.2.3.2. Materialdogmatische Unterschiede
  • 4.2.3.3. Die Dynamik der Gnadenelemente in den beiden pietistischen Werken
  • 4.2.3.4. Die Frage nach der Zentralstellung der Rechtfertigung allein durch den Glauben
  • 5. Die Heilsmittel
  • 5.1. Das Wort
  • 5.1.1. Gesetz und Evangelium in „Theologia“ und „Loci“
  • 5.1.2. Das Wort in „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 5.1.2.1. Gesetz und Evangelium
  • 5.1.2.2. Die Lehre von den Schlüsseln des Himmelsreiches
  • 5.1.3. Vergleich der Lehre vom Wort Gottes
  • 5.1.3.1. Unterschiede in der Darstellung – weitgehende Gemeinsamkeit in der Sache
  • 5.1.3.2. Vollständige Lehre – Gesetz und Evangelium als Strukturelemente
  • 5.1.3.3. Die Lehre von den Schlüsseln als eigenes Kapitel in den beiden pietistischen Werken
  • 5.2. Die Sakramente
  • 5.2.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 5.2.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 5.2.3. Fazit: Umfassende Lehrdarstellung und verstärktes Interesse am Sakramentsteilnehmenden
  • 6. Die Wirklichkeit Gottes im Menschen
  • 6.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 6.1.1. Der Glaube
  • 6.1.2. Die guten Werke
  • 6.1.3. Das Kreuz in der „Theologia“
  • 6.1.4. Das Gebet in der „Theologia“
  • 6.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 6.2.1. Die Buße
  • 6.2.2. Der Glaube als Bestandteil der Buße
  • 6.2.3. Die guten Werke
  • 6.2.4. Das Kreuz
  • 6.2.5. Das Gebet
  • 6.3. Fazit
  • 6.3.1. Materialdogmatischer Vergleich
  • 6.3.2. Vergleich des Bußverständnisses zwischen „Loci“, „Theologia“, „Glaubenslehre“ und „Grundlegung“
  • 6.3.3. Das Verhältnis von Glauben und guten Werken
  • 7. Ekklesiologie
  • 7.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 7.1.1. Johann Gerhard: Definition einer evangelischen Kirchenlehre
  • 7.1.2. Johann König: Ecclesia synthetica und ecclesia repraesentativa
  • 7.1.3. Die Entwicklung lutherisch-orthodoxer Ekklesiologie
  • 7.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 7.3. Fazit: Das starke Interesse an der unsichtbaren Kirche bei Spener und Freylinghausen
  • 8. Eschatologie
  • 8.1. „Theologia“ und „Loci“
  • 8.1.1. Das ewige Leben als Ziel der Gläubigen
  • 8.1.2. Letzte und vorletzte Dinge – zur Entwicklung der lutherisch-orthodoxen Eschatologie
  • 8.1.2.1. Die vorhergehenden Dinge als Weg und Mittel zum ewigen Leben in den „Loci“
  • 8.1.2.2. Tod, Auferstehung, Jüngstes Gericht und Weltvernichtung als Mittel zum ewigen Leben in der „Theologia“
  • 8.2. „Grundlegung“ und „Glaubenslehre“
  • 8.2.1. Das ewige Leben als Ziel der Gläubigen
  • 8.2.2. Die Frage nach einer speziellen pietistischen Eschatologie
  • 8.3. Fazit: Einigkeit im Ziel – Unterschiede auf dem Weg
  • E. Zusammenfassung
  • F. Quellen-und Literaturverzeichnis
  • 1. Quellen
  • 2. Nachschlagewerke und Hilfsmittel
  • 3. Sekundärliteratur

← 14 | 15 → A.Einleitung

Der Zusammenhang von Lehre und Leben ist in der evangelischen wie der katholischen Kirche ein Thema von großer und bleibender Aktualität. Dies zeigte sich 2013 auf protestantischer Seite exemplarisch an der Diskussion um die Orientierungshilfe der EKD zum Thema „Familie“. Die einen bemängeln, dass die evangelische Kirche ihre Lehre einfach den Lebensentwürfen und dem Zeitgeist anpasst, ohne dies auf eine bibelgemäße Lehrbasis zu stellen. Andere hingegen halten es für wichtig, das Leben jedes Einzelnen in den Blick zu nehmen, Lehre immer wieder neu zu profilieren, um der Lebensrealität der Menschen gerecht zu werden. Dass es immer wieder in der Geschichte zu Ausschlägen entweder in Richtung der Lehre oder des Lebens gegeben hat, lässt sich in der Gegenwart auch an den Pontifikaten der katholischen Kirche erkennen. Durch die Wahl Benedikts XVI., der sich vorher als Vorsitzender der Glaubenskongregation besonders um die katholische Lehre bemüht hatte, wurde zum Ausdruck gebracht, dass nach Johannes Paul II., der sich vor allem durch seine Nähe zum Kirchenvolk auszeichnete, wieder ein „Denker“ den Stuhl Petri einnahm. Benedikt folgte dann wiederum Franziskus, der im Ruf steht, sich entschiedener dem Leben der Menschen zuzuwenden als sein Vorgänger.

Auch in der Theologiegeschichte gibt es Beispiele für Strömungen, die entweder stärker die Lehre oder nachdrücklicher das Leben betonten. Meist lösten sie sich ab oder bildeten eine Gegenreaktion. Ein hinreichend bekanntes Beispiel hierfür ist Luthers sich in voller Schärfe 1517 abzeichnende Auseinandersetzung mit den akademischen Traditionen der Scholastik. Gewiss stritt auch er als ein Universitätslehrer, doch als ein solcher, der seine reformatorischen Ideen aus einer tiefen Lebenskrise entwickelte und der die Überwindung seiner Ungewissheit im Geschenk des Glaubens als Gnade für sein Leben empfand. Kam Luther sozusagen aus dem Leben, so versuchte Melanchthon aus Luthers Grundidee eine ausgebildete evangelische Lehre zu formen. Er war es vor allem, der die aufkommende protestantische Bewegung durch die ersten Lehrstreitigkeiten führte.

Kurzum, es zeigt sich, dass Lehre und Leben Grundkategorien von Theologie im Allgemeinen und Dogmatik im Besonderen sind. Um diese beiden Grundkategorien soll es auch in der vorliegenden Arbeit gehen. Versuchte ← 15 | 16 → man Lehre und Leben bestimmten theologischen Strömungen zuzuordnen, so fiel das Augenmerk lange Zeit auf lutherische Orthodoxie und Pietismus. Meist galt die lutherische Orthodoxie als Prototyp für die Lehre. In dieser Zeit wurden schließlich sowohl die ersten großen umfangreichen evangelischen Entwürfe niedergeschrieben als auch die ersten evangelischen Lehrkontroversen durchgefochten. Der Vorwurf, der vor allem von pietistischer Seite der lutherischen Orthodoxie entgegengebracht wurde, bestand darin, dass diese das Leben vernachlässige. Auf der anderen Seite hatte der Pietismus lange Zeit den Ruf einer reinen Frömmigkeitsbewegung, die sich vor allem der Reformation des Lebens widmete, dogmatisch aber eher unproduktiv war. So kam es noch Mitte des 20. Jahrhunderts zum Vorwurf, der Pietismus besitze keine theologische Selbstreflexionskraft und wende sich nur dem frommen Leben des Menschen zu.

Das Diktum, wonach die lutherische Orthodoxie für die Lehre und der Pietismus für das Leben standen, hat die Kirchengeschichte mittlerweile überwinden können. Trotzdem wird sich zeigen, dass der Titel der vorliegenden Arbeit „Leben und Lehre“ nach wie vor passend für die beiden genannten Epochen ist. Es wird, jenseits von allen überwundenen Klischees, neu zu fragen sein, in welchen Bezug Leben und Lehre in den Dogmatiken von lutherischer Orthodoxie und Pietismus rücken. Allein das Vorhandensein von pietistischen Dogmatiken zeigt, dass diese Epoche keineswegs desinteressiert an der Lehre war, vielmehr wird sich erweisen, dass sie eigene dogmatische Akzente gesetzt hat. Umgekehrt stellt sich die Frage, inwieweit die lutherische Orthodoxie in ihren Dogmatiken den Bezug zum Leben herstellen konnte. Dass sie daran nicht völlig vorbeiging, zeigt sich darin, dass es oft zur Formulierung von praktischen Nutzanwendungen (usus practicus) in den lutherisch-orthodoxen Dogmatiken kam.

Eine Beschäftigung mit der lutherischen Orthodoxie und dem Pietismus ist aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt Leben und Lehre spannend. Beide Epochen sind in der Dogmatik bisher kaum gewürdigt worden, so dass auch zu fragen ist, inwieweit es dogmatische Eigenheiten in den jeweiligen Epochen gibt.

Das Verhältnis von Leben und Lehre bleibt voller Spannungskraft, dabei obliegt es jeder Dogmatik, besagte Beziehung neu zu bestimmen. Vor dieser Aufgabe standen auch die lutherische Orthodoxie und der Pietismus und lösten sie für ihre Zeit. Die Kirchengeschichte hat verdeutlicht, dass ← 16 | 17 → beide theologischen Richtungen ihre Probleme und Ziele nicht mit einer Reduzierung entweder auf Lehre oder Leben beantwortet haben. Vielmehr haben sie erkannt, dass das eine nicht ohne das andere geht – eine Erkenntnis von bleibender, bis in die Gegenwart reichender Gültigkeit. Ziel dieser Arbeit wird es sein, darzulegen, wie die beiden Epochen dogmatisch mit diesen beständigen Grundkategorien von Theologie umgehen.

1.Auswahl von Personen und Werk

Perspektiven, wie sie der Titel dieser Untersuchung anzeigt, bedürfen eines Standpunktes, von dem sie ausgehen, und einer Blickrichtung, die nicht den gesamten Horizont erfasst, sondern auswählt. Dies trifft in besonderem Maße dann zu, wenn lutherische Orthodoxie und Pietismus gemeinsam betrachtet werden sollen. Dabei kann es nicht um einen allgemeinen Vergleich der beiden Epochen gehen, Einschränkungen sind unumgänglich. Der hier bezogene Standpunkt ist ein dogmatischer, kein kirchengeschichtlicher. Er soll im Laufe der Studie fester gegründet werden. Dabei lassen sich die heftigen Streitigkeiten zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus nicht völlig ausklammern. Sie werden kurz umrissen werden, um später zeigen zu können, dass beide Seiten in vielerlei Hinsicht dogmatisch gar nicht so fern von einander waren. Der Hauptakzent liegt freilich eindeutig auf dem Vergleich ausgewählter Dogmatiken. Hierbei rücken bestimmte Autoren ins Blickfeld: Johann Gerhard (1582–1637), Johann Friedrich König (1619–1664), Philipp Jakob Spener (1635–1705) und Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739). An Gerhard und Spener führt kein Weg vorbei, jeder von ihnen ist als Vater seiner Epoche zu bezeichnen.1 Dabei kann es hier nicht um das bei Gerhard wie Spener ← 17 | 18 → ungemein voluminöse Gesamtwerk gehen, sondern um eine spezifische Auswahl. Bei König und Freylinghausen fällt die Auswahl eingeschränkter aus. Bei allen wenden sich die gewählten Schriften aber vornehmlich und grundsätzlich dogmatischen Inhalten zu.

Der französische Bischof und bedeutende Geschichtsphilosoph Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704), der die Wiedervereinigung der Konfessionen in ökumenischem Austausch zu prüfen suchte, nannte Gerhard den dritten Mann der Reformation nach Martin Luther und Martin Chemnitz.2 Gerhard gilt als der wichtigste Vertreter der lutherischen Orthodoxie3 mit einem nachhaltigen Einfluss auf die gesamte lutherische Theologie.4 Er war deren öffentliche Stimme und sicherlich der bedeutendste systematische Denker seiner Zeit.5 Mit seinem Namen verbindet sich die Wahrnehmung von neun mächtigen Quartbänden unter dem Titel „Loci theologici cum pro adstruenda veritate tum pro destruenda quorumvis contradicentium falsitate per theses nervose solide et copiose explicati“ (künftig: „Loci“),6 die auf Tausenden von Seiten den Autor als versierten Kenner ← 18 | 19 → der lateinischen Fachsprache des 17. Jahrhunderts ausweisen. Gerhard ist insofern interessant, als er, wie viele Pietisten, stark von Johann Arndt geprägt wurde,7 von dem er sich dann später distanzierte.8 Neben seinen wissenschaftlichen Werken ging die Wirkung des Theologen nicht zuletzt von seinen Erbauungsschriften aus.9 Die „Meditationes sacrae“ zeigen sein Bemühen, orthodoxe Theologie und lebendigen Glauben miteinander zu verbinden,10 mit ihnen wurde er zum Bahnbrecher der neuen Frömmigkeit des frühen 17. Jahrhunderts.11

Die Bedeutung Speners für den Pietismus ist nicht zu überschätzen,12 er prägte den lutherischen Pietismus wie kein anderer.13 Selbst wenn es Diskussionen darüber gibt, Johann Arndt als Begründer des Pietismus zu sehen, so würden die Anhänger dieser These (F. Ernest Stoeffler u. a.) die herausragend wirkungsvolle Größe Speners für den Pietismus nicht in Frage stellen. Martin Brecht formuliert, dass „Spener der bedeutendste, einflussreichste und umstrittenste deutsche evangelische Theologe und Kirchenmann seiner Zeit“ war.14 So prägte Spener August Hermann Francke (1663–1727), den hallischen Pietismus, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und den ← 19 | 20 → württembergischen Pietismus.15 Auch bei den reformierten Pietisten wurde Spener geschätzt, so nahm ihn Johann Heinrich Reitz in den 5. Band seiner Historie der Wiedergeborenen auf.16 Nach Martin Friedrich „hat wohl niemand die Gestalt der evangelischen Kirche so tiefgreifend verändert wie er.“17 Spener wurde mit seiner Lehre vom Heilsweg zum „Normaldogmatiker“ des Pietismus,18 zugleich kann er als der Reformator nach der Reformation bezeichnet werden, obwohl er selbst diese Bezeichnung stets ablehnte.19 Johannes Wallmann urteilt über ihn: „Wenn man die protestantische deutsche Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts überschaut, so wird man keinen Mann finden, den man Spener ebenbürtig nennen könnte.“20 Der lutherische Pietismus nahm seinen Ausgangspunkt immer bei ihm. Er gilt innerhalb des Protestantismus als der Mann, der die Reformation fortgeführt hat.21

Wurde somit die Rolle Gerhards für die lutherische Orthodoxie und Speners für den Pietismus beleuchtet, so stellt sich die Frage, welches dogmatische Werk man jeweils zu Grunde legt. Für Gerhard ist dies schnell beantwortet, denn bei aller Bedeutung, die dessen Erbauungsschriften hatten, sind sein dogmatisches Hauptwerk doch die „Loci“, die Johann Anselm Steiger als „Summa theologica“22 bezeichnet. Sie erschienen in den Jahren 1610–1622 und stellen die umfangreichste wie auch bekannteste Dogmatik der lutherischen Orthodoxie dar.23 Sie sind insofern passend, ← 20 | 21 → als sie zwar vor allem die evangelische Lehre darlegten, gleichzeitig aber an verschiedenen Punkten direkte Bezüge zum konkreten Leben hatten. So dienten sie ganz praktisch zur Predigtvorbereitung, standen also an dem Ort, wo christliche Lehre im Leben der Menschen verkündigt wird. Insofern können die „Loci“ nach Johann Anselm Steiger nicht nur als theologische, sondern auch als poimenische Großtat bezeichnet werden.24

Ließ sich die Frage, welches Werk man bei Gerhard heranzieht, um seine dogmatischen Überzeugungen zu erhalten, schnell beantworten, so ist dies für Spener wesentlich schwieriger. Spener war im Gegensatz zu Gerhard kein akademischer Theologe.25 Nun gäbe es zwei Möglichkeiten, die dogmatischen Aussagen Speners zu erkunden. So liegt es nahe, die dogmatischen Themen entweder aus den verschiedenen theologischen Schriften zusammenzutragen oder aber eine bestimmte Schrift als Bezugsgrundlage zu nehmen, die vor allem dogmatische Aussagen trifft. In der erstgenannten Weise ist vor allem die Kirchengeschichte vorangeschritten.26 Bewusst wird in dieser Arbeit jedoch ein anderer und neuer Weg gewählt, da es, wie Brecht ausführt, keinen breiten Konsens über die Theologie Speners gibt,27 sondern sich bestimmte Vorstellungen – wie z. B. das Thema der Wiedergeburt28 – immer wieder verändert haben. Da ist es gut, sich auf eine Quelle zu fokussieren, die Spener selbst als grundlegend bezeichnet ← 21 | 22 → hat: die „Evangelische Glaubenslehre“ (künftig: „GlL“). In der Zuschrift, die er diesem Werk vorausschickt, formuliert er unmissverständlich, dass er „in einem Jahrgang meiner Predigten die ganze Evangelische Glaubenslehre […], damit also die wehrte Gemeinde in einer Ordnung alles dasjenige hörete, was in meinem ganzen Amt […] stets zu wiederholen […] und darinnen der Grund eines gottgefälligen Lebens […] gelegt werden möchte“29. Es geht ihm also um dogmatische Geschlossenheit. In der Vorrede verdeutlicht er dann weiter, dass alle seine bisherigen dogmatischen Aussagen nur von der „GlL“ her verstanden werden können: „Die Materien und Lehren selbst betreffend halt ich mich versichert, dass ich die Göttliche warheit der heiligen schrift gemäß vorgetragen habe, daher sie auch mit unsren symbolischen büchern einstimmen und nichts denselben in der that entgegen lauffendes hie wird angetroffen werden: sollte auch jemand etwas mit gefärbten augen anders ansehen und einige widrigkeit gegen dieselbe irgend zu finden vermeinen so halte ich mich gewiß versichert dass bey bedächtlicher betrachtung aller wort sich ein anders ergeben und die richtige übereinstimmung deutlich hervor kommen werde: daher etwa unterschiedliches was ich anderwertlich geschrieben habe hierauß deutlicher verstanden werden mag“30. Wenn die Predigten in der Reihenfolge gelesen werden, wie Spener es im 2. Register angibt, so lässt sich daraus eine systematische Theologie ableiten.31

Zu Recht hat die Kirchengeschichte darauf hingewiesen, dass der spezielle zeitliche Kontext für die „GlL“ wichtig ist. Dietrich Blaufuß hat die These ins Spiel gebracht, dass dieses Werk dazu diente, die eigene Rechtgläubigkeit nachzuweisen.32 Diese war, wie Spener in seiner Schrift „Klagen über das verdorbene Christentum“ von 1685 ausführt, in Frage ← 22 | 23 → gestellt worden.33 Selbst wenn man der These Helmut Obsts folgt, wonach sich Spener in der „GlL“ sehr geschützt äußert,34 kann dies den hohen Stellenwert der „GlL“ für dogmatische Untersuchungen keinesfalls schmälern.

Ein Einwand gegen die Verwendung dieses Werk könnte sich daraus ergeben, dass sie nicht zur selben Gattung wie die „Loci“ gehören. Dies ist insofern richtig, als es sich um eine Predigtsammlung handelt, die bei jedem Stück aus Eingang, Texterklärung und Lehrpunkten besteht, in den letzten beiden finden sich allerdings durchweg zentrale dogmatische Aussagen, die für entsprechende Untersuchungen die notwendigen Grundlagen bieten.35 Die Darlegung von dogmatischen Inhalten in Predigtform ist auch nicht so unüblich für den Pietismus, wie Martin Kruse36 und Martin Jung bemerkten.37 Vielmehr ist es gerade spannend zu sehen, in welchen unterschiedlichen Textgattungen dogmatische Inhalte behandelt werden. Die „GlL“ ist als Predigtsammlung weniger ein theoretisierendes Werk, wie es Lehrbücher sind, sondern vielmehr ist sie durch die Glaubenspraxis der Gemeinde veranlasst. Es ist daher Erich Beyreuther zuzustimmen, dass die „GlL“ eine besondere Rolle im Werk Speners einnimmt, weil dieser in ihr versucht, seine dogmatischen Grundüberzeugungen darzulegen.38 In eine ähnliche Richtung hat auch Brecht argumentiert.39 Wallmann unterstreicht zu Recht, dass die „GlL“ als die Dogmatik Speners anzusehen ist,40 nicht viel anders Dietrich Blaufuß, der ebenfalls den grundlegenden ← 23 | 24 → Charakter dieses Werkes hervorhebt,41 schließlich setzt noch Moonkee Kim diese Linie fort, indem er die Bedeutung der „GlL“ als herausragende Quelle mit einführendem Charakter hervorkehrt.42

Kann eine Darstellung, die dogmatische Perspektiven auf die lutherische Orthodoxie geben will, an den „Loci“ Gerhards nicht vorbeigehen, so steht sie vor dem Problem, dass die „Loci“ alle bisher bekannten Größenordnungen der Dogmatik sprengen.43 Zudem gibt es keine komplette Übersetzung ins Deutsche, auch die wichtige, von Johann Anselm Steiger veranlasste Editionsreihe „Doctrina et Pietas“ hat die „Loci“ bisher noch nicht in ihr Programm aufgenommen. Der monumentale Umfang der „Loci“ führte bereits Mitte des 17. Jahrhunderts dazu, dass der Ruf nach einem Handbuch oder Kurzabriss laut wurde.44 Es stellt sich daher die Frage, wie eine Annäherung an die „Loci“ möglich ist und welche Lehrstücke dabei besonders zu berücksichtigen sind. Die zweite Problematik kann vorerst hintangestellt und später ausführlicher behandelt werden, während die Überlegung, durch welches „Fernrohr“ der Kosmos der „Loci“ betrachtet werden kann, schon hier einiger Hinweise bedarf. Carl Heinz Ratschow hat die These aufgestellt, dass Johann König, David Holltaz (1648–1713), Abraham Calov (1612–1686) und Johann Andreas Quenstedt (1617–1688) auf den „Loci“ Gerhards aufbauen.45 Bei aller Kritik, die Ratschows Werk vor allem durch Richard Schröder erfahren hat,46 stellt er doch dessen These nicht grundsätzlich in Frage.

← 24 | 25 → Welcher der vier von Ratschow genannten Autoren passt nun besonders gut zu Gerhard und ist gleichzeitig repräsentativ für die lutherische Orthodoxie? Dies lässt sich aus verschiedenen Gründen besonders für Königs „Theologia“ behaupten. Mit den Worten Andreas Stegmanns gehört sie „zu den weit verbreiteten und theologisch wie didaktisch gelungensten lutherischen Dogmatiklehrbüchern des 17. Jahrhunderts.“47 Nach Ratschow zeichnet sie sich „durch absolute Präzision und äußerste Kürze“48 aus. Hubert Filser hat sie als „Gipfelpunkt der orthodoxen Systematik“ bezeichnet.49 Die „Theologia“ galt in vielen Kreisen der lutherischen Hoch- und Spätorthodoxie als Standardwerk50 und ist daher gut als Ergänzung zu Gerhards „Loci“ anzusehen, die eher der frühen Hochorthodoxie zuzurechnen sind. Die „Theologia“ bietet sich zudem an, weil sie die lutherisch-orthodoxe Lehre in ihrer ausgereiften, konsequent aristotelischen Methodologie darstellt.51 Aufgrund ihrer klaren und bündigen Darlegung lutherisch-orthodoxer Positionen war sie zu ihrer Zeit sehr populär52 und wurde innerhalb von 50 Jahren dreizehnmal neu aufgelegt.53 Zudem stimmt die „Theologia“ in ihren abschließenden Lehrdefinitionen fast wortwörtlich mit den „Loci“ überein. Überdies wird durch die Behandlung von König auch Quenstedt und Hollatz mit abgedeckt, da sich beide an der „Theologia“ orientieren.54

← 25 | 26 → Die „Theologia“ ist insofern ebenfalls interessant, als sie als Lehrbuch wieder eine andere Gattung darstellt als die „Loci“ und die „GlL“, sie somit wiederum die Fülle von theologischen Schriften anzeigt, in denen sich dogmatische Aussagen finden lassen. Sie ist stärker als die beiden Erstgenannten ein theoretisierendes Werk und hat keine solch starke Anbindung an die Praxis. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihren Sitz im Leben im akademischen Dogmatikunterricht des 17. Jahrhunderts hatte.55 Eingehend wurde dies von Andreas Stegmann untersucht, bei dem der zeitliche Kontext der Dogmatik Königs eine wichtige Rolle spielt. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit wird eher darauf beruhen, die „Theologia“ als dogmatischen Text zu lesen und sie ins Verhältnis zu den beiden pietistischen Werken zu setzen.

Stand man bei Gerhard vor dem Problem des Kosmos der „Loci“, so wurde auf die Problematik der „GlL“ schon hingewiesen. Als Predigtsammlung konzipiert, fehlen bei ihr häufig einleitende Worte zu den jeweiligen Lehren, die diese in einen größeren Zusammenhang stellen; die Bezüge sind eher lose. Sehr deutlich an die „GlL“ lehnt sich Johann Anastasius Freylinghausens „Grundlegung der Theologie“ (künftig: „Grundlegung“) an.56 Der unverkennbar enge Bezug reicht fast in den Wortlaut hinein.57 Nun mag erwidert werden, dass die „Grundlegung“ wieder eine andere Gattung darstellt als die „Theologia“ oder die „GlL“. Dies ist zweifelsohne zutreffend, richtet sie sich doch an Schüler und Lehrer58 und nicht an universitäres Publikum wie die „Theologia“ oder an eine Kirchengemeinde wie die „GlL“. Als Lehrbuch für den Schulunterricht gedacht, entspricht sie in ihrem Entstehungskontext sogar eher der „Theologia“ als der „GlL“. Wallmann hat die „Grundlegung“ deshalb als „Normaldogmatik ← 26 | 27 → des hallischen Pietismus“59 und Martin Schmidt als „die nahezu klassische Dogmatik“60 dieser pietistischen Richtung bezeichnet. Auch wenn Jan Rohls die Vorrangstellung der „Grundlegung“ zugunsten der „Theses credendorum et agendorum fundamentales“ Breithaupts von 1701 in Frage stellte,61 bleibt diese aufgrund ihrer Wirkungsgeschichte62 eine zentrale Dogmatik des Pietismus. Schon an der Werkauswahl zeigt sich also, dass die lutherische Orthodoxie nicht einfach als Gruppierung angesehen werden kann, die stärker die Lehre und der Pietismus stärker das Leben betont. So sind die „Theologia“ und die „Grundlegung“ in ihrem Entstehungskontext eher bei der Lehre anzusiedeln, während besonders die „GlL“ und in geringerem Maß die „Loci“ aus dem Alltag der Gemeinde entstanden sind.

Außerdem sprechen verschiedene biographische Bezüge, die Johann Gerhard, Johann König, Philipp Jakob Spener und Johann Freylinghausen untereinander haben, dafür, diese vier Theologen zur Grundlage der vorliegenden Arbeit zu machen. Alle vier hatten wahrscheinlich Kontakt mit Arndts Person oder dessen Gedankenwelt. So lernte Gerhard Arndt persönlich kennen,63 während Spener und Freylinghausen Arndts Werke gelesen haben.64 Ob dies bei König der Fall war, ist nicht belegt, es sprechen aber mehrere Gründe dafür: zunächst einmal die große Verbreitung des „Wahren Christentums“ im 17. Jahrhundert und ihre Rolle als wichtigste Erbauungsschrift der lutherischen Kirche,65 sodann Königs Wirken als Professor in Rostock. Die dortige Fakultät war um eine Erneuerung und ← 27 | 28 → Vertiefung des Glaubenslebens in der Hansestadt bemüht.66 Dazu wird man sicherlich auch in die Schriften Arndts Einsicht genommen haben. Königs Lehre wurde von Heinrich Höpfner (1582–1642) geprägt,67 der mit Johann Gerhard und Johannes Meisner (1587–1626) befreundet war und dogmatische Anregungen nicht zuletzt von Martin Chemnitz (1522–1586) und Balthasar Mentzer dem Jüngeren (1614–1679) aufnahm. Mit Mentzers Vater, Balthasar dem Älteren (1565–1627), stand wiederum Gerhard in engem Kontakt und begleitete diesen auf dessen Gelehrtenreise, die ihn in die Universitätsstädte Gießen, Heidelberg und Tübingen führte.68 Spener hat Gerhard ausdrücklich als einen Mann gelobt, der für das wahre und innerliche Christentum eingetreten ist.69 Der Spener prägende Dogmatiker war Johann Conrad Dannhauer (1603–1666).70 Die Lehrer Freylinghausens waren u. a. Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) und Francke,71 diese wiederum waren durch den Einsatz von Spener erst auf Professuren nach Halle berufen worden. Freylinghausen selbst las ab 1689 die Schriften Speners,72 und dieser blieb die eigentlich prägende Gestalt für ihn.

2.Forschungsstand

Was den Forschungsstand anbelangt, so sind drei Komplexe zu unterscheiden. Zunächst gilt das Augenmerk der lutherischen Orthodoxie und dem ← 28 | 29 → Pietismus, die keinesfalls gleich gründlich bearbeitet sind. Der Blick richtet sich dann auf die vier Autoren, auch hier ist das bisherige Forschungsinteresse alles andere als gleich verteilt. Schließlich muss geprüft werden, wo es bei vergleichenden Studien Anknüpfungspunkte für die vorliegende Studie gibt.

2.1.Lutherische Orthodoxie und Pietismus

Hans-Christoph Rublack stellte Ende der 1980er-Jahre fest, dass die lutherische Orthodoxie zu einer der am wenigsten untersuchten Gebiete der protestantischen Kirchengeschichte gehört.73 Ein Blick in die Bibliographien der älteren Lutherhandbücher bestätigt diesen Eindruck. Noch Ende der 1990er-Jahre äußerte Johann Anselm Steiger, dass zwischen der Untersuchungsdichte der Reformationszeit und des Pietismus eine große Lücke klaffe.74 Erst in den vergangenen Jahren nahm die Zahl der Arbeiten zur lutherischen Orthodoxie zu. Dabei kam es zu wichtigen Anstößen durch die Bach-Forschung und germanistische Untersuchungen. Innerhalb der Theologie stand die editorische Erschließung der Epoche im Vordergrund.75 Zudem kam es zur Herausgabe der „Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und Lutherischen Orthodoxie“. Deren Arbeiten beschäftigen sich hauptsächlich mit einzelnen Personen der lutherischen Orthodoxie, bisher jedoch ohne Berücksichtung von Gerhard.76

← 29 | 30 → Der Pietismus als theologische Wissenschaft wurde in der Forschung bis zum Zweiten Weltkrieg zunächst kaum gewürdigt. Albrecht Ritschl sah Reformation und Pietismus als klare Gegensätze.77 Hans Leube urteilte 1930, dass es „der Bewegung nicht nur an einem großen systematischen Denker [fehlt], sondern seine kirchlichen Vertreter lassen auch die konsequente Durcharbeitung ihrer Ideen vermissen“78. Carl Hinrichs und Max Weber haben vor allem die soziale Außenseite des Pietismus beleuchtet.79 Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte der Pietismus dann neu und sehr intensiv gewürdigt werden.80 Schmidt will die pietistische Bewegung theologisch verstehen und beurteilen.81 Durch ihn wurde der Pietismus nicht mehr nur als Reform- oder Frömmigkeitsbewegung allein gesehen, sondern auch als theologische Bewegung verstanden.82 Lange Zeit stand dann die Frage nach dem Schwerpunkt der Theologie Speners im Mittelpunkt. Auf sie wird später noch einzugehen sein. Von 1979 bis 1988 erschienen die elf Bände der durch Beyreuther initiierten und verantworteten Ausgabe „Philipp Jakob Spener Schriften“.83 Daneben kam es durch ihn in ← 30 | 31 → den 1950er- und 60er-Jahren zur Beschäftigung mit Francke und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760).84 Erhard Peschke hat mit seinen „Studien zur Theologie August Hermann Franckes“ diesen Weg weiter beschritten.85 In der jüngeren Pietismusforschung zeichnen sich vier Themenkreise ab: Erstens die Frage nach den Anfängen des Pietismus.86 Diese Debatte verlief vor allem zwischen Wallmann und Hartmut Lehmann.87 Zweitens verstärkte sich die Beschäftigung mit Johann Arndt. Dies zeigt sich in verschiedenen Arbeiten, die in den letzten Jahren zu seiner Person erschienen sind,88 und in der Gründung der Arndt-Gesellschaft im Jahr 2005. Da die Forschungslage hier noch stark im Fluss ist und die Abhängigkeit von Spener und Arndt keineswegs als endgültig geklärt angesehen werden darf, wird das Verhältnis der Theologie Speners und Freylinghausens zu Arndt nicht weiter thematisiert, obwohl beide diesen natürlich schätzten.89 Drittens rücken frömmigkeits- und sozialgeschichtliche wie ← 31 | 32 → auch kulturelle Bezüge des Pietismus in den Vordergrund,90 exemplarisch zu sehen am vierten Band der „Geschichte des Pietismus“.91 Die Frage der Einflüsse, die den Pietismus geformt haben, hat an Gewicht verloren.92 Viertens wird der Blick auf andere pietistische Denker gelenkt, die bisher kaum im Fokus der Forschung standen, deutlich lässt sich dies an den neueren Veröffentlichungen der „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ erkennen.93 Der Wandel der Pietismusforschung kann auch an der veränderten Gliederung der Pietismus-Bibliographien im Jahrbuch „Pietismus und Neuzeit“ abgelesen werden.94

2.2.Gerhard, König, Spener und Freylinghausen

Der Kenntnisstand zu den einzelnen Personen und Werken ist überaus unterschiedlich.

Zu Gerhards „Loci“ gibt es bislang weder eine umfassende Monographie, noch hat sich ein Forscher an das Werk insgesamt gewagt, lediglich zu bestimmten Themen aus den „Loci“ wurden Promotionen und Veröffentlichungen verfasst. Diese Lücke soll ein Stück weit geschlossen werden, dabei muss es bei Perspektiven bleiben, denn eine Gesamtwürdigung von Gerhards Hauptwerk bleibt nach wie vor ein herausforderndes Desiderat der Forschung. Wie anspruchsvoll dies ist, wird darin deutlich, dass die englische Übersetzung der „Loci“ innerhalb von fünf Jahren bisher nur ← 32 | 33 → den ersten Band sowie Teile des fünften und sechsten Bandes erschlossen hat.95 Unerlässlich für die vorliegende Arbeit war Johann Anselm Steigers „Bibliographia Gerhardina […]“96, da durch sie ersichtlich wird, dass im Laufe der Editionsgeschichte bestimmte Loci, wie z. B. die Lehre vom Heiligen Geist, aus den „Loci“ Gerhards herausgefallen sind.

In der bisherigen Forschung waren vor allem das Theologieverständnis, die Schriftlehre und die Ekklesiologie Gegenstand der Untersuchungen, wie Kenneth Appold feststellt.97 Diese Aufzählung muss um die Eschatologie ergänzt werden. Wichtig für die vorliegende Arbeit wird Martti Vaahtoranta98 sein, der sich mit der Vereinigung von Gott und Mensch bei Gerhard beschäftigt hat. Bei der Behandlung dieses Themas setzt er sich besonders mit der Rechtfertigungslehre, daneben auch mit der Christologie und der Sakramentenlehre in den „Loci“ auseinander. Grundlegendes für das Theologieverständnis Gerhards findet sich bei Wallmann99, auf ihn wird im Folgenden immer wieder hingewiesen. Wichtig für die Sicht auf Gerhards Schriftlehre sind die Studien von Bengt Hägglund100 und Reinhard Kirste.101 Für die Christologie findet sich Einschlägiges bei Richard ← 33 | 34 → Schröder.102 Hinsichtlich der Rechtfertigungslehre bei Gerhard ist man auf die Ausführungen bei Friederike Nüssel103 und Richard Schröder104 angewiesen. Ferner hat sich bereits 1900 Waldemar Radecke105 kurz zu diesem Thema geäußert. Für die Ekklesiologie ist Manfred Jacobs sehr umfangreiche, wenn auch ebenfalls etwas betagte Arbeit106 zu nennen. Außerdem sei in diesem Zusammenhang auf Martin Honecker107 und Reiner Anselm108 hingewiesen. Bezüglich der Eschatologie Gerhards verdienen Konrad Stock109 und Sigurd Hjelde110 Beachtung.

← 34 | 35 → In der jüngeren Forschung liegt der Schwerpunkt gerade durch die Herausgabe der Reihe „Doctrina et Pietas“ auf der Edition weiterer Schriften Gerhards und anderer wichtiger lutherisch-orthodoxer Theologen. Eine Beschäftigung mit den „Loci“ fand bisher (Stand: Herbst 2014) noch nicht statt. Johann Anselm Steigers Werk zur Theologie und Frömmigkeit Gerhards behandelt zwar die „Loci“, wendet sich aber hauptsächlich der bis dahin stark vernachlässigten Frage nach dem Seelsorger Gerhard zu.111 Es fällt auf, dass in dem Band der Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der lutherischen Orthodoxie, der sich mit der Rechtfertigungslehre befasst, kein Aufsatz zu den „Loci“ Gerhards vorhanden ist. Lediglich der „Methodus studii theologici“112 wird behandelt. Auch in Jörg Baurs Aufsatz „Lutherische Christologie“ rücken andere Theologen der lutherischen Orthodoxie nach vorne, es fehlt Gerhard.113 Der Blick in die Bibliographie der jüngeren Lutherjahrbücher114 und der Theologischen Literaturzeitung,115 verdeutlicht, dass es, mit Ausnahme von Vaahtoranta, keine neueren Monographien gibt, die sich explizit mit Gerhards „Loci“ beschäftigen.

Eine Kontextualisierung der „Loci“ Gerhards mit der „Theologia“ Königs ist bisher dreimal vorgenommen worden. Einmal durch Carl Heinz Ratschow in Bezug auf die Prolegomena und die Gotteslehre,116 dann von Friederike Nüssel, die die Entfaltung der Rechtfertigungslehre in der frühnachkonkordistischen Zeit beschreibt, und schließlich durch Sigurd Hjelde, der im Zusammenhang mit der Entwicklung der ← 35 | 36 → Eschatologie auch auf Gerhard und König eingeht. Dies soll nun ausgeweitet werden unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Kritik Richard Schröders an Ratschow. Sie bezieht sich vor allem darauf, dass Ratschow die onomatologisch-pragmatologische Methode nicht richtig erfasst habe,117 die Begrifflichkeiten falsch verstehe118 und zu unangemessenen Übersetzungen komme.119 In der vorliegenden Arbeit sollen zudem Lehrstücke Gerhards berücksichtigt werden, die bisher kaum Forschungsgegenstand waren, dazu zählen u. a. Gesetz, Evangelium, Sakramente und Sündenlehre. Dabei wird es immer wieder nötig sein, die „Loci“ weiter zu übersetzen.

Bis zu Andreas Stegmanns umfassender Studie waren Königs Werk und Biographie noch nie Gegenstand detaillierter Betrachtung.120 Er hat die „Theologia“ in einem breiten kirchenhistorischen Zusammenhang erforscht. So gründlich dies auch geschehen ist, eine dogmatische Untersuchung steht immer noch aus. Stegmanns Übersetzung und Kommentierung stellen hierfür eine wesentliche Hilfe dar. Neben Andreas Stegmann sei noch auf Gunther Wenz,121 Carl Heinz Ratschow122 und Friederike Nüssel123 verwiesen. Gunther Wenz Aufsatz kann als eine Art Kurzzusammenfassung von Königs „Theologia“ gelesen werden. Bei Friederike Nüssel finden sich schließlich Ausführungen zur Christologie und zur Frage nach der Rechtfertigung in Königs „Theologia“.

Die Sekundärliteratur zu Spener ist fast uferlos. Seit langem waren dessen Person, Wirken und Werk Gegenstand der Kirchengeschichte, die ← 36 | 37 → Dogmatik hat sich darum jedoch fast gar nicht gekümmert. Erst vor kurzem hat Hans Schneider auf diesen Sachverhalt hingewiesen.124

Monographien zur „GlL“ fehlen bis auf Kims durchaus wichtige Arbeit „Gemeinde der Wiedergeborenen […]“125 völlig. Wenn Kim zu Recht die ungenügende Behandlung dieses wichtigen Werkes in der Forschung beklagt,126 so sind die Ursachen dafür sicherlich darin zu suchen, dass in der sehr stark motivgeschichtlich geprägten Spener-Forschung Fragen nach der Ethik, der Eschatologie, dem Zentrum seiner Theologie, seiner Ausstrahlung auf andere Gruppierungen oder seine Rolle im bzw. seine Bedeutung für den Pietismus eindeutig im Vordergrund standen, was einen dogmatischen Zugang zu Spener weiterhin vermissen lässt. Meist sind es die „Pia Desideria“ (künftig: „PD“), die das Interesse wecken. Eine Arbeit, die sich mit den dogmatischen Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus anhand der Beispiele von Gerhards „Loci“, Königs „Theologia“, Speners „GlL“ und Johann Freylinghausens „Grundlegung“ konzentriert, wird um Hermann Reiners „Die orthodoxen Wurzeln der Theologie Philipp Jakob Speners“127 nicht herumkommen. Schließlich zitiert Reiner auch immer wieder die „GlL“. Dabei sei auf zwei Unterschiede zum vorliegenden Ansatz hingewiesen. Erstens nimmt Reiner einen Vergleich zwischen Calov und Spener vor,128 und zweitens arbeitet er Speners Position nicht an einer, sondern anhand von mehreren Schriften heraus.129 Zudem sei angemerkt, dass Reiner auf die etwa zur selben Zeit erschienenen Werke von Johannes Wallmann, Martin Kruse, Schmidt, Helmut Obst und Jan Olaf Rüttgardt nicht eingehen konnte, was er selbst anmerkt.130 Das bei ← 37 | 38 → Reiner und anderen anzutreffende Verfahren, die Theologie Speners aus verschiedenen Quellen zu erheben, birgt die Gefahr, ungenau zu werden. Bis heute liegt kein breiter Konsens über Speners Theologie vor.131 Die Konzentration auf ein Werk, wie sie hier vorgenommen wird, stellt die Vielfalt der Möglichkeiten Spener zu interpretieren hintan, verstärkt aber, ohne generalisieren zu wollen, die dogmatische Perspektive. Einschlägig bleibt auch die Monographie von Paul Grünberg,132 die aus mehreren Quellen Speners schöpft133 und für den Bezug zur lutherischen Orthodoxie durchaus einschlägig ist. Nicht zu übersehen ist Rüttgardts Bestreben, eine Gesamtdarstellung der Anschauung Speners von der christlichen Sittlichkeit zu geben, dabei streift er fast alle in der „GlL“ wichtigen Themen, wobei er den Akzent auf die Ethik, nicht jedoch auf die Dogmatik legt.134 Zentral für das Heilsverständnis ist Helmut Obsts schon etwas ältere Arbeit über „Speners Lehre vom Heilsweg“.135 Sie behandelt viele in der „GlL“ auftretende dogmatische Themen, wie Buße, Glaube, Kreuz, Leiden, Werke, Wiedergeburt, Erneuerung, Einheit mit Gott und Sakramente. Beachtlich ist die Menge der von Obst herangezogenen Quellen, die er sich durch jahrelanges Studium erschlossen hat.136 Der große Mangel seiner Ausführungen besteht allerdings darin, dass sie die „GlL“ gar nicht berücksichtigen, was damit begründet wird, dass sich Spener in der „GlL“ besonders orthodox gebe.137 Die Ausblendung der „GlL“ ist ein Phänomen gleich mehrerer Werke: Hierzu gehören die Monographie von Herbert Bailly zur Rechtfertigungslehre138 ebenso wie die Aufsätze von Kevin R. Baxter,139 Johannes ← 38 | 39 → Wallmann140 und Ulrich Gäbler,141 die sich der Eschatologie Speners widmen. Bei Heike Krauter-Dierolf142 wird die „GlL“ nur auf einer Seite erwähnt. Brecht hat zu Beginn der 90er-Jahre versucht, die Grundlinien von Speners pietistischer Theologie nachzuzeichnen, leider verzichtet auch er auf die „GlL“ als Quelle.143 Nur der bereits genannte Kim macht in seinen Ausführungen zur Eschatologie Speners eine deutliche Ausnahme, indem er der „GlL“ einen größeren Raum gibt.

In einer langen Periode der Forschung stand die Frage im Mittelpunkt, ob Wiedergeburt, Rechtfertigung oder Erneuerung den Schwerpunkt der Theologie Speners bilden. Der Verlauf dieser Diskussion bis 1979 lässt sich bei Wallmann nachlesen,144 fortgesetzt hat dies bis zum Jahre 1994 Rüttgardt.145 Ein Grobüberblick mag hier genügen.

Am Anfang sei darauf hingewiesen, dass offenkundig die „GlL“, mit den Ausnahmen einer Fußnote bei Peschke146 und der Monographie Kims, ← 39 | 40 → keine Rolle bei der Diskussion um den Schwerpunkt der Theologie Speners spielte. Die Ausgangspunkte markieren die Positionen von Schmidt und Emanuel Hirsch. Jener vertrat in einem 1951 erschienenen Aufsatz die Auffassung, dass die Wiedergeburt die innere Mitte der Lehre Speners darstellt.147 Emanuel Hirsch ist im selben Jahr zu der Auffassung gelangt, dass die Lehre über den Rechtfertigungsglauben den Mittelpunkt der Spenerschen Theologie bildet.148 In eine ähnliche Richtung ging 1966 Bailly, der die Wiedergeburt als Ergänzung der Rechtfertigungslehre ansieht.149 Peschke formulierte 1976, dass das Anliegen Speners in der Wiederherstellung der göttlichen Ebenbildlichkeit zu sehen sei. Dabei spiele die Wiedergeburt die entscheidende Rolle150, oder – um mit Wallmann zu sprechen – „Speners Heilslehre wird von Peschke als Wiedergeburtslehre aufgefasst“.151 1979 sieht Wallmann die Erneuerung, den Prozess des Wachstums und das Vollkommenheitsstreben als das Zentrum und Hauptanliegen der Spenerschen Theologie an.152 Auch hier wird die „GlL“ nur mit einer Fußnote bedacht, die sich allerdings allein auf die Unterscheidung von Wiedergeburt und Erneuerung bezieht. Kurt Aland hat 1992, wie bereits Wallmann vor ihm, Schmidt widersprochen. Für Aland stehen „alle Termini (Rechtfertigung, Heiligung, Wiedergeburt und Erneuerung) gleichberechtigt nebeneinander“153. Rüttgardt vertritt in seinen Arbeiten wiederum eher die Position, dass die Wiedergeburt im Zentrum der Spenerschen Theologie stehe, zuletzt noch 1994.154 Obwohl er Martin Kruses ← 40 | 41 → Arbeit „Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte“ von 1971 kannte, die nachwies, dass von einer gleich bleibenden Wiedergeburtslehre bei Spener nicht die Rede sein kann,155 eine These, die durch Hermann Bauch verstärkt wurde,156 behielt Rüttgardt seine Position bei, wonach die Wiedergeburt in der Mitte von Speners Theologie stehe, bei. Kim vertritt in seiner Arbeit über die „GlL“ die Ansicht, dass der gesamte Heilsprozess als Wiedergeburt zu sehen sei, und macht sich damit die Idee der Zentralstellung der Wiedergeburt zu eigen.157 Problematisch ist diese Aussage Kims, weil er sich nicht auf die Quelle, d. h. die „GlL“, beruft, sondern auf Aussagen von Schmidt und Wallmann.158 Weder Schmidt159 noch Wallmann160 gehen jedoch in den von Kim zitierten Passagen auf die „GlL“ ein. Kim leitet also die Zentralstellung der Wiedergeburt weder aus der „GlL“ selbst noch aus Sekundärliteratur ab, die sich auf die „GlL“ bezieht. In jüngster Zeit hat sich Markus Matthias161 mit der Frage nach der Wiedergeburt im Pietismus beschäftigt, leider umgeht auch er die „GlL“. Helmut Burkhardt kam 2007 zu dem Schluss, dass die Lehre von der Wiedergeburt zentral für Speners Theologie sei.162 Dabei dienen als Bezugspunkte vor allem die „PD“ und die ← 41 | 42 → „Berliner Wiedergeburtspredigten“,163 die „GlL“ wird nicht erwähnt. Bis heute scheint die Frage nach dem genauen Mittelpunkt der Theologie Speners offen.164 Man wird ihn wohl mit Brecht dort suchen, wo es Spener darum geht, wie der sündige Mensch wieder zu Gott zurückgelangt und somit das verlorene Ebenbild Gottes wiederhergestellt wird.165

Eine dogmatische Würdigung Freylinghausens fehlt bislang. Lange Zeit war er vor allem als Liederdichter und Herausgeber des „Geistreichen Gesangbuchs“ bekannt.166 So spielte er vor allem für die Praktische Theologie eine Rolle. Die „Grundlegung“ ist bis zur Abfassung der vorliegenden Arbeit weder in der Kirchengeschichte noch in der Systematischen Theologie zu einem intensiven Forschungsgegenstand geworden.167

2.3.Verhältnis von lutherischer Orthodoxie und Pietismus

Das Verhältnis von lutherischer Orthodoxie zu Pietismus ist in der Kirchengeschichte immer wieder Thema gewesen. Dabei ging es meistens um das Verhältnis von Spener zur lutherischen Orthodoxie. Detaillierte vergleichende Studien, die jeweils ein Werk entweder eines lutherisch-orthodoxen oder eines pietistischen Theologen in den Vordergrund stellen, fehlen. Wenn es Vergleiche gibt, so sind sie entweder auf das Gesamtwerk bestimmter Theologen bezogen, so Hermann Reiners Studie, oder sie greifen, wie Jörg Baur, ein bestimmtes Thema, etwa die Rechtfertigung,168 heraus. Beides führt meist zu recht generalisierenden Urteilen, die zwar ← 42 | 43 → die vielfältigen Aussagen des jeweiligen Theologen und die dogmatische Fülle der Epoche darlegen, sie laufen aber Gefahr, im Detail unscharf zu werden. Bei Baur kommt hinzu, dass er eine deutliche Position gegen den Pietismus einnimmt, wenn er ihm eine fehlende Fähigkeit zur Selbstreflexion vorhält.169 Problematisch an seinen Ausführungen ist es, dass er den Pietismus meist aus der Sekundärliteratur, kaum jedoch aus den Quellen erschließt. Zudem sieht er im Pietismus in erster Linie eine Frömmigkeitsbewegung, weniger ein Phänomen der Theologie,170 was durch Schmidts Ausführungen mittlerweile widerlegt ist. Außerdem stellt sich die Frage, ob die von Baur genannten pietistischen Theologen wie etwa Zinzendorf, Bengel, Spener, Arnold, Weigel, Schwenckfeld oder Francke sich in der Rechtfertigungslehre auf einen Nenner bringen lassen.

Die momentane Forschungslage zum Verhältnis von lutherischer Orthodoxie und Spener – Freylinghausen wurde bisher überhaupt noch nicht eingearbeitet – lässt sich wie folgt kennzeichnen: Speners eigenen Aussagen171 folgend lässt es sich als Konsens festhalten, dass er als Vertreter des Pietismus seine Theologie zu großen Teilen im Rahmen der lutherischen Orthodoxie entwickelt hat.172 Sicherlich war er von der Mystik beeinflusst, durch wen und in welchem Maße, ist ungeklärt. Dies zu klären bleibt Aufgabe der Kirchengeschichte. Dogmatisch wich Spener in seinen Vorstellungen von der Zukunft von der lutherischen Orthodoxie ab.173 Einen Unterschied zur lutherischen Orthodoxie sieht Wallmann – im Unterschied zu Kurt Aland174 – auch in der Ekklesiologie, aufgrund der Forderung der Sammlung der Frommen.175 Das verstärkte Dringen auf Individualisierung ← 43 | 44 → und Verinnerlichung des religiösen Lebens wird als Hauptanliegen des Pietismus beschrieben.176

3.Ausgangspunkte

Wegen des Umfanges der „Loci“, aber auch der „GlL“, kann es nicht darum gehen, alle dogmatischen Aspekte zu behandeln. Perspektiven sind auch hier nötig, wobei zu fragen sein wird, welche dogmatischen Themen besonders relevant sind. In der Reformationszeit lag der Schwerpunkt vor allem auf Christologie und Soteriologie.177 Lässt sich diese Fokussierung auch in den lutherisch-orthodoxen und pietistischen Werken nachweisen? Gerhard formuliert, dass die Rechtfertigung die höchste evangelische Lehre sei.178 Detailliert geht er in den „Loci“ darauf ein, warum die Christologie so nützlich, erhaben und notwendig erscheine.179 Die sachliche Mitte der „Theologia“ bilde die Lehre von den Heilsprinzipien und Heilsmitteln.180 Die Aussage Hauschilds, wonach in der lutherisch-orthodoxen Dogmatik Christologie und Soteriologie das Zentrum darstellen würde,181 lässt sich somit auf die „Loci“ und die „Theologia“ übertragen.

Konnte auf diese Weise begründet werden, warum eine Konzentration auf die Soteriologie und die Christologie in Bezug auf die lutherische Orthodoxie legitim ist, so stellt sich dieselbe Frage nun auch für den Pietismus. In der Zuschrift zur „GlL“ führt Spener aus, dass er der Gemeinde ← 44 | 45 → vorstellen wolle, „was sie von Gott und göttlichen Dingen, sonderlich von dem Weg, Art und Mitteln ihrer Seligkeit zu wissen und zu glauben“182 habe. Der Hauptschwerpunkt der „Grundlegung“ liegt offenkundig auf der Beschreibung des durch Christus wiedergebrachten Gnadenstandes. Daran wird die Verbindung von Soteriologie und Christologie deutlich sichtbar. Ein kurzer Blick auf die Sekundärliteratur untermauert die These, wonach Soteriologie und Christologie das Herzstück der genannten Dogmatiken bilden. Helmut Obst sieht in der Lehre vom Heilsweg den Mittelpunkt der Spenerschen Theologie.183 Brecht urteilt, dass das Zentrum von Speners Theologie, wie in der lutherischen Orthodoxie auch, das Heil des Menschen sei.184 Man mag sich in der Diskussion, ob nun Rechtfertigung, Wiedergeburt oder Erneuerung im Mittelpunkt der Spenerschen Theologie stehen, je unterschiedlich positionieren, gemeinsam bleibt doch, dass diese Lehren alle direkt mit dem Heil des Menschen in Berührung stehen. Auf die Wichtigkeit des Heils für den Pietismus insgesamt hat Wallmann aufmerksam gemacht, indem er zeigt, dass der Begriff „Heilsordnung“ permanent im Pietismus auftritt.185 Eine Fokussierung auf Soteriologie und Christologie in der vorliegenden Arbeit ist daher legitim.

4.Vorgehensweise

Nachdem die äußeren Rahmenbedingungen (Auswahl der Autoren, Forschungslage, Anknüpfungspunkte) für die vorliegende Arbeit klar sind, soll Rechenschaft über das weitere Vorgehen abgelegt werden. Es kann nicht darum gehen, Aussagen über die lutherische Orthodoxie oder den Pietismus zu treffen, dafür sind die jeweiligen Epochen viel zu bunt. Es wird auch Anliegen der Ausführungen sein, zu zeigen, in welchen Punkten sich die „Loci“ von der „Theologia“ und die „GlL“ von der „Grundlegung“ unterscheiden. Auch kann nicht von einem Werk auf die gesamte ← 45 | 46 → Lehre eines Theologen geschlossen werden; grundsätzlich geht es – wie bereits bemerkt – um Zugänge von der „Theologia“ zum Werk der „Loci“ wie auch von der „Grundlegung“ zu der „GlL“, um daraus dogmatische Perspektiven wachsen zu lassen. Das heißt, mit den Quellen zu beginnen.

Details

Seiten
347
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653048308
ISBN (ePUB)
9783653978322
ISBN (MOBI)
9783653978315
ISBN (Hardcover)
9783631656051
DOI
10.3726/978-3-653-04830-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Dezember)
Schlagworte
Dogmatik Kirchengeschichte Johann Gerhard Johann König Philipp Jakob Spener Johann Anastasius Freylinghausen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 347 S.

Biographische Angaben

Tim Christian Elkar (Autor:in)

Tim Christian Elkar studierte evangelische Theologie in Marburg und Münster. Er ist Vikar der Evangelischen Kirche von Westfalen im Kirchenkreis Wittgenstein.

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Titel: Leben und Lehre
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