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Richter, Sachverständige, Handelskammern

Preußische Justizverwaltung und kaufmännische Interessen zwischen 1879 und 1907

von Georg Rasche (Autor:in)
©2016 Dissertation 273 Seiten
Reihe: Rechtshistorische Reihe, Band 459

Zusammenfassung

Welche Institution ist dafür verantwortlich, dass den Gerichten qualifizierte Sachverständige zur Verfügung stehen? Diese Zuständigkeitsfrage gab ab 1879 Anlass zu heftigen Kontroversen, die gelegentlich auch über die Tagespresse ausgetragen wurden. Der Berliner Gesetzgeber sah hier noch im Jahr 1900 eine Zuständigkeit der Justiz, die Handelskammern hatten aber in der Praxis diese Aufgabe bereits an sich gezogen. Damit sorgten sie für eine Professionalisierung des Sachverständigenwesens und bauten ihre Macht aus. Dieses Buch schildert Ausgangslage, Akteure, Interessen und Verlauf dieser Auseinandersetzung. Abgerundet wird es durch eine dogmengeschichtliche Auswertung der beweisrechtlichen Vorschriften und der Praktikerliteratur zur preußischen AGO, zum reformierten preußischen Prozess und zur ZPO.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • A. Einleitung
  • I. Gegenstand
  • II. Gang der Darstellung
  • III. Zeitliche Eingrenzung
  • IV. Räumliche Eingrenzung
  • 1. Preußen
  • 2. Berlin
  • V. Sachliche Eingrenzung: Sachverständige auf welchen Fachgebieten?
  • 1. Technik als Begriff
  • 2. Keine „technischen“ Sachverständigen in der AGO
  • 3. Alte und anderweitig geregelte Sachverständige
  • 4. Beschränkung auf Zivilsachen
  • VI. Quellen
  • 1. Wirtschaft
  • 2. Justiz
  • B. Vorüberlegungen
  • I. Historische Bedingungen und Konstanten des Justizbetriebs
  • 1. Steigerung des Geschäftsanfalls in der Hochindustrialisierung
  • 2. Umgang mit den Gutachten
  • a. Regelmäßig keine Beweiswürdigung des Gutachtens
  • b. Praxis am Kammergericht und Landgericht I, Dezember 1893 bis Mai 1894
  • c. Historische Anforderungen an die Form des Gutachtens
  • d. Moderne Analyse
  • II. Empirische Wahrheitsfindung als Ziel des Verfahrens
  • 1. Gerichtliches Verfahren als empirisches Erkenntnisverfahren
  • 2. Wissenschaftliche Erkenntnis und ihre Wechselwirkung mit juristischen Formen
  • 3. Verhandlungsmaxime gegen Amtsermittlungsprinzip
  • III. Herausforderungen und Qualifikationen der damaligen Richter
  • 1. Technische Bildung der Richter als historisches Problem
  • a. Folgen der Hochindustrialisierung
  • b. Entwicklungen im 18. Jahrhundert
  • 2. Die Vorbildung der preußischen Juristen bis zum Inkrafttreten des BGB
  • a. Schule
  • b. Studium
  • c. Vorbereitungsdienst
  • 3. Ausbildungsreformdebatte
  • a. Abschaffung des Latinums, 1900–1902
  • b. Humanistische Bildung, „Latinität der Rechtsquellen“ und Technikferne 1907
  • c. Ausblick 1909 bis 1912 und weitere Nachweise
  • IV. Methodendebatte und Justizkritik 1900–1914
  • 1. Adickes’ „Grundzüge durchgreifender Justizreform“, 1906
  • 2. Fuchs’ „Schreibjustiz“ und der „Mangel“ an Sachkunde, 1907
  • V. Richterliche Entscheidungsfreiheit
  • 1. Voraussetzung: Trennung von Sachverhalt und Rechtslage
  • a. Abstraktheit der Rechtsnorm
  • b. Formbarkeit der Tatbestands
  • 2. Selbstreflexion
  • a. Das Experiment
  • b. Hermann Isay und seine Erfahrungen
  • aa. Isays Rezeption in der westdeutschen Rechtsphilosophie nach 1945
  • bb. Freiheit, Freirecht, Relevanz, Industrierecht
  • cc. Prominente Zeugen
  • C. Rechtsdogmatik
  • I. Gemeinrechtliche Beweislehre und richterliche Beweiswürdigung
  • 1. Die Zwei-Zeugen-Regel
  • 2. Voller und halber Beweis
  • 3. Beweisregeln als Willkürkontrolle
  • 4. Gegenbewegung Ende des 18. Jahrhunderts
  • II. Rechtsquellen und Gesetze
  • 1. Gemeiner Prozess
  • a. Partikulare Gesetzgebung
  • b. Prozessrecht nach 1815
  • c. Problematische Quellenlage
  • 2. AGO/Preußischer Prozess
  • a. Instruktionsverfahren
  • b. Reformierter Prozess
  • 3. Reichs-CPO
  • III. Vier Gegensätze
  • 1. Ist der Sachverständige Beweismittel oder Richtergehilfe?
  • a. Exkurs: Gegenwart und Rechtsvergleich
  • b. Gemeines Recht
  • aa. Woher stammt die Alternative?
  • bb. Die Entdeckung des Richtergehilfen
  • cc. Kritik
  • dd. „Richtergehilfe“ als Argument zur Stärkung der Macht des Gerichts
  • ee. Es siegt: Der Richtergehilfe
  • c. AGO/Preußischer Prozess
  • d. ZPO
  • 2. Darf das Gericht das Gutachten frei würdigen oder ist es an das Gutachten gebunden?
  • a. Gemeinrechtliche Lehren
  • aa. Problem 1: Mehrere Gutachten, unterschiedliche Ergebnisse
  • bb. Problem 2: Umgang mit offensichtlich unpassenden Sachverständigengutachten
  • cc. Zwei Schlaglichter
  • b. AGO/Preußischer Prozess
  • aa. Weicht die AGO vom gemeinen Recht ab?
  • bb. Blick in die Praxis
  • c. ZPO
  • aa. Freiheiten und Grenzen
  • bb. Eigene Würdigung oder Obergutachten durch eine Behörde? Zwei Momentaufnahmen von 1890 und von 1902
  • 3. Ist das Gericht an den Parteiantrag auf Hinzuziehung eines Sachverständigen gebunden?
  • a. Gemeines Recht
  • b. AGO/Preußischer Prozess
  • c. ZPO
  • 4. Ist das Gericht bei der Auswahl der Sachverständigen frei?
  • a. Gemeiner und Preußischer Prozess
  • aa. Fachbehörden
  • bb. Von der Kaufmannschaft vorgeschlagene Sachverständige
  • cc. Obrigkeitlich konzessionierte Gewerbetreibende
  • b. ZPO
  • D. Interessen des Handels
  • I. Kaufmännische Interessenvertretungen
  • 1. Handelskammern
  • 2. Kaufmännische Korporationen
  • II. Schaffner, Braker & Co. – die Hilfspersonen des Handels
  • 1. Rechtsgrundlagen und Begriffe
  • a. Dispacheure
  • b. Schiffsmäkler
  • c. Güterbestätiger, Schaffner, Braker, Schauer und Stauer
  • d. Praktische Aspekte
  • 2. Zuständigkeit und Verfahren
  • 3. Bedeutung für die Gerichte
  • E. Kompetenzfrage I: Stettin 1866/67
  • I. Das ADHGB und die „öffentlich bestellten Sachverständigen“
  • II. Justizintern unterschiedliche Lesarten
  • 1. Anstoß: Eingabe des Appellationsgerichts Stettin, Oktober 1866
  • 2. Erwiderung: Justizministerium, November/Dezember 1866
  • 3. Replik: Kategorische Unterscheidung, 30. April 1867
  • 4. Duplik: „Öffentliche Bestellung“ durch gerichtliche Vereidigung
  • 5. Nebenintervention: Das Ministerium für Handel und Gewerbe
  • 6. Erledigung
  • III. Ergebnis
  • F. Kompetenzfrage II: Berlin 1879–1882
  • I. Neue Begrifflichkeiten in der ZPO
  • II. Kaufmannschaft gegen Justiz
  • 1. „… es ist bei uns Klage geführt worden…“
  • 2. Hintergrund: Gärung in der Kaufmannschaft
  • aa. Keine Gesamtvertretung der Berliner Kaufleute und Industriellen
  • bb. Wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung in Berlin
  • (1) Rang der Textilbranchen in der kaufmännischen Interessenvertretung
  • (2) Rolle der Maschinenbau-Industrie
  • cc. Neue Industrien verlangen neue Regelungen
  • 3. Erarbeitung einer gemeinsamen Position, 1879–1881
  • a. Scheitern der Verhandlungen der Gemeinsamen Kommission, Mai 1880
  • b. Sachdarstellung durch die Syndizi, 30. Mai 1881
  • 4. Antwort des Landgerichtspräsidenten, 10. Juni 1881
  • 5. Keine Erledigung
  • a. Winter 1881/1882, Vorbereitung weiterer Schritte
  • b. Die erste hektographierte Liste
  • c. Form und Inhalt der erneuten Eingabe vom 11. März 1882
  • d. Mitspracherecht der kaufmännischen Vertretung bei der Führung des Sachverständigenverzeichnisses
  • e. Abschlussbescheid des Landgerichtspräsidenten, 28. März 1882
  • III. Ergebnis
  • G. Entwicklungen 1882–1897
  • I. Justizverwaltungspraxis nach 1882
  • 1. Selbstzeugnis: Beantwortung einer Anfrage aus Württemberg, 1888
  • 2. Das Berliner Sachverständigenwesen in Zahlen
  • 3. Außergerichtlicher Einsatz von gerichtlichen Sachverständigen
  • a. Nahrungsmittelgesetz 1894
  • b. (Gewerbe-)Polizeiliche Regulierung in Berlin: „Reklamezwecke“
  • c. Bedarf der Öffentlichkeit nach „öffentlichen“ Sachverständigen?
  • II. Erneute Opposition seit Ende 1893
  • 1. Eingabe des Handelsrichters Croner v. 15. Dezember 1893
  • 2. 1894: Kampagne des VBKI gegen die Justizverwaltung
  • III. Reaktionen im Justizministerium, 1894/95
  • 1. Bestandsaufnahme im ganzen Königreich Preußen
  • 2. Ergebnis: Keine Justizkompetenz für die „öffentliche Bestellung“
  • 3. Vorschlag zum weiteren Vorgehen
  • IV. Frühjahr 1894 bis Sommer 1897: Novelle zum Handelskammergesetz
  • 1. Hintergrundkonflikte
  • a. Berlin: VBKI gegen KKB
  • b. Preußen: Handelskammern gegen Landwirtschaftskammern
  • 2. Handelskammern gegen Gerichte
  • 3. Debatte im Abgeordnetenhaus
  • a. Probenehmer für Zucker als gewerbliche Sachverständige in der Zuständigkeit der Handelskammern?
  • b. Zuständigkeit und Verfahren der Anstellung der gewerblichen Sachverständigen
  • c. Verfahren bei der Beeidigung von gerichtlichen Sachverständigen, Verfügung des HM v. 27. November 1897
  • H. Kompetenzfrage III: Preußen 1898–1907
  • I. Das novellierte HKG als „erster Schritt“
  • II. Verfügung an die HK Breslau vom 29. September 1897
  • III. Verbreitung dieser Verfügung durch die HK Breslau und den DHT
  • IV. Akteure und Interessen
  • 1. Agrarinteressen
  • 2. Verband selbständiger öffentliche Chemiker
  • a. Die Chemiker als früh professionalisierter Berufsstand
  • b. Der Markt für chemische Untersuchungsleistungen und die staatliche Regulierung
  • aa. Nahrungsmittelgesetz 1894
  • bb. Nun auch noch staatliche Düngemitteluntersuchungsanstalten?
  • 3. Handelskammern Magdeburg und Breslau
  • 4. Begriffe: „öffentlich bestellte“ (Handels-)Sachverständige und (gerichtlich) „allgemein beeidigte“ Sachverständige
  • a. Warum ist jeder Handelssachverständige ein gerichtlicher Sachverständiger?
  • b. Ist jeder Handelssachverständige im Allgemeinen beeidigt, § 410 Abs. 2 ZPO?
  • V. Durchführung
  • 1. August 1898 bis Dezember 1899
  • a. Bestellung von Sachverständigen durch die Handelskammern
  • aa. Erarbeitung einer frühen Muster-Sachverständigenordnung: Die Handelschemikervorschrift
  • bb. Zeitgleich: Petition gegen ein nie eingebrachtes Gesetz
  • cc. Eingabe der HK Breslau
  • b. Gerichtliche Bedeutung der Handelskammer-Sachverständigen?
  • c. Bedeutung der Handelskammern für die Sachverständigen, Petition Teil 2
  • 2. Frühjahr 1900, Justizministerium vs. Handelsministerium
  • a. Justizministerium
  • aa. Allgemeinverfügung vom 5. Februar 1900
  • bb. „Völlig klare Rechtslage“
  • b. Handelsministerium
  • aa. Verfügung an die HK Breslau vom 29. März 1900
  • bb. Allgemeine Verbreitung dieser Verfügung durch die Interessenten
  • c. Taktischer Sieg für die Justizverwaltung
  • 3. Gerichtliche Sachverständigenliste: Inhalt und Form, Februar 1901 bis März 1902
  • a. Eine neue Beschwerde aus Hannover, Frühjahr 1901
  • b. Reaktionen des JM
  • aa. Hinweis auf die abstrakte Rechtslage an alle Oberlandesgerichtspräsidenten
  • bb. Erhebung des Sachverhalts bei den Präsidenten aller OLGs
  • (aa) Berlin
  • (bb) Frankfurt
  • (cc) Kiel
  • (dd) Hamm
  • (ee) Weitere OLGs
  • c. Neue Taktik: Rotunterstreichung, Allgemeinverfügung vom 25. März 1902
  • d. Pflege der Berliner Sachverständigenliste 1902–1904
  • aa. Ausdifferenzierung
  • bb. Kompetenzfragen zwischen KKB und HK Berlin
  • VI. 1905–1907: „wenigstens allmählich zu geordneten Verhältnissen“
  • 1. Personalwechsel im Justizministerium
  • 2. Einarbeitung in die praktische Sachverständigenfrage, Februar 1905/Frühjahr 1906 bis Oktober 1906
  • 3. Bericht des Kammergerichtspräsidenten, Oktober 1906
  • 4. Referat und Gutachten, März 1907
  • a. Kategorienbildung in der Sachverständigenliste
  • b. Rotunterstreichungen
  • c. Mengenbegrenzung im Justizinteresse?
  • 5. Beseitigung der „Unzuträglichkeiten“, Frühsommer 1907
  • J. Ergebnis: Allgemeinverfügungen des HM und des JM vom 18. Juli 1907
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
  • Verzeichnis der ausgewerteten Archivalien
  • Register

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A. Einleitung

I. Gegenstand

Zu einem Rechtsstreit kann es aus sehr verschiedenen Gründen kommen, meistens geht es dabei um eine ungeklärte Sachlage:1 „Nach einer alten Faustregel kommen in der Praxis auf eine Rechtsfrage – mindestens – neun tatsächliche“2. Das scheint auch im Untersuchungszeitraum nicht anders gewesen zu sein. 1860 zitiert Wilhelm Endemann in einem Beitrag zur Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung bereits Cicero als Zeugen dafür, schon seinerzeit sei es häufiger um streitige Tatsachen- als um Rechtsfragen gegangen.3 Auch die Weisheit des Salomonischen Urteils4 liegt nicht in der Lösung einer Rechtsfrage, sondern in der richtigen Erkenntnis der streitigen Tatsachen des Falls.

Während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts hat das starke Wachstum in Wirtschaft und Technik dazu geführt, dass in einer stets schneller steigenden Zahl von Rechtsangelegenheiten und Gerichtsverfahren Sachverständigengutachten eingeholt werden mussten. Eine Frage muss ein Richter in jedem Fall beantworten, wenn er Beweis durch Sachverständigengutachten erheben will, und diese Frage ist folgende:

Welcher Sachverständige ist der richtige Sachverständige für den gerade vorliegenden Fall? Welche fachlichen und persönlichen Eigenschaften muss ein Sachverständiger haben, und welche Rolle spielt das Verhältnis des Sachverständigen zu den Parteien oder zu dem Gericht bei der Auswahl? Wer stellt die Qualität sicher und besorgt einen möglichst reibungslosen Ablauf?

Im gesamten 19. Jahrhundert betrachtete die preußische Justizverwaltung es als eine Angelegenheit der Gerichte, diese Fragen zu beantworten. Die Arbeit zeigt, dass das Justizministerium dadurch jahrzehntelang geltendes Recht zunächst ignorierte, damit später sogar bösgläubig wurde, um schließlich und nicht ohne Druck aus Industrie und Handel diese Aufgabe an die Handelskammern abzugeben, von denen sie seitdem durchgängig wahrgenommen wird. ← 15 | 16 →

II. Gang der Darstellung

Nach Vorüberlegungen über die Anforderungen der Justizpraxis an das gerichtliche Sachverständigenwesen einschließlich der besonderen Herausforderungen, die die Hochindustrialisierung für die preußische Richterschaft brachte (Abschnitt B.) sowie einem Gang durch das preußische, gemeine und ZPO-Prozessrecht im 19. Jahrhundert (C.) schildert die Arbeit anhand der Akten des preußischen Justizministeriums und kaufmännischer Interessenvertretungen (D.) vier Konflikte um die Frage nach der Zuständigkeit für die Regulierung der gerichtlichen Sachverständigen. Zentrale Jahre sind in diesen Konflikten jeweils 1867 (E.II.6), 1879 (F.II.1), 1894 (G.III.3). und 1900 (H.V.3).

Im Juli 1907 (J.) akzeptierte die Justizverwaltung, dass die Gerichte in der Regel nur solche Sachverständige mit Gutachten beauftragen darf, die von der Handelskammer öffentlich bestellt und vereidigt sind. Eine dieser Verfahrensweise entsprechende Rechtslage bestand in Preußen möglicherweise bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts, definitiv aber seit 1897.

III. Zeitliche Eingrenzung

Der Untersuchungszeitraum liegt zwischen dem Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze 1879/1880 und 1907. Ein klarer Schwerpunkt der Ereignisse liegt in der Zeit nach 1897. Diesen Befund ergibt bereits eine Auszählung einschlägiger Dienstanweisungen und Verfügungen des Justizministeriums, die seit 1839 im Justizministerialblatt veröffentlicht worden sind:

Illustration

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IV. Räumliche Eingrenzung

1. Preußen

Justizverwaltung in Deutschland ist stets Sache der jeweiligen Einzelstaaten, dasselbe gilt mit Einschränkungen auch für Organisation und Kompetenzausstattung der Industrie- und Handelskammern. Es liegt daher nahe, der Fragestellung am Beispiel eines dieser Staaten nachzugehen und dafür den „größten und wichtigsten Staat, […] Preußen“5 auszuwählen. Das ermöglicht es, auf eine zufriedenstellende Überlieferungs- und Forschungslage zuzugreifen. Aus den ausgewerteten Quellen ergibt sich kein Hinweis darauf, dass sich die preußische Justizverwaltung an ausländischen, also nichtpreußischen oder außerdeutschen, Vorbildern orientiert hat.6

2. Berlin

Es dürfte, von der Reichshauptstadt und einigen Weltplätzen abgesehen, wohl kaum einen Handelskammerbezirk geben, in dem gleichzeitig sämmtliche Branchen der Industrie und des Handels vertreten sind und sich einer solchen Bedeutung erfreuen, dass für den mit der Wahrnehmung ihrer Gesammtinteressen betrauten, zuständigen Handelsvorstand zwingende Veranlassung vorläge, Handelssachverständige aller zulässigen Arten und Gattungen öffentlich anzustellen.7

Bereits aus der schieren Menge der gerichtlich und außergerichtlich auftretenden Sachverständigen ergab sich in Berlin ein bis zur Hochindustrialiserung nicht gekannter Regulierungsbedarf. ← 17 | 18 →

Reihe 1 zeigt die Anzahl der Personen, die in Berlin offiziell als vereidete Sachverständige tätig waren, Reihe 2 zeigt die Anzahl der Fachgebiete, für die in Berlin Sachverständige bestellt waren. Mehrfachnennungen von Personennamen für mehr als ein Fachgebiet sind bereinigt. Die Darstellung beruht auf einer Auszählung der veröffentlichten Sachverständigenlisten.

Während die Kopfzahl sich als exponentielle Wachstumskurve beschreiben lässt, zeigt die Zahl der Fachgebiete Ähnlichkeit mit einer Sättigungskurve, mit einem deutlichen Knick 1906/1908; der letzte Wert ist für 1914 erhoben.

Der Aufwand für die laufende Pflege einer mehr als 1500 Personen umfassenden Liste ohne irgendwelche automatische Datenverarbeitungsmöglichkeiten ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar.

Die in Preußen gefundenen Lösungen sind daher vornehmlich in Berlin entwickelt worden; das hat seinen Grund natürlich auch darin, dass das Justizministerium offensichtlich werdende Probleme bearbeiten musste und Probleme in den Provinzen für den Haupstadtbeamten naturgemäß weniger offensichtlich sind.

Gleichmäßige Verwaltungsvorschriften über das Sachverständigenwesen in allen Provinzen Preußens erließ das Justizministerium in enger Anlehnung an Vorschläge des Präsidenten des Landgerichts I und des Kammergerichtspräsidenten. Der Übergang der Kompetenz zur Prüfung, Bestellung und Vereidigung der Sachverständigen von der Justiz auf die Handelskammern in den Jahren von 1897 bis 1907 wurde freilich nicht in erster Linie in Berlin geplant und auch nicht vom Justizministerium gestaltet.

Stattdessen kamen die bestimmenden Anstöße aus einer Allianz zwischen den Handelskammern Breslau, Magdeburg und Hannover mit der Interessenvertretung der Inhaber von chemischen Untersuchungslabors, die eine Verstaatlichung ← 18 | 19 → des chemischen Untersuchungswesens verhindern wollte, welche von Vertretern landwirtschaftlicher Interessen betrieben wurde.

V. Sachliche Eingrenzung: Sachverständige auf welchen Fachgebieten?

1. Technik als Begriff

An Technik in einem modernen Sinn, z. B. an Produktionstechnik, wird man kaum denken mögen, wenn man den ersten Satz der Technikdefinition aus Meyer’s Konversationslexikon von 1889 liest: „Technik (griech.), Inbegriff der Regeln, nach denen bei Ausübung einer Kunst verfahren wird, z. B. T. der Malerei“.

Der Sprachgebrauch der Juristen am Beginn des Untersuchungszeitraums ist anders als der Sprachgebrauch der in dieser Arbeit verwendet wird. Es macht von heute aus betrachtet fast den Eindruck, dass alles, was nicht juristisch ist, von den Juristen als „Technik“ bezeichnet wird. So heißen die nichtjuristischen Beisitzer in preußischen Fabrikengerichten „technische Mitglieder“.8 Diese Fabrikengerichte sind aber nicht etwa zuständig für Streitigkeiten über Fabrikwaren, -maschinen oder -rohstoffe, sondern sie sind befasst mit den Streitigkeiten zwischen den Fabrikanten und ihren Arbeitern, sachlich also mit dem, was heute die Arbeitsgerichte beurteilen. Nicht anders die „technischen Räthe“ des Kommerz-Kollegiums, also des Handelsgerichts9, z. B. von Königsberg; hier sind die kaufmännischen Beisitzer gemeint.10 In beiden Fällen geht es dort also nicht um „Technik“ im heutigen Sinn. ← 19 | 20 →

2. Keine „technischen“ Sachverständigen in der AGO

I 9 § 38 AGO gebot die Hinzuziehung von Sachverständigen bei gegebenen Bedarf ohne Bezugnahme auf ein bestimmtes Fachgebiet. Damit war der Rechtsanwender in der Pflicht, selbst zu wissen, welcher Sachverständige der richtige ist. Jedoch war Ende des 18. Jahrhunderts noch ein hergebrachter, nach wenigen Fachgebieten geordneter Numerus clausus von Sachverständigen aktiv. Diese „alten“ Sachverständigen waren daher dem Gesetzgeber und der Praxis bekannt und vertraut. Die Zuständigkeit für die Regulierung ihrer Rechtsverhältnisse und die Überwachung der Qualität ihrer Arbeit war im Untersuchungszeitraum offensichtlich geklärt.

Die in dieser Arbeit näher zu betrachtenden Sachverständigen sind lediglich diejenigen, die nicht bereits am Ende des 18. Jahrhunderts offensichtlich Teil des Justizbetriebs waren.

3. Alte und anderweitig geregelte Sachverständige

Aus der Betrachtung hinaus fallen also jene Sachverständige, die es vor dem Hereinbrechen der Industrialisierung, vor dem Begriff „Technik“ und teilweise schon im römischen Recht11 gab, nämlich die schon im Corpus iuris genannten Geometer, Schriftvergleicher, Baumeister und Hebammen. Später hinzugekommene Kategorien von Sachverständigen wie Ärzte und Chirurgen sowie Landwirtschaftssachverständige und kaufmännische Rechnungssachverständige, die späteren Buchprüfer, werden ebenfalls ausgeklammert.12

Die Kompetenz und Neutralität der Sachverständigen auf den überlieferten Gebieten der alten und anderweitig geregelten Sachverständigen ist im Verlauf ← 20 | 21 → des 19. Jahrhunderts in Preußen stets Gegenstand enger staatlicher Kontrolle gewesen:13 Das gilt für Landvermesser;14 Ärzte haben ihre autonome berufsständische Organisation und Glaubwürdigkeit, fallen überdies nicht allein in den Geschäftsbereich des Justizministeriums;15 die Sachverständigen für Landwirtschaftsfragen gehörten zum Geschäftsbereich Landwirtschaft, und für Qualifikation und Überwachung der Rechnungsprüfer entstand ein eigenes institutionelles und Regelungsgeflecht außerhalb der Handelskammern, das Gegenstand anderweitiger wirtschaftshistorischer Forschung sein dürfte.

4. Beschränkung auf Zivilsachen

Diese Arbeit zielt vornehmlich auf Streitigkeiten im Rahmen kaufmännischer Vertragsbeziehungen. Denn nur hier dient der Einsatz von Sachverstand vor Gericht direkt dem wirtschaftlichen Interesse. ← 21 | 22 →

VI. Quellen

1. Wirtschaft

Zentraler Akteur der Handlung sind die berufsständischen Vertretungen von Handel und Industrie. Hierzu wurden die einschlägigen Akten der Korporation der Kaufmannschaft im Berliner Landesarchiv ausgewertet, hinzu treten Akten der Potsdamer und der Berliner Handelskammer sowie Veröffentlichungen des Verbandes selbständigen öffentlichen Chemiker Deutschlands und ausgewählte Veröffentlichungen der Handelskammer Magdeburg. Aus der Publizistik wurde noch die 1901 gegründete Zeitschrtift „Gewerbe-Archiv für das Deutsche Reich“ (GewA) ausgewertet.

2. Justiz

Quellen sind hier nebem dem Justizministerialblatt aller Jahrgänge des Untersuchungszeitraums und die einschlägigen Aktenbestände des preußischen Justizministeriums in Repositur 84a des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz. Seit 1806 wird dort ein Vorgang „Zuziehung von Sachverständigen bei gerichtlichen Geschäften“ geführt, der bis 1921 ausgewertet worden ist. Hinzu treten einige Dutzend weiterer Vorgänge unterschiedlichen Umfangs und Ergiebigkeit.

An literarischen Quellen zum Ablauf des Verfahrens mit Sachverständigen sind zu nennen gängige Anleitungen und Kommentare zum gerichtlichen Verfahren sowie Schriften zur Justizkritik und zur Reform der Juristenausbildung.


1 LUHMANN, Recht der Gesellschaft, 1993, S. 268.

2 HOHLWECK, MARTIN: Die Beweiswürdigung im Zivilurteil, in: Juristische Schulung 2001, S. 584–589, S. 584.

3 ENDEMANN 1860, Beweislehre des Civilprozesses, S. 2, unter Berufung auf De oratore II c. 25 i. f.

Details

Seiten
273
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653051469
ISBN (ePUB)
9783653976069
ISBN (MOBI)
9783653976052
ISBN (Hardcover)
9783631657355
DOI
10.3726/978-3-653-05146-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Februar)
Schlagworte
Justizgeschichte Preußens Beweisrecht Juristenausbildung Preußens preußisches Handelskammergesetz 1897
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 273 S., 2 Graf.

Biographische Angaben

Georg Rasche (Autor:in)

Georg Rasche ist Jurist. Er studierte an der Universität Münster und absolvierte den LL.M. European Business Law in Nimwegen. Der Autor war am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main und am Rechtshistorischen Institut sowie einem öffentlich-rechtlichen Lehrstuhl der Universität Münster tätig. Derzeit arbeitet er als Syndikus in München.

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Titel: Richter, Sachverständige, Handelskammern
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