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Die Sicherung von Schadensersatzansprüchen nach § 101b UrhG unter Mitberücksichtigung der jeweiligen Schwesternormen im gewerblichen Rechtsschutz

von Hendrik Dobinsky (Autor:in)
©2015 Dissertation 210 Seiten

Zusammenfassung

Angeregt durch einen europarechtlichen Impuls ermöglichen es § 101b UrhG und die Schwesternormen dem Verletzten, sich zur Sicherung seiner Schadensersatzansprüche Bank-, Finanz und Handelsunterlagen des Verletzers vorlegen zu lassen. Das Buch untersucht die Voraussetzungen dieser Normen, die zur effektiven Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen geschaffen wurden. Der Autor lehnt die sich in der Rechtsprechung abzeichnende Tendenz ab, europarechtliche Vorgaben durch zu strenge Anforderungen an die Tatbestandsvoraussetzungen zu entwerten.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung in die Problematik
  • I. Ursprung der Norm
  • 1. Die historische Entwicklung der Norm unter Berücksichtigung früherer internationaler Abkommen und Übereinkünfte zur Gewährleistung von Schutz im Urheberrecht und im gewerblichen Rechtsschutz
  • a. Die Pariser Verbandsübereinkunft (PVÜ)
  • b. Die Berner Übereinkunft bzw. die Revidierte Berner Übereinkunft (RBÜ)
  • c. Der WIPO – Urheberrechtsvertrag
  • d. Das TRIPS – Übereinkommen
  • aa. Die Bedeutung des TRIPS-Übereinkommens für Art. 9 II 2 der Enforcement Richtlinie und für § 101b UrhG
  • (1.) Vergleich mit Art. 43 TRIPS
  • (2.) Vergleich mit Art. 50 TRIPS
  • (3.) Fazit
  • e. Das Grünbuch zur Bekämpfung von Nachahmungen und Produkt- und Dienstleistungspiraterie im Binnenmarkt
  • f. Das Produktpirateriegesetz
  • g. Die „Enforcement Richtlinie“
  • h. Die Schaffung des § 101b UrhG sowie die Frage der Rückwirkung
  • 2. Sinn und Zweck des § 101b UrhG und die Abgrenzung des Art. 9 II 2 zu Art. 6 und Art. 8 der Enforcement Richtlinie
  • 3. Rechtsvergleich
  • a. Vergleich mit Auskunfts- und Besichtigungsansprüchen
  • aa. § 101b UrhG im Vergleich mit § 101a UrhG
  • bb. § 101b UrhG im Vergleich mit § § 809, 810 BGB sowie mit § § 142, 144 ZPO
  • b. Die Schwesternormen im gewerblichen Rechtsschutz
  • c. Vergleich mit ähnlichen internationalen Instituten sowie mit den Umsetzungen des Art. 9 II S. 2 der Enforcement- Richtlinie in das nationale Recht ausgewählter anderer Rechtsordnungen
  • aa. Die Anton Piller Order
  • (1.) Vorbildwirkung der Beschränkungen und Auflagen der Anton Piller Order für § 101b UrhG bezüglich der Sanktionen im Falle unberechtigter Geltendmachung?
  • bb. Das pre trial discovery Verfahren
  • cc. Die “Freezing order” oder “Mareva order” (Mareva Injunction) und die „Disclosure order“
  • dd. Die „saisie contrefaçon“ und die „saisie descriptive“
  • ee. Die Umsetzung des Art. 9 II 2 der Enforcement Richtlinie in das nationale Recht Österreichs
  • 4. § 101b UrhG im Vergleich mit der Abgabe einer Vermögensauskunft nach § § 802c, 807 ZPO
  • a. Die Gefahr der unvollständigen Befriedigung des Gläubigers
  • b. Zeitliche Verzögerungen der Abgabe einer Vermögensauskunft über die Möglichkeiten des § 802f ZPO gefährden die Sicherung der Zwangsvollstreckung
  • c. Die Gefahr der Abgabe einer falschen Vermögensauskunft / eidesstattlichen Versicherung
  • d. Vorteile des § 101b UrhG und seiner Schwesternormen
  • II. Die Voraussetzungen des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • 1. Der Vorlageanspruch
  • a. Aktivlegitimation
  • b. Passivlegitimation
  • aa. Störerhaftung im Rahmen des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • (1.) Die Aufgabe des Störerbegriffs durch den BGH im Wettbewerbsrecht im Rahmen der Entscheidung „Jugendgefährdende Medien bei ebay“
  • (2.) Zur Frage, ob die Haftung für die Verletzung von Verkehrspflichten auch im Urheberrecht die Rechtsfigur des Störers ersetzen sollte
  • (3.) Das BGH Urteil „Sommer unseres Lebens“
  • (a.) Widersprüchliche Rechtsprechung
  • (b.) Vergleich mit der Rechtsprechung im Patentrecht
  • bb. Abschließende Beurteilung der Störerhaftung in Bezug auf § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • cc. Dritthaftung im Rahmen des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • (1.) Rechtshistorische Betrachtung
  • (2.) Wortlautauslegung
  • (3.) Systematische und rechtsvergleichende Erwägungen
  • (4.) Fazit
  • c. Vorliegen eines Schadensersatzanspruches
  • d. In gewerblichem Ausmaß begangene Rechtsverletzung
  • aa. Die Vorgaben der Enforcement Richtlinie hinsichtlich des gewerblichen Ausmaßes
  • bb. Der Gleichlauf der Merkmale des „gewerblichen Ausmaßes“ im Rahmen des § 101b UrhG und des § 101 UrhG
  • cc. Praktische Beispiele und nähere Präzisierung des Merkmals
  • dd. Fazit
  • ee. Kritik am Merkmal des „gewerblichen Ausmaßes“
  • e. Erforderlichkeit zur Durchsetzung des Schadensersatzanspruchs
  • f. Fraglichkeit der Erfüllung des Schadensersatzanspruchs ohne die Vorlage der Unterlagen
  • aa. Nähere Präzisierung
  • bb. Konkrete Beispiele
  • cc. Verhältnis des Merkmals „fraglich“ des § 101b I 1 UrhG zum Merkmal der „wesentlichen Erschwerung“ des § 917 I ZPO
  • dd. Kritik am Merkmal der „Fraglichkeit“
  • 2. Anspruchsinhalt: Vorlage von Bank-, Finanz- und Handelsunterlagen
  • a. Bankunterlagen im Sinne des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • b. Finanzunterlagen im Sinne des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • c. Handelsunterlagen im Sinne des § 101b UrhG und dessen Schwesternormen
  • d. Problematische Fälle
  • 3. Vorlagemodalitäten und damit verbundene Rechte
  • a. Ort der Vorlage
  • b. Fixierung des Besichtigungsergebnisses, Mitnahme von Kopien, Vorlage von Originalen, Kosten und Gefahrtragung
  • c. Richtlinienkonforme Umsetzung der Vorgabe einer „Übermittlung“ der Unterlagen nach Art. 9 II 2 RL durch die Verwendung der Formulierung „Vorlage“
  • d. Unterschied zwischen den Formulierungen der „Vorlage oder des geeigneten Zugangs“ in § 101b I 1 UrhG und der bloßen „Vorlage“ in § 101a I 2 UrhG?
  • e. Pflicht zur Erstellung von Unterlagen?
  • f. Befinden in der Verfügungsgewalt des Verletzers
  • g. Verhältnis des Begriffs der „Verfügungsgewalt“ in § 101b UrhG zum Begriff des „Besitzes“ in § 809 BGB.
  • h. Bezeichnung der Unterlagen in Klagschrift und Prozess
  • 4. Anspruchsausschluss bei Unverhältnismäßigkeit nach § 101b II UrhG
  • 5. Der Verweis des § 101b IV UrhG auf § 101 VIII UrhG
  • a. Die zusätzliche Heranziehung des § 97 I InsO zur ergänzenden Auslegung
  • b. Fazit
  • 6. Der Schutz der Vertraulichkeit des Anspruchsgegners
  • a. Zur dogmatischen Einordnung des Vertraulichkeitsschutzes
  • b. Konkrete Maßnahmen zur Gewährleistung des Vertraulichkeitsschutzes
  • aa. Unkenntlichmachung
  • bb. Vorherige Anhörung des Verletzers
  • cc. Wirtschaftsprüfervorbehalt oder Vorlage bei einem anderen neutralen, gerichtlich bestellten Sachverständigen
  • (1.) Kritik am Wirtschaftsprüfervorbehalt aufgrund mangelnder Präzision der Maßnahme
  • (2.) Ablehnung des zweistufigen Besichtigungsverfahrens für § 101b UrhG
  • (3.) Kombination mit Sequestration durch den Gerichtsvollzieher
  • dd. Zur Möglichkeit des Ausschlusses der Parteien von der Beweisaufnahme unter Einschränkung des § 357 I ZPO
  • ee. Zur Möglichkeit der Anwendung des „In-camera- Verfahrens“ im Rahmen des § 101b UrhG
  • (1.) Zulässigkeit und Anwendbarkeit des „In-camera- Verfahrens“
  • (2.) Ausschluss des Rechtsbeistands im „In-camera- Verfahren“ im Falle der Anwendung auf § 101b UrhG?
  • ff. Gewährung überschießender Informationen für das Gericht
  • gg. Konsequenzen bei fehlender Gewährleistung der Vertraulichkeit und daraus resultierender Schäden
  • III. Die Vorlage im Rahmen der einstweiligen Verfügung nach § 101b III 1 UrhG
  • 1. Der „offensichtlich“ bestehende Schadensersatzanspruch
  • 2. Die übrigen Voraussetzungen nach § § 935, 940 ZPO
  • 3. Erhaltung des Überraschungseffekts und Gewährleistung der Schnelligkeit der Maßnahme
  • 4. Keine Geltung des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache
  • 5. Die Gewährleistung des Vertraulichkeitsschutzes im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes
  • 6. Anwendung der „Düsseldorfer Praxis“ im Rahmen des § 101b III 1 UrhG
  • IV. Die Bewertung der gegenwärtigen Fassungen der Normen unter der Berücksichtigung alternativer Regelungsmöglichkeiten
  • 1. Keine Analogiefähigkeit
  • 2. Ausreichende und richtlinienkonforme Umsetzung der Vorgabe ins nationale Recht?
  • 3. Kritiken an der Privilegierung der Gläubiger von Ansprüchen im gewerblichen Rechtsschutz und im Urheberrecht
  • 4. Alternative Regelungsmöglichkeit in den Arrestvorschriften?
  • 5. Alternative Regelungsmöglichkeit im Adhäsionsverfahren?
  • a. Die prinzipielle Anwendbarkeit von § 101b UrhG und dessen Schwesternormen auf das Adhäsionsverfahren
  • b. Zur Zweckmäßigkeit der Regelung des Komplexes im Adhäsionsverfahren
  • V. Die Geltendmachung des § 101b UrhG in Vollstreckungsverfahren und Praxis
  • 1. Vollstreckung nach § 883 ZPO sowie damit verbundene Probleme
  • 2. Vollstreckung nach § 888 ZPO
  • 3. Vollstreckung nach § 887 ZPO
  • 4. Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden und Nutzung von sog. Finanzermittlungen im Wege der „Rückgewinnungshilfe“
  • 5. Ergebnis
  • VI. Ausblick
  • VII. Fazit
  • VIII. Fallstudie
  • 1. Fallstudie: Hauptsacheverfahren
  • 2. Fallstudie: Einstweiliges Verfügungsverfahren
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung in die Problematik

Der Wert eines materiellen Rechts hängt maßgeblich von den Möglichkeiten der prozessualen und praktischen Durchsetzung ab.1 Diese Aussage muss unmittelbar einleuchten, da ein noch so wertvolles Recht, das im Endeffekt nicht effektiv durchgesetzt werden kann, faktisch nur rein theoretischer Natur ist. Entscheidend ist für eine effektive Rechtsdurchsetzung zunächst, dass der Verletzte die Möglichkeit hat, den Sachverhalt richtig aufzuklären.2 Eine Erkenntnis, der nicht nur im Rahmen der Beweisbeschaffung im Vorfeld von Prozessen zur Anspruchsbegründung, sondern vielmehr in sämtlichen Stadien des Prozesses,3 also auch im Rahmen der Sicherung bestehender und zugestandener Ansprüche Bedeutung zukommt und die vor diesem Hintergrund mithin universell gilt.

Kaum jemand wird die praktischen Auswirkungen dieser Umstände wirtschaftlich schmerzlicher zu spüren bekommen haben als Urheberrechtsinhaber und Rechtsinhaber gewerblicher Schutzrechte. Allzu bekannt ist die Entwicklung, in deren Verlauf mit dem Aufkommen des Internets und der damit verbundenen Digitalisierbarkeit von Werken sowie dem immer größer und günstiger werdenden Angebot von Hard- und Software zur Vervielfältigung die Möglichkeit geschaffen wurde, quasi vom Wohnzimmer aus Rechtsverletzungen ohne größeren Aufwand zu begehen. Nur beispielhaft zu nennen sind peer to peer Netzwerke wie zum Beispiel Kazaa, Emule/Edonkey, Limewire oder Bearshare, BitTorrent Techniken oder Share- beziehungsweise Filehoster,4 die urheberrechtlich geschützte Inhalte über Links rechtswidrig veröffentlichen. Sie ermöglichen den Zugriff auf „Raubkopien“ auch für den nur durchschnittlich geschulten PC-Benutzer und machen sich die tatsächlich nur vermeintliche Anonymität des Internets zunutze. Die hiermit verbundene Problematik betrifft insbesondere ← 13 | 14 → Film,- Software- und Musikindustrie und wird noch dadurch verschärft, dass ein nur unzureichendes Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung bezüglich der Erstellung und Nutzung von „Raubkopien“ vorherrscht und aufgrund der Vielzahl der fahrlässigen, aber insbesondere auch vorsätzlichen Verletzungshandlungen geradezu von einem Volkssport gesprochen werden kann. Die Schaffung eines effektiven Schutzes des geistigen Eigentums ist aber keine Frage des Könnens, sondern vielmehr eine Frage des politischen Wollens.5 Zutreffend wird in diesem Zusammenhang angemerkt, dass die Möglichkeit der umfassenden Verfolgung von Rechtsverletzungen den längst überfälligen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung begünstigen könnte.6

Maßnahmen, die aus der Mitte betroffener Industrien heraus ergriffen wurden und sich vornehmlich des Stilmittels der Abschreckung bedienten, konnten einen solchen Bewusstseinswandel zunächst nämlich nicht in ausreichendem Maße herbeiführen. Drastische und juristisch unzutreffende7 Formulierungen der Kampagnen wie „Raubkopierer sind Verbrecher“ werden dennoch einen gewissen Effekt gehabt haben. Deutlich spürbarer für Verletzer dürften die kostenpflichtigen, zivilrechtlichen Abmahnungen nach § 97a UrhG sein, die insbesondere Nutzer des „Filesharings“ immer häufiger erhalten. Ein Blick auf die Zahlen verdeutlicht jedoch, dass das Problem trotz aller ergriffenen Maßnahmen bestenfalls eingedämmt worden sein dürfte:

Eine präzise Bezifferung der tatsächlichen volkswirtschaftlichen Schäden und des hierdurch verursachten Verlusts von Arbeitsplätzen ist angesichts der erheblichen Dunkelziffer zwar schwierig, kann aber anhand von Statistiken durchaus geschätzt und prognostiziert werden.8 1995 waren 42% der auf beruflich genutzten Computern verwendeten Softwareprogramme illegal hergestellt.9 Der Anteil von gefälschten und nachgeahmten Produkten am Handel des Weltmarktes überhaupt lag 1999 zwischen 3 und 6 Prozent, wodurch ein Umsatz von zwischen 120 und 240 Billionen Dollar pro Jahr generiert wurde.10 Heute soll der Weltmarktanteil sogar bei etwa 10 Prozent liegen.11 Laut der siebten „Global ← 14 | 15 → Piracy Studie“ von 2010 im Auftrag der Business Software Alliance liegt der Anteil der illegal verwendeten Software bundesweit noch immer bei 28%, europaweit sogar bei 35%.12­ Insofern ist hier zwar ein Rückgang auszumachen, nach wie vor wird jedoch mehr als jedes vierte Softwareprogramm illegal genutzt. Die Dunkelziffer dürfte aufgrund der deliktstypischen, heimlichen Begehungsweise noch ganz erheblich höher liegen. Insgesamt wird der durch den Handel mit Raubkopien verursachte Schaden auf mehrere hundert Milliarden Dollar jährlich geschätzt.13 Betroffen sind sämtliche Werkkategorien von Spielen und Musik über Filme, Software und Magazinen bis hin zu pornografischen Inhalten.14 Die entsprechenden Angebote sind oftmals höchst professionell aufgezogen. Aufgrund ihrer regelmäßig hochsystematischen Anordnung, ihrer Qualität und ihres frühen Veröffentlichungszeitpunktes stehen sie den Originalangeboten oftmals in nichts nach.15 Das überdies hier nur exemplarisch abgebildete Spektrum betroffener Handelszweige reicht von Bekleidung über Kosmetika und Parfum bis hin zu Spielwaren, Sportartikeln und Arzneimitteln.16

Die Zahlen verdeutlichen, wie hoch das praktische Schutzbedürfnis der Rechtsinhaber einerseits und die defizitäre Rechtsdurchsetzung andererseits nach wie vor sind. Kreative haben aufgrund beharrlicher und fortwährender vorsätzlicher und fahrlässiger Schutzrechtsverletzungen mit horrenden Einnahmeausfällen zu kämpfen. Auch der Staat ist von der dargestellten Problematik betroffen, da Steuerausfälle durch „Raubkopien“ und Arbeitslosigkeit unter den Kreativen zu fehlenden Einnahmen und finanzieller Mehrbelastung durch Sozialleistungen führen und auch Gerichte, Zoll- und Strafverfolgungsbehörden mit Mehrmitteln ausgestattet werden müssen.17 Schon in den Neunziger Jahren wurde von einem Verlust von 50000 Arbeitsplätzen durch Produktpiraterie in Deutschland gesprochen.18 ← 15 | 16 → Heute ist angesichts der allgegenwärtigen Präsenz der neuen Medien in Wirtschaft und Gesellschaft von einem Vielfachen auszugehen. Das Bundesministerium der Justiz spricht 2013 von einer „Gefährdung“ von jährlich 70000 Arbeitsplätzen und von einem jährlichen Schaden in Höhe von 25 Milliarden Euro durch Produktpiraterie allein in der Bundesrepublik.19 Die Problematik ist insofern längst eine gesellschaftliche und nicht bloß Sache der Schutzrechtsinhaber.

Zwar bestehen mit den § § 97 II S. 1 UrhG, 139 II S. 1 PatG, 14 VI S. 1 MarkenG, 24 II S. 1 GebrMG, 42 II S. 1 DesignG­20, 37 II S. 1 SortG Anspruchsgrundlagen, die eine Schadensersatzpflicht gegen Verletzer von gewerblichen Schutzrechten und im Urheberrecht normieren, diese stehen jedoch – wie einleitend festgestellt – immer auch vor der Frage der praktischen Durchsetzbarkeit. Die Problematik der praktischen Durchsetzbarkeit wird noch dadurch verschärft, dass sie nicht national begrenzt ist. In den Schwellenländern Südamerikas und Asiens liegt der Anteil illegaler verwendeter Software noch deutlich höher.21 Oftmals stehen auch die „Server“, auf denen illegale Software zum Download angeboten wird, in osteuropäischen oder asiatischen Ländern, so dass die Möglichkeit der effektiven Rechtsdurchsetzung für die Verletzten mangels tatsächlicher Verfolgbarkeit zusätzlich erschwert wird. Immer mehr Verletzer sind zudem in Netzwerken organisiert, so dass die Inanspruchnahme Einzelner noch keine Abhilfe leistet, sondern vielmehr auch Informationen gewonnen werden müssen, um die Hintermänner belangen zu können.22

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen rechtshistorischen Entwicklung der Anerkennung und Kodifikation von Rechten des geistigen Eigentums überrascht die Problematik der Rechtsheterogenität nicht. Die endgültige und entsprechend kodifizierte Anerkennung des geistigen Eigentums vollzog sich in Europa erstmals im späten 18. Jahrhundert, so dass deren Entwicklung mithin in die Zeit des einzelstaatlichen Rechts fiel und sich dementsprechend lange ← 16 | 17 → Zeit die zahlreichen, unterschiedlichen Regelungen der jeweiligen Staaten gegenüberstanden.23 Hinzu kommt das für den Bereich des geistigen Eigentums typische Informationsdefizit des Schutzrechtsverletzten.24 Dieses Defizit kann wie oben erörtert in sämtlichen Stadien der Durchsetzung eines Schutzrechts bestehen­25 und ist daher insbesondere auch nicht auf die bisher schwerpunktmäßig in der Literatur behandelte Informationsbeschaffung im Vorfeld von Prozessen begrenzt. Die Schwierigkeit der praktischen Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums und Urheberrechts liegt aufgrund der Verzahnung des Informationsdefizits und der über lange Zeit fragmentarischen Regelungen und der Internationalität des Phänomens auf der Hand. Das Bedürfnis der Schaffung gleicher internationaler Standards wurde angesichts dieser Tatsachen in der Konsequenz seit längerem gefordert und die zahlreichen unterschiedlich ausgestalteten nationalen Regelungskomplexe wurden in Zweifel gezogen.26 Es wurde sogar betont, dass diese Rechtszersplitterung gerade im „Urheber-, Erfinder- und Musterrecht“ unerträglich sei.27 Dies leuchtet umso mehr ein, wenn man bedenkt, dass ein Produkt, welches im Ausland nicht hinreichend vor Nachahmungen geschützt wird, dort de facto vom Markt ausgeschlossen wird und dies im Falle hoher Entwicklungs- oder Produktionskosten sogar für das gesamte Unternehmen ruinös wirken kann.28

Für die Mitgliedstaaten der EU wurde am 20.4.2004 mit der Richtlinie zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums (2004/48/EG), der so genannten „Enforcement Richtlinie“, ein Versuch der Harmonisierung des Rechts in diesem Gebiet unternommen. Erwägungsgrund 9 der Richtlinie greift obige ← 17 | 18 → Bedenken auf und führt an, dass die Unterschiede das materielle Recht auf dem Gebiet des geistigen Eigentums schwächen und insofern zu einer Fragmentierung des Binnenmarktes in diesem Bereich führen. Zusätzlich wird durch eine Harmonisierung zumindest auf europarechtlicher Ebene vermieden, dass Verletzer Schutzlücken nutzen und ihre Aktivitäten auf die Mitgliedstaaten beschränken, die kein umfassendes Schutzniveau gewährleisten.29

In Umsetzung des Art. 9 II 2 der „Enforcement Richtlinie“ wurde am 7.7.2008 § 101b UrhG zur Sicherung von Schadensersatzansprüchen in das Gesetz eingefügt. Der vom BGH vormals eisern vertretene Grundsatz, „dass keine Partei gehalten ist, dem Gegner Material für seinen Prozesssieg zu verschaffen“,30 dürfte somit durch den europarechtlichen Impuls eine weitreichende Einschränkung erfahren und mittelfristig immer mehr in den Hintergrund treten. Vielmehr dürfte die von Stürner in seiner Habilitationsschrift begründete, aber früher mehrheitlich abgelehnte Lehre der allgemeinen prozessualen Aufklärungspflicht­31 durch Art. 9 II 2 der Richtlinie, aber auch durch Art. 6 und 7 der Richtlinie – in Deutschland zumindest auf materiellrechtlicher Ebene im Urheberrecht und gewerblichen Rechtsschutz – eine späte Renaissance erfahren.

Durch die fortschreitende europäische Rechtsharmonisierung sieht sich der nationale Gesetzgeber mit ausländischen Rechtseinflüssen konfrontiert, die mit der historisch gewachsenen deutschen Rechtsordnung in Einklang zu bringen sind. Dies betrifft in besonderem Maße auch § 101b UrhG und die Schwesternormen und kann bedeutsame praktische Probleme hervorrufen. Um einerseits den europarechtlichen Vorgaben zu genügen und einen praktischen Anwendungsbereich der neu geschaffenen Normen zu gewährleisten und andererseits gleichzeitig die bewährten, gewachsenen Eigenheiten und Grundsätze der nationalen Rechtsordnung zu bewahren und zu verhindern, dass sich die neu geschaffenen Normen zu ← 18 | 19 → Fremdkörpern in der Rechtsordnung entwickeln, vertritt der Verfasser die These, dass die neu geschaffenen Normen und deren Rechtsbegriffe unter kritischer Prüfung der Anwendbarkeit anhand herkömmlicher, vergleichbarer Merkmale und Definitionen der geltenden Rechtsordnung auszulegen sind. Hierbei ist selbstverständlich auf eine europarechtskonforme Auslegung zu achten.

Ob die in § 101b UrhG erfolgte Umsetzung der Vorgabe der Richtlinie gerecht wird, gilt es im Gang der Arbeit zu untersuchen. Anzumerken ist hierbei, dass es sich bei der zugrunde liegenden Richtlinie nur um eine Mindestharmonisierung handelt.32 Insofern ist es den Mitgliedsstaaten unbenommen, im Rahmen einer überschießenden Umsetzung weitergehende Regelungen zu treffen, um Schutzrechtsinhabern weitere Instrumentarien für eine effektive Rechtsdurchsetzung an die Hand zu geben.

Die Untersuchung soll neben den Voraussetzungen der Norm auch auf die geäußerten Kritiken an der gegenwärtigen Umsetzung unter besonderer Berücksichtigung der Regelungsmöglichkeit in anderen Gesetzen eingehen. Weiterhin wird unter Würdigung ihrer Zweckmäßigkeit auf die Übernahme und Vorbildwirkung ausländischer Rechtsinstitute und auf ausländische Gerichtspraxis eingegangen. Wo es sich anbietet wird zudem angesichts der spärlichen Auseinandersetzung der deutschen Rechtsprechung mit § 101b UrhG eine vergleichende Auseinandersetzung mit ausländischer Kasuistik erfolgen. Dies erfolgt auch immer vor dem Hintergrund der möglichen Schaffung von Auslegungshilfen und der Erschließung von Anwendungsbereichen, um die Norm für die Nutzung in der Praxis zugänglicher zu machen.

Schwerpunktmäßig soll hierbei § 101b UrhG im Fokus der Betrachtung stehen, wobei die beinahe wortgleichen Schwesternormen der § § 140d PatG, 24d GebrMG, 19b MarkenG, 46b DesignG, 37d SortG ergänzend herangezogen werden, sofern entsprechende Zusammenhänge und thematische Besonderheiten Anlass dazu bieten. Im Übrigen gelten die Ausführungen für die Schwesternormen überwiegend entsprechend.

Der Gang der Arbeit befasst sich zunächst mit dem Ursprung der Normen, der historischen Entwicklung und vergleichbaren nationalen und internationalen Rechtsinstituten, um dann zu den geltenden Voraussetzungen der Norm zu kommen. Da die Norm in der Rechtspraxis derzeit kaum Anwendung findet, soll abschließend anhand einer Fallstudie zum Hauptsacheverfahren und zum einstweiligen Verfügungsverfahren aufgezeigt werden, worin der Nutzen der Norm in seiner praktischen Anwendung liegt.

1 Anduleit – Rechtsdurchsetzung im Markenrecht S. 33; v. Hartz – Beweissicherung im gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht S. 19; Dreier in GRUR int. 1996 S. 205–218 [208]; Götting in GRUR int. 1988 S. 729–744 [729]; für das Patentrecht ganz ähnlich Brinks/Fritze in GRUR Int. 1987 S. 133–140 [140].

2 Treichel in GRUR Int. 2001 S. 690–703 [690]; Battenstein – Instrumente zur Informationsbeschaffung S. 4; Gniadek – Beweisermittlung im gewerblichen Rechtschutz und Urheberrecht S. 49.

3 Haedicke in FS für Schricker S. 19–32 [19].

4 Ein schöner Überblick über die entsprechenden „Angebote“ im Netz und deren Arbeits- und Funktionsweise findet sich im Beitrag von Rehbinder in ZUM 2013 S. 241–264.

5 Bäcker in ZUM 2008 S. 391–396 [391].

6 Amschewitz – Durchsetzungsrichtlinie S. 183.

7 Da § § 106, 108a UrhG nicht im Mindestmaß eine Freiheitsstrafe von einem Jahr vorsehen, liegt kein Verbrechen nach § 12 StGB vor.

Details

Seiten
210
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653050325
ISBN (ePUB)
9783653974928
ISBN (MOBI)
9783653974911
ISBN (Paperback)
9783631658338
DOI
10.3726/978-3-653-05032-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Sicherung der Zwangsvollstreckung Effektive Rechtsdurchsetzung Auffinden von Vermögen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 210 S.

Biographische Angaben

Hendrik Dobinsky (Autor:in)

Hendrik Dobinsky ist Volljurist. Das Studium der Rechtswissenschaften absolvierte er an der Universität Hamburg und an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist heute als Rechtsanwalt in Hamburg tätig.

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