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Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx

von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Autor:in)
©2014 Monographie 364 Seiten
Reihe: Hegeliana, Band 24

Zusammenfassung

Dieses Buch thematisiert, auf zentrale Fragestellungen Hegels bezogen, die beiden grundlegendsten Kritiken seines absoluten Idealismus. Hegels Dialektik ist der Versuch, den Geist als das Übergreifende über sich als Denken und sein Anderes, das Sein, zu begreifen. Doch kann der Geist in dieser Dialektik das Sein immer nur als Gegenstand des Denkens fassen, nicht aber als eigenständige Wirklichkeit, der es selbst mit angehört. Dies arbeitet Schelling in seiner Auseinandersetzung mit der Logik seines Jugendfreundes Hegel heraus und expliziert dies insbesondere am Problembereich der Naturphilosophie. Unabhängig davon kommt etwas später Marx zu einer ganz ähnlichen Kritik, die er vor allem an Problemstellungen der Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie darlegt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • I. Einführung in die Thematik – zu Hegel, Schelling, Marx
  • 1. Philosophie im Primat der Praxis
  • 2. Die dialektische Aufhebung von Idee und Materie in der gesellschaftlichen Praxis
  • 3. Ansätze einer materialistischen Kritik der Hegelschen Logik bei Schelling
  • 4. Marx und die Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie
  • II. Von den Jenaer Systementwürfen zur Phänomenologie
  • 5. Hegels Weg zur Dialektik des Geistes
  • 6. Lässt sich Religion in Philosophie aufheben?
  • 7. Die frühen Abweichungen Hegels von der Naturphilosophie Schellings
  • 8. Zur Konstitution des sittlichen Geistes in Hegels Jenaer Systementwürfen
  • III.A. Aspekte des Systems der Philosophie: Die Philosophie der Natur
  • 9. Verbindendes und Trennendes in der Naturphilosophie Schellings und Hegels
  • 10. Die Wirklichkeit der Natur. Zur Naturphilosophie Schellings und Hegels
  • 11. Kunst zwischen Natur, Geschichte und Absolutem bei Schelling und Hegel
  • III.B. Aspekte des Systems der Philosophie: Die Philosophie der Sittlichkeit
  • 12. Sittlichkeit, gesellschaftliche Reproduktion und das Verhältnis zur Natur
  • 13. Konstituiert das Recht die Praxis oder die Praxis das Recht? Einige grundsätzliche Erwägungen
  • 14. Zur Dialektik gesellschaftlicher Praxis – Differenzierungen zu Schleiermacher, Hegel und Marx
  • 15. Hegel und die Pädagogik
  • III.C. Aspekte des Systems der Philosophie: Die Philosophie der Geschichte
  • 16. Erfüllung und Ende der „ersten Philosophie“. Eine Auseinandersetzung mit Hegels Begriff der Geschichte der Philosophie
  • 17. Von Sinn und Ende der Geschichte. Fragen an Hegel und Marx angesichts des Exterminismus
  • 18. Wird die Weltvernichtung faktisch unser Weltgericht werden?
  • IV. Ausblicke auf die fortbestehende Gigantomachie
  • 19. Das spekulative Wissen oder die Ekstasis des Denkens. Eine Verteidigung der Philosophie als Potenz ihrer Überwindung
  • 20. Schellings letzte Antwort auf Hegels Herausforderung. Die reflektierende Urteilskraft der Vernunft
  • 21. Dialektischer Materialismus als Philosophie der Praxis. Eine Antwort an Louis Altbusser
  • 22. „Aufhebung“ – Gedanken zu einer Grundkategorie dialektischer Philosophie
  • Literaturhinweise
  • Drucknachweise der Erstveröffentlichungen in chronologischer Reihung

← 10 | 11 → Vorwort

Der Band Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx versammelt Sektions- und Plenumsvorträge, die ich durch vierzig Jahre hindurch von 1974 bis 2014 auf Internationalen Hegel-Kongressen gehalten habe. Fünfzehn davon trug ich auf den alle zwei Jahre in verschiedenen Weltstädten stattfindenden Kongressen der Internationalen Hegel-Gesellschaft vor, vier weitere auf Kongressen der Internationalen Hegel-Vereinigung bzw. auf gemeinsamen Konferenzen beider Gesellschaften.

Obwohl die Vorträge zeitlich weit auseinanderliegen und auch ganz verschiedene Themen der Hegelschen Philosophie und ihrer Kritik anschneiden, durchzieht sie doch ein ‚roter Faden‘, der ihre vollständige Sammlung in einem Band rechtfertigt. Dieser ‚rote Faden‘ liegt in der Explikation der systematischen Kritik am absoluten Idealismus Hegels, wie sie sowohl von Schelling als auch von Marx – wiewohl von zwei unterschiedlichen Seiten her – vorgebracht wird. So genial Hegels Dialektik mit ihrem Übergreifen des Geistes über sich als Denken und sein Anderes, das Sein, auch ist, der Geist kann in dieser Dialektik das Sein immer nur als Gegenstand des Denkens fassen, nicht aber als Wirklichkeit, der er selber mit angehört. Hegels Dialektik lebt aus einer Verleugnung der Eigenständigkeit des Existierens, dies ist es, was Schelling in seinem langen Ringen mit der Wissenschaft der Logik seines Jugendfreundes Hegel herausarbeitet und insbesondere bezogen auf den Problembereich der Philosophie der Natur ausführt.1 Unabhängig davon kommt etwas später auch Marx als ‚Enkelschüler‘ Hegels zu einer ganz ähnlichen Kritik der Hegelschen Dialektik, die er vor allem am Problem der gesellschaftlichen Entwicklung und den Aufgaben der Menschheitsgeschichte expliziert.2

Die hier gesammelten Beiträge werden nicht chronologisch nach ihrer Entstehung vorgelegt, sondern thematisch gereiht, wobei hierfür Hegels philosophische ← 11 | 12 → Entwicklung – von ihren Anfängen 1801 in Jena bis zu den Systemvorlesungen 1831 in Berlin – den Leitfaden abgibt. Nach den ersten Einführungen in die Gesamtthematik folgen zunächst Auseinandersetzungen mit den frühen Jenaer Systementwürfen Hegels bis zur Phänomenologie des Geistes, dem schließen sich sodann Beiträge zu den Systemteilen der Naturphilosophie, der Philosophie der Sittlichkeit und der Geschichtsphilosophie an, den Abschluss bilden schließlich systematische Auseinandersetzungen mit Hegel und seinen beiden Kritikern Schelling und Marx. Denn bei der Beleuchtung dieser Hegel in die Zange nehmenden Kritik von Schelling und Marx geht es nicht bloß um die Nachzeichnung von philosophiegeschichtlichen Kontroversen des neuzehnten Jahrhunderts, sondern um einen fundamentalphilosophischen Grundsatzstreit, eine philosophische Gigantomachie (Platon), die auch noch das Selbstverständnis und die Aufgabenstellung der Philosophie unserer Tage betrifft.

Nur drei der Beiträge stammen aus anderen, wiewohl der klassischen deutschen Philosophie zugehörenden Zusammenhängen: So der Eröffnungsbeitrag „Philosophie im Primat der Praxis“, den ich auf einem Symposion der Gesellschaft „System der Philosophie“ 2007 in Wien vorgetragen habe. Er wurde hier aufgenommen und vorangestellt, da er am besten in die Gesamtthematik einführt und so den orientierenden ‚roten Faden‘ durch das Labyrinth der unterschiedlichen Thematisierungen Hegels und seiner beiden Hauptkritiker bietet.3 Der Abschlussbeitrag bündelt das systematische Grundanliegen der Hegel- Kritik nochmals auf die Aufgabe, den absoluten Erkenntnisanspruch der Hegelschen Philosophie auf eine verantwortungsbewusste Praxisphilosophie hin zu aufzubrechen.4 Der dritte zusätzliche Beitrag „Das spekulative Wissen und die Ekstasis des Denkens“ geht auf ein Kolloquium zurück, das mein Kollege Ulrich Sonnemann und ich mit Paul Feyerabend und Hans Peter Duerr an unserer Universität, der damaligen Gesamthochschule Kassel, im Jahre 1978 veranstalteten – in diesen Band habe ich nur den sich auf Hegel und Schelling beziehenden Teilabschnitt wieder aufgenommen, da er den grundsätzlichen Gigantenkampf markiert, zu dem die Philosophie auch heute noch Position beziehen muss.5

← 12 | 13 → Die meisten der Beiträge wurden in ihren ursprünglichen Vortragscharakter belassen. Nur einige wurden bereits zur Erstveröffentlichung weiter ausgearbeitet oder für die jetzige Veröffentlichung mit ausführlicheren Darstellungen zum selben Thema neu zusammengeführt. Bei der Überarbeitung des Gesamtmanuskripts, die inhaltlich nichts verändert hat, wurden lediglich einige Textstellen gegenüber den ursprünglichen Erstveröffentlichungen verschoben sowie direkte Wiederholungen gestrichen. Dabei wurde darauf geachtet, dass sowohl die einzelnen Beiträge je für sich verständlich bleiben als auch die Themen argumentativ auseinander erschlossen werden. Trotzdem war es um der Verständlichkeit der Argumentationen willen notwendig, einige thematische Aussagen und vor allem eine Reihe von Schlüsselzitaten von Hegel und von seinen Kontrahenten mehrfach aufzugreifen.

Dem Peter Lang Verlag danke ich für Drucklegung und verlegerische Betreuung. Besonders bedanke ich mich jedoch bei Helmut Schneider, dem Herausgeber der Reihe Hegeliana für das Angebot, meinen Band Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx in die Hegeliana. Studien und Quellen zu Hegel und den Hegelianismus aufzunehmen. Ich verbinde damit die Hoffnung, dass sich die fundamentalphilosophische Diskussion nicht nur im engeren Kreis der Hegel-Forschung, sondern insgesamt bezogen auf die Denker der klassischen deutschen Philosophie von Kant und Fichte über Schelling und Hegel bis Feuerbach und Marx erneut beleben möge, um von daher wieder stärker auf die drängenden philosophischen Gegenwartsfragen einwirken zu können.

Wien, den 9. September 2014← 13 | 14 →

_________

1 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, „Von der wirklichen, von der seyenden Natur. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996).

2 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genes und Kernstruktur der Marxschen Theorie (1981).

3 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bruchstücke zur Dialektik der Philosophie. Studien zur Hegel-Kritik und zum Problem von Theorie und Praxis (1974).

4 Siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999).

5 Der Gesamtbeitrag erschien im Bd. II von Hans Peter Duerr (Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1981. Genauere Drucknachweise finden sich am Ende des Bandes.

← 16 | 17 → 1. Philosophie im Primat der Praxis
(Wien 2007)
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Kants Rede vom „Primat der praktischen Vernunft“ spricht zunächst der einen Vernunft zwei verschiedene Aufgaben zu: die theoretische Erkenntnisbestimmung und die praktische Willensbestimmung und weist sodann der praktischen Vernunft eine sich und die theoretische Vernunft übergreifende Bedeutung zu.

Die theoretische bzw. spekulative Vernunft konstituiert zwar all unsere Erkenntnisse von der Welt und von uns, aber sieht zugleich selbstreflexiv ein, dass unser Erkennen niemals bis zur Wirklichkeit an sich vorzudringen vermag. Die praktische bzw. sittliche Vernunft spricht uns von vornherein als Wesen in der Wirklichkeit an sich an, trägt aber mit ihrer Willensbestimmung nichts zum Erkennen von uns und der Welt bei.

Trotz all dieser tiefsinnigen Differenzierungen bleibt Kant gerade in der Begründung der Scheidung beider Vernunftaufgaben aus ihrer gemeinsamen Einheit und mehr noch in der Begründung des Vorrangs der praktischen Vernunft nicht nur wortkarg, sondern sogar ausgesprochen unentschieden und zweideutig. Daher seien hier einige Gesichtspunkte zu diesem Problem aus unserer philosophischen Tradition erneut zusammengetragen und bedacht.

1.1 Platon – die Grundlegung des Primats der praktischen Philosophie

Obwohl es bereits vorher Reflexionen zur Differenzierung von praktischer und theoretischer Philosophie gab, werden deren Besonderheiten endgültig erst durch Sokrates, Platon und Aristoteles herausgearbeitet. In der theoretischen Philosophie geht es um die Erkenntnis des Kosmos vom allumfassenden Himmelsumschwung bis zur irdischen Welt der Pflanzen, Tiere und Menschen. Demgegenüber spricht die praktische Philosophie das je von uns zu entscheidende und zu verantwortende Handeln gegenüber den anderen Menschen und ← 17 | 18 → der Polisgemeinschaft an. Ins Zentrum der praktischen Philosophie gehören dabei unabdingbar aufeinander bezogen Pädagogik, Ethik und Politik als Bestimmungen der sittlichen Praxis in der Polis.

Schon Platons Sokrates unterscheidet – und Aristoteles systematisiert dies dann ausdrücklich – praxis als das auf das menschliche Handeln bezogene menschliche Handeln, vom hervorbringenden Herstellen der poiēsis einerseits und vom erkennenden Wissen der theoria andererseits. Und so wird auch die praktische Einsicht (phronēsis), in der es um die sittliche Aufklärung des menschlichen Handelns – als Bewusstmachung und Orientierung – geht, sowohl von der epistēmē, die sich auf die theoretische Erkenntnis des Seienden bezieht als auch von der technē, die das kunstfertige Hervorbringen anleitet, abgegrenzt.

Die sittliche Einsicht kann schon deshalb nicht wie eine technische Kunstfertigkeit eingeübt oder wie theoretisches Wissen erlernt werden, da sie sich auf je individuell erst zu treffende sittliche Handlungsentscheidungen in jeweils einmaligen Praxissituationen bezieht. Vielmehr geht es in der praktischen Einsicht um ein die Handlungsentscheidungen anleitendes Orientierungswissen besonderer Art (doxa alēthēs – wie Platon dies im Menon nennt), das die Philosophie – selbst im Primat der Praxis stehend – als allgemeingültige Ansprüche aufzudecken und weiterzuvermitteln hat.

Insbesondere von Platons Sokrates und von Platon selbst wird die Begründungsproblematik richtungsweisend grundgelegt. Der von Platon in seinen frühen Tugenddialogen und in seiner Apologie des Sokrates gestaltete Sokrates versteht sich weder als ein Lehrer in sittlichen Fragen noch gibt er sich mit einem ethischen Pragmatismus zufrieden, er ist vielmehr der erste, der philosophisch nach einer Begründung des Sittlichen sucht.

Bei Platons Sokrates sind es zunächst pädagogische Grundfragen, an denen Probleme der sittlichen Bildung des Individuums als Voraussetzung sittlichen Handelns in der Polis aufbrechen, so die Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend (Protagoras, Menon), nach der Sinnbestimmung der Tugenden (Euthyphron, Laches, Charmides, Thrasymachos) sowie deren Abgrenzung von der rein logischen Sophistik (Euthydemos) und von der bloß überredenden Rhetorik (Gorgias), schließlich wird – bereits durch Platon systematisiert – das Problem der Findung der je eigenen praktischen Einsicht, der Anamnesis (Menon, Phaidon), bedacht sowie das Problem der notwendigen Angewiesenheit der heranwachsenden Jugend auf pädagogische Führung, der geburtshelfenden Maieutik (Theaitetos, Symposion)7.

← 18 | 19 → In allen sokratischen Dialogen geht es um die Begründung und Bestimmung sittlich-praktischen Handelns, aber keiner dieser Dialoge dringt dabei bis zu einer positiven Antwort vor. Eine solche kann theoretisch auch gar nicht gegeben werden, sondern jeder Mensch kann zur sittlichen Einsicht nur in sich selbst finden und muss diese für sich selbst im Handeln bewähren. Dazu bedarf es aber einer orientierenden Anleitung, die nur im sittlich-pädagogischen Dialog hervorgelockt werden kann. Diese dialogische Praxis wiederum gründet in der sittlich-politischen Gemeinschaft, die selbst wiederum nur in der dialogischen Praxis der Miteinander-Handelnden fundiert und gesichert zu werden vermag.

Obwohl in die Tugend (aretē), in das sittlich-praktische Handeln, sicherlich ein Moment des erprobten Könnens – der technē – und ebenso ein Moment selbstreflexiven Wissens – der epistēmē – eingeht, wäre es für die sittlich- praktische Aufgabenstellung verheerend, könnte sie wie eine epistēmē oder technē positiv benannt und mechanisiert werden, wäre sie über reinen Wissenserwerb und bloße Übung erlernbar.

Gerade weil die Philosophie, der philosophische Dialog, selbst unter dem Primat der Praxis steht, der hier vor allem als ein sittlich-pädagogischer begriffen wird, darf die Philosophie zu keinem positiv aussagbaren Ergebnis kommen, sondern muss die Aufgabe der sittlich-praktischen Selbstfindung und Bewährung dem heranwachsenden Dialogpartner zuspielen. Dies versuchen die sokratischen Dialoge über den dramaturgischen Kunstgriff des ergebnislosen Ausgangs der Gespräche zu erreichen, bei gleichzeitigem Appell nicht nachzulassen im Ringen um eine sittlich-praktische Selbstfindung und Bewährung. Sie machen dadurch deutlich, dass es bei der sittlichen Einsicht, dem Gewissen (daimonion), um etwas geht, was in theoretischer Aussage niemals erreicht zu werden vermag und doch der Bildung aus dem hinführenden Gespräch bedarf.

Beim späteren Platon treten dann mehr und mehr politische Grundfragen zur Bestimmung des Sittlichen in den Vordergrund. Der Dialog, in dem Platon selber die Differenz zu den sokratischen Dialogen markiert, ist das zweite Buch der Politeia. Das erste Buch ist ein typisch sokratischer Dialog (Thrasymachos), der wie alle sokratischen Dialoge negativ endet. Im zweiten Buch treten dann die Brüder Platons – Glaukon und Adeimantos – als Gesprächspartner hervor und fordern Sokrates mit radikaler philosophischer Schärfe heraus, doch endlich nicht mehr nur in negativer Abgrenzung stecken zu bleiben, sondern positiv zu sagen, was Gerechtigkeit als sittliche Tugend sei, denn sonst seien die Argumente der Sophisten und Rhetoriker nicht abzuweisen, dass es im Handeln nur auf den Erfolg im Hinblick auf ein gutes Leben ankomme und nicht auf die sittlichen Tugenden.

← 19 | 20 → Damit steht der neue Sokrates, der nunmehr Platon selbst ist, vor dieser letzten, unhintergehbaren Grundfrage aller praktischen Philosophie, das Sittliche positiv aus sich selbst begründen zu müssen. Es beginnt der schwere und langwierige Aufstieg zur Idee des Guten, wie er in der Politeia dargelegt wird.

Man glaube nicht, Platon behaupte jetzt, positiv sagen zu können, was die aretai, die sittlichen Tugenden, seien. Auch die Idee des Guten ist nicht wie ein wissenschaftlicher Erkenntnisgegenstand theoretisch aussagbar oder wie eine technische Kunstfertigkeit poiētisch einübbar. Und doch muss es einen philosophischen Weg geben, positiv an die Idee des Guten, in der alle sittlichen Tugenden gründen, heranführen zu können.

Das, was Platon in der Politeia als drei gegen uns brandende Wellen von Zumutungen beschreibend ausführt, darf nicht als das Bild eines idealen, realisierbaren Staates missverstanden werden. Es handelt sich hierbei vielmehr um ironische und polemische Überspitzungen, mit denen Platon auf Grundprobleme der politischen Verfassung seiner – und unserer – Zeit hinzuweisen versucht, die durch die bestehende politische Ideologie verdeckt werden.8 Erstens wird es Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen erst geben können, wenn die bisher herrschende Macht des Privateigentums gebrochen ist. Zweitens ist der Besitz an Frau und Kindern, die Grundfesten des Erbrechts, zu überwinden, was zugleich die Gleichstellung von Mann und Frau befördert. Doch all dies ist noch nichts gegen die dritte Welle der Zumutungen, und deren Realisierung ist noch viel unwahrscheinlicher als die der ersten beiden. Doch eher kann auf jene, niemals jedoch auf diese dritte verzichtet werden, wenn es je zur Verwirklichung einer gerechten Polisgemeinschaft kommen soll – „eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten […] und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht“. Es geht um die berühmt-berüchtigte Forderung, dass die Philosophen Könige und die Könige Philosophen werden sollen – den Angelpunkt der politischen Überlegungen Platons. (Politeia 473c-e)9

Unter Philosophen versteht Platon nicht die, die sich damals – und heute – selber so nennen, sondern jene Männer und Frauen, die eine periagogē, eine sittliche Umwendung, vollzogen haben. Nur diese sittlich gebildeten Menschen (Philosophen) können die wahrhaft gerecht Regierenden (Könige) sein. Das politisch Unwahrscheinliche liegt für Platon jedoch nicht darin, dass solche Frauen und Männer gefunden werden, denn dem kann man durch zwar besondere, ← 20 | 21 → aber durchaus mögliche pädagogische Anstrengungen nachhelfen, sondern darin, dass das Volk je solchen sittlichen Menschen die Regierungsgeschäfte anvertrauen werde, viel eher wird es sie vertreiben oder gar foltern und töten. (Politeia 517a) Sicherlich denkt Platon hier sowohl an die Verurteilung des Sokrates durch die Athener als auch an seine eigene schmachvolle Vertreibung aus Syrakus.

Details

Seiten
364
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783653050950
ISBN (ePUB)
9783653974461
ISBN (MOBI)
9783653974454
ISBN (Hardcover)
9783631658611
DOI
10.3726/978-3-653-05095-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (November)
Schlagworte
Dialektik Naturphilosophie Geschichtsphilosophie Erkenntnistheorie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2014. 364 S.

Biographische Angaben

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Autor:in)

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik studierte Philosophie, Ethnologie und Psychologie an der Universität Wien. Nach seiner Habilitation in Bonn war er bis zu seiner Emeritierung 2007 als Professor für Philosophie an der Universität Kassel tätig. Er lebt seit 2011 in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Dialektische Philosophie, Praktische Philosophie, Naturphilosophie (Schelling), Sozialphilosophie (Marx), Bildungsphilosophie (Hönigswald) und Religionsphilosophie (Rosenzweig).

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