Lade Inhalt...

Natur bei Rainer Maria Rilke

Wald, Park, Garten und ihre literarische Darstellung

von Alfred Hagemann (Autor:in)
©2015 Dissertation 427 Seiten

Zusammenfassung

Du siehst ich stecke mitten im Wald – Rilkes Zitat von 1909 ist nur eines von zahlreichen Belegen in seinen Briefen, die Alfred Hagemann untersucht. Sein Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Sujets Wald, Park und Garten in allen Textgattungen, Werkstufen sowie sämtlichen biographischen Phasen Rilkes. Intertextuelle und intermediale Aspekte ergänzen die Interpretation. Die europäischen Orte, die Rilke literarisch gestaltet, erweisen dabei ihre besondere Qualität als poetische Orte. Bisher unberücksichtigt in der Forschung war der Aspekt Wald. Insgesamt entsteht ein Themenpanorama, das von Natürlichkeit bis Künstlichkeit reicht. Aspekte des Themas Natur bei Rilke werden auf diese Weise erkennbar, aber auch die jeweiligen Querverbindungen zur Kunst und zum Zeitkontext.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1 Einführende Aspekte
  • 1.1 Forschungsgegenstand
  • 1.2 Fragestellung, Textgrundlage
  • 1.3 Forschungsbericht
  • 1.4 Methodik
  • 1.5 Aufbau
  • 1.6 Begrifflichkeiten und prägende Kontexte
  • 1.6.1 Begrifflichkeiten
  • 1.6.1.1 Wald
  • 1.6.1.2 Garten
  • 1.6.1.3 Park
  • 1.6.2 Prägende Kontexte
  • 1.6.2.1 Der Künstler als Promeneur solitaire
  • 1.6.2.2 Konstituierung von Landschaft
  • 1.6.2.3 Versailles als Brennpunkt
  • 1.6.2.4 Sehnsucht nach dem Dix-­huitième versus Passatismo
  • 2 Der Wald in Rilkes Briefen, Tagebüchern, seinem Werk und in seiner Lektüre
  • 2.1 Biographische Stationen
  • 2.1.1 Von Böhmen an die Ostsee (1881-­1895)
  • 2.1.2 Berlin-­Schmargendorf (1898-­1900)
  • 2.1.3 Viareggio (1898/1903)
  • 2.1.4 Paris (1905)
  • 2.1.5 Rollenspiele als Tröster, Ratgeber und Kurgast
  • 2.1.6 Rilke in Bad Rippoldsau, Heiligendamm und Krummhübel – ausgewählte Aspekte
  • 2.1.7 Kriegsmetaphorik (1914)
  • 2.1.8 Irschenhausen (1914-­1915), Chiemsee und Westfalen (1917)
  • 2.1.9 Walderfahrungen in der Schweiz
  • 2.1.10 Ergänzende Aspekte
  • 2.1.10.1 „Böhmischer“ Wald als Maßstab
  • 2.1.10.2 Vorliebe für Waldfrüchte und -­sträucher
  • 2.2 Der Wald in Rilkes frühen Erzählungen
  • 2.3 Lektüreimpulse der Jahre 1898 bis 1913
  • 2.3.1 Franz von Assisi (1181/1182-­1236)
  • 2.3.2 Jean Jaques Rousseau (1712-­1778)
  • 2.3.3 Johann Wolfgang Goethe (1749-­1832)/ Johann Georg Christoph Tobler (1757-­1812)
  • 2.3.4 Ralph Waldo Emerson (1803-­1882)
  • 2.3.5 Henry David Thoreau (1817-­1862)
  • 2.3.6 Adalbert Stifter (1805-­1868)
  • 2.4 Waldgedichte – vom Sturm und Drang bis zur Jahrhundertwende
  • 2.5 Resümee
  • 3 Der Garten in Rilkes Briefen und Lyrik
  • 3.1 Rilkes Gartenerfahrungen: Überblick
  • 3.2 Der Garten im Briefwerk: ausgewählte Beispiele
  • 3.2.1 Der Giardino privato der Villa Strohl-­Fern, Rom
  • 3.2.2 Rodins Garten in Meudon
  • 3.2.3 Der Giardino Eden, Venedig
  • 3.2.4 Rilkes Garten auf Muzot
  • 3.3 Rilkes Gartengedichte: Überblick
  • 3.4 Resümee
  • 4 Der Park in Rilkes Briefen, Tagebüchern und Werken
  • 4.1 Öffentliche Parks
  • 4.1.1 Öffentliche formale Parks
  • 4.1.1.1 Italien
  • 4.1.1.2 Frankreich
  • 4.1.1.2.1 Paris, Jardin du Luxembourg
  • 4.1.1.2.2 Paris, Jardin des Plantes
  • 4.1.1.2.3 Versailles
  • 4.1.1.2.4 Chantilly
  • 4.1.1.2.5 Saint-­Cloud
  • 4.1.1.3 Schweiz
  • 4.1.2 Öffentliche, nicht-­formale Parks
  • 4.2 Private Parks
  • 4.2.1 Private, formale Parks in der Schweiz
  • 4.2.1.1 Casa Battista
  • 4.2.1.2 Schloss Holligen
  • 4.2.1.3 Schloss Bothmar
  • 4.2.1.4 Schloss Berg
  • 4.2.2 Private, nicht-­formale Parks
  • 4.2.2.1 Deutschland
  • 4.2.2.1.1 Schloss Haseldorf
  • 4.2.2.1.2 Gut Böckel
  • 4.2.2.2 Schweden
  • 4.2.2.3 Österreich-­Ungarn
  • 4.2.2.3.1 Schloss Lautschin
  • 4.2.2.3.2 Schloss Janowitz
  • 4.3 Theorie des Landschaftsparks: Zum Briefwechsel mit Gräfin Sizzo
  • 4.4 Park-­Aspekte in den Briefen über Cézanne (1907)
  • 4.5 Park-­Aspekte im Drama Die weiße Fürstin (1898, 1904)
  • 4.6 Park-­Motive in der Schlussszene des Cornet (1899, 1906)
  • 4.7 Pariser Parks in dem Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910)
  • 4.8 Der Park in der Lyrik Rilkes
  • 4.8.1 Frühwerk
  • 4.8.2 Mittlere Werkphase
  • 4.8.2.1 Der Zyklus „Die Parke“
  • 4.8.2.2 Weitere Park-­Gedichte
  • 4.8.3 Spätwerk
  • 4.9 Park-­Gedichte der Jahrhundertwende
  • 4.9.1 Überblick
  • 4.9.2 Karl Kraus: „Wiese im Park (Schloß Janowitz)“ (1915)
  • 4.10 Resümee
  • 5 Auswertung und Ausblick
  • 6 Anhang
  • 6.1 Literaturverzeichnis
  • 6.1.1 Primär-­ und Sekundärliteratur zu Rainer Maria Rilke
  • 6.1.1.1 Rilke-­Bibliographien
  • 6.1.1.2 Werkausgaben
  • 6.1.1.3 Teilausgaben und Anthologien
  • 6.1.1.4 Tagebücher
  • 6.1.1.5 Briefausgaben
  • 6.1.1.6 Erinnerungsbücher, Biographien, Porträts, Kataloge
  • 6.1.1.7 Forschungsliteratur
  • 6.1.2 Allgemeine Primär-­ und Sekundärliteratur
  • 6.1.2.1 Allgemeine Primärliteratur und Anthologien
  • 6.1.2.2 Allgemeine Nachschlagewerke, Reiseführer, Karten, Kataloge, Bildbände
  • 6.1.2.3 Allgemeine Sekundärliteratur
  • 6.2 Siglen
  • 6.3 Archive und Sammlungen
  • 6.4 Ergänzende Bildquellen
  • 6.5 Abbildungsverzeichnis

← 8 | 9 → „[…] Parke, Wald und Waldwiesen:
meine Sehnsucht nach alledem ist manchmal unbeschreiblich.“
1

„Die Sorge und Mühe eines eigenen Gartens ist nicht gering,
aber dafür ist auch ab und zu die Freude des Ertrags groß und voller Genuß.“2

„Die Parke […], was man davon so im Gedächtnis behält,
so sehr mans auch oft im sehnsüchtig zurückgewandten Gefühl übertreibt,
ist nichts, nichts gegen das völlig Inkommensurable ihrer Existenz.“3

1 Einführende Aspekte

1.1 Forschungsgegenstand

Eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1907: Der Reiseempfehlung der Malerin Mathilde Vollmoellers für einen kleinen Ort in den Niederlanden, inmitten sommerlicher Natur, begegnet Rilke von seinem Stehpult in der Pariser Rue Cassette aus mit einer freundlichen Absage. „Ja, wenn ich mir eines Tages das Recht gäbe, über dieses tägliche Stehpult hinauszudenken“, heißt es in diesem Brief, „an einen ‚stillen grünen Fleck‘, so würde es auf alle Fälle Laren sein; aber es ist nicht wahrscheinlich, gar nicht. Ich muß meine Wurzeln hier pflegen und stillstehen.“4 Ein Spannungsfeld zwischen der Arbeit des Künstlers und der ihn umgebenden Natur wird in dieser kurzen Briefstelle sichtbar. Zwar wird sprachlich zwischen beidem eine Analogie erzeugt, doch die „Wurzeln“ des Künstlers müssen aus Rilkes Sicht eben nicht an einem „‚stillen grünen Fleck‘“, sondern in der täglichen Arbeit, in seinem Arbeitszimmer inmitten der Großstadt gepflegt werden.

← 9 | 10 → Von dieser punktuellen Selbstdefinition aus ergeben sich grundsätzliche Fragen, etwa nach der Wahrnehmung und Gestaltung der Natur, nach dem Zusammenspiel von Natur und Kunst, außerdem nach der Bedeutung von inspirierenden Orten bei Rilke. Durch Rilkes Briefe, vor allem durch die 2009 erschienene Ausgabe der Briefe an seine Mutter, lassen sich diese Fragen konkretisieren: Wald, Park und Garten werden dort zum Thema, erscheinen als Gegenstände seiner Wahrnehmung und Gestaltung, als „lieu poétique“5. Dies lässt sich außerdem in seinem dichterischen Werk, in seinen Schriften, aber auch in allen biographischen Phasen verfolgen. Entsprechende Verbindungslinien im Werk wurden bereits von Dieckmann konstatiert, eine detaillierte bzw. auch das Frühwerk einbeziehende Untersuchung liegt bisher aber noch nicht vor.6

Betrachtet man Wald, Garten und Park unter literaturästhetischen Kategorien, wird es um Gegenstände brieflicher Beschreibungen und Tagebuchnotizen, um lyrische Motive sowie, in geringerer Gewichtung, um Romanschauplätze, Szenenangaben und Dialoginhalte gehen müssen. Der Konstituierungsprozess von Landschaft, der dabei auch zu untersuchen sein wird, geschieht im Schnittpunkt dieser thematischen und ästhetischen Linien. Der Begriff Sujet scheint besonders dafür geeignet zu sein, auf grundlegender Ebene die literarische und außerliterarische Dimension von Wald, Park und Garten zu benennen.7 Teilweise lassen sich bei Rilke unterschiedliche Stufen eines Verschriftlichungsprozesses erkennen. Für die Interpretation der Einzeltexte mit ihren spezifischen Gattungsmerkmalen werden bereits vorliegende Begrifflichkeiten, wie der Motiv-Begriff8, einbezogen.

← 10 | 11 → Der Schwerpunkt dieser Untersuchung wird auf der Lyrik und den Briefen liegen. Es wird zu beachten sein, welche „Füllung und Anreicherung des Naturausschnitts“9 jeweils vorliegt. Gesondert zu betrachtende Aspekte werden die Wahrnehmung und die Funktionalisierung von Wald-, Park- und Gartenmotiven sowie ihre Nutzung als Darstellungsmittel sein, die einem ganz anderen Text-Skopos als dem der Natur im weitesten Sinne untergeordnet sein können. Der skizzierte Themenbereich wird von komplexen Kontexten umgeben und geprägt, die zu seiner Erschließung einbezogen werden sollen.

Die bereits erwähnten Briefe Rilkes an seine Mutter erwiesen sich dabei als neue, bisher nur in Teilen ausgewertete Quelle. Setzt man die in dieser Untersuchung verwendeten 53 Briefstellen in Relation zu der Gesamtzahl von 1135 Briefen, wird schnell deutlich, dass sich schon auf statistischem Wege zeigt, dass Wald, Park und Garten zu den „[p]etits thèmes littéraires “10 zu rechnen sind. Außerdem fallen in dem schon länger edierten und bereits erschlossenen Briefwerk Rilkes unter dem genannten Erkenntnisinteresse „deskriptive“ Briefe bzw. Briefpassagen auf, deren gestalterische Qualität und „ästhetische[r] Wert“11 neu zu würdigen sind. Sie sind überwiegend in den Kontext der im 19. Jahrhundert beliebten „Reisebriefliteratur“12 einzuordnen, deren Interesse „einem bestimmten Gegenstand, einer bestimmten Materie oder einem bestimmten thematischen Bereich“13 gilt. Ein besonders zu behandelnder Aspekt ist die Wahrnehmung und Gestaltung aus der Bewegung heraus: Als Wahrnehmungsmodus und Gestaltungsmittel wird dies zunächst am Briefwerk aufgezeigt und ← 11 | 12 → in einem zweiten Schritt in einzelnen lyrischen Werken verfolgt werden.14 Einige Briefe tragen überdies auch essayistische Züge und widmen sich ästhetischen Fragen, wie noch zu zeigen sein wird.15 Als Einschränkung ist zu sehen, dass die Untersuchung fast ausschließlich an Rilkes Perspektive gebunden bleibt, nur stellenweise durch eine Außenperspektive ergänzt werden kann.16

Wenn man in Bezug auf sein lyrisches Werk die statistische Häufigkeit der Einträge Wald, Park und Garten in der Konkordanz17 überprüft und annimmt, dass dies auch Hinweise auf ihre Relevanz liefert, ist festzustellen, dass in den erfassten 2264 Gedichten und 236.806 Wörtern 226 Belege für die Stichwörter Park und Garten vorliegen, 142 Belege für das Stichwort Wald.18 Vergleicht man diesen Befund mit weiteren Begrifflichkeiten aus Rilkes Werk, rangiert dort das Lexem Gott (324) an erster Stelle; im Umfeld von Wald, Park und Garten lassen sich – von der Häufigkeit ihres Auftretens her – Begriffe wie Tod (209), Dinge (205) oder Engel (183) feststellen. Dies kann als Impuls verstanden werden, die Relevanz des Wald-, Park- und Gartensujets in Rilkes Werk zu überprüfen.19 Dabei sollen auch seine Gedichte in französischer Sprache einbezogen werden.

Unter der genannten Fragestellung tritt Rilke nicht nur als moderner Promeneur solitaire, sondern auch als Rezipient, vor allem als Leser, in den Blick: Er liest zeitgenössische Autoren, die das Verhältnis des modernen Menschen zur Natur zu ihrem Thema machen, unter anderem Texte des gerade erst entstehenden ← 12 | 13 → „Nature writing“20. Rilke knüpft an die französische Lyrik des 19. Jahrhunderts und die Kunst des Dix-huitième an. Auch als „Schreibender“ erscheint Rilke, wenn er im Hinblick auf Wald, Park und Garten über die Rahmenbedingungen und Rituale seiner Kreativität Auskunft gibt.

Das umrissene Themenfeld ist werkimmanent mit den zentralen Themen Rilkes, etwa der „‚Bejahung des Lebens‘“21 verbunden. In seiner programmatischen „Verteidigung und Rühmung des Daseins“, in der dichterischen Vision einer „orphischen“, sich selbst gehörenden Welt spielen die Natur und die Naturbildlichkeit eine entscheidende Rolle und entfalten ein kritisches Potenzial gegenüber den technischen Entwicklungen und den „Glaubenssätze[n] der modernen Zivilisation“22. Die Natur-Thematik und -Bildlichkeit erweist zudem ihre Nähe zu Rilke-Themen wie Kindheit23 und Liebe24: Auch in ihnen geht es um den Entwurf geschlossener, in sich selbst ruhender Existenzformen. Die bereits erwähnte „Suche nach optimalen Werk-Bedingungen“25 in der unmittelbaren Umgebung des Künstlers verweist noch einmal auf eine weitere wichtige Rilke-Thematik: die „Person und Existenzform des Künstlers“.26 Die im skizzierten Untersuchungsbereich beschriebene „Konstitution von ‚Welt‘ durch Wahrnehmung“27 ist, wie Unglaub bemerkt, geradezu eine „Obsession“ Rilkes, für dessen Spätwerk Zsellér bereits eine „Poetologie der Wahrnehmung“28 herausgearbeitet hat. Wald, Park und Garten stehen außerdem mit dem von Alberti und Dieterle untersuchten Problem der „Entwurzelung“ und der europaweiten Suche nach Orten, die der dichterischen ← 13 | 14 → Produktion Impulse verleihen können bzw. an denen sich leben lässt, im Zusammenhang.29 Über Rilkes Lebensweise und sein Ringen um Gesundheit ergeben sich überdies Querverbindungen zur Lebensreform und Naturmedizin der Jahrhundertwende.

Nach Wiggershaus spielt in dieser Epoche zudem die Frage nach Funktion, Gestalt und Stellenwert von Garten und Park eine besondere Rolle. Das Spektrum reiche von „Refugien aristokratischer Individuen“ über „moderne Villengärten“ bis hin zum Volkspark, der der sozialen Integration dienen sollte, oder zur Gartenstadt als „integralem Siedlungsprojekt“30:

„Kaum je trat die Spannweite der Vorstellungen, die sich mit ‚Garten‘ und ‚Park‘ verbinden, so deutlich zutage wie zu jener Zeit […]. Garten und Park können wie ein exterritorialer Schauplatz erscheinen, auf dem sich Unter- und Aufgehendes begegnen, Natur und Kultur in ein neues Verhältnis zueinander treten, soziale Umwertungen einen indirekten und abgemilderten Ausdruck finden.“31

Diese These soll im Hinblick auf Rilke noch einmal besonders verfolgt werden, auch deshalb, weil sie bei ihm eine europäische Dimension aufweist. In Verbindung steht sie mit der spezifischen Zeitwahrnehmung des Fin de Siècle.

1.2 Fragestellung, Textgrundlage

Von der Fragestellung her geht es zunächst darum, inwiefern Wald, Park und Garten Themen- und Interessenschwerpunkte für Rilke sind, außerdem darum, welche Bedeutung und Funktion ihnen in den unterschiedlichen Phasen seiner Biographie und seines Werks zukommt. Weiterhin sollen der Gegenstand der Wahrnehmung und der Wahrnehmende sowie die Art und Weise der Wahrnehmung, aber auch die erkennbaren Rollen untersucht werden. Die Gewichtung der Wald-, Park- und Garten-Aspekte innerhalb der Chronologie des Briefwerks und seiner unterschiedlichen Adressaten bzw. in den Phasen des literarischen Werks und der Schriften ist zu prüfen, weiterhin die entsprechende künstlerische Gestaltung, ihre jeweilige Funktion und ihr Kontext. Wald, Park und Garten sind dabei sowohl stoffliche Vorlage, Teil der empirischen Wirklichkeit, als auch Teil des Kunstwerks. Die Entwicklungsprozesse, ← 14 | 15 → Konstanten und Veränderungen dieser Aspekte sollen schließlich aus einer Gesamtschau beschrieben werden. Fotos, die Rilke in Wald, Garten Park zeigen, sowie historische Ansichtskarten werden zudem in die Untersuchung einbezogen.

Die Arbeit stützt sich deshalb bei den Rilke-Texten und -Dokumenten auf die Werkausgabe und die kommentierte Werkausgabe (einschließlich der Schriften und französischen Gedichte), die vorliegenden Briefausgaben, die Tagebücher der Frühzeit, das Tagebuch Nr. 1, eine Postkarte aus der Sammlung Monacensia, im Bereich der Rilke-Fotos auf das Schweizerische Rilke-Archiv in Bern.

1.3 Forschungsbericht

Die Fülle und Vielfältigkeit der Sekundärliteratur über Rilke bringt es mit sich, dass der folgende Forschungsbericht keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Vornehmliches Ziel ist es zunächst einen chronologischen Überblick über relevante Forschungsbeiträge zu liefern, die sich der Frage nach der Wahrnehmung und Gestaltung von Wald, Park und Garten bei Rilke widmen, um den Ansatzpunkt dieser Arbeit genauer beschreiben zu können. Die Hauptpunkte der Gesamtgliederung liefern das Raster für den Aufbau des folgenden Abschnitts.

Die deutsche Wald-Lyrik wird in Arbeiten von Baumgart (1936)32 und Fondi (1941)33 untersucht, die während des Nationalsozialismus entstanden sind. Neben der Anthologie von Lindemann (1985)34 entstanden im Kontext der Berliner Ausstellung Die Deutschen und ihr Wald (2011)35 neuere Publikationen.

Zu Park und Garten als literarischem Motiv sind auf einer allgemeinen Ebene bereits zahlreiche Untersuchungen vorgelegt worden. Daemmrich (1987)36 ← 15 | 16 → behandelt die Motive Garten bzw. Park37 und Landschaft38, der Wald39 erscheint nur als Unteraspekt des Motivs „Grenze“. Butzer und Jacob (2008)40 untersuchen die symbolische Dimension von Garten und Wald.41

Längsschnittuntersuchungen mit zahlreichen Belegen bietet die Dissertation von Hans Ruppe (1930)42, deren Schwerpunkt aber kaum Bezüge zur vorliegenden Fragestellung eröffnet. Untersuchungen zum Motiv des Gartens in der Lyrik um 1900 legte bereits Koebner (1978)43 vor, der auch Rilkes lyrisches Werk breit berücksichtigt. Typisierend und weitere literarischen Epochen einbeziehend arbeiten Marsch (1986)44, Jens (2004)45 und Krzywkowski (2004)46. Seehafers (2000)47 Garten-Anthologie sei ebenfalls erwähnt.

Zum Thema Landschaft bei Rilke ist zunächst Damians Aufsatz über „Rilkes Gestaltung der Landschaft“48 (1938) zu nennen. Damian setzt bei Rilkes Schrift „Über die Landschaft an“ und entfaltet auf dieser Grundlage drei Stufen des Erlebens und Gestaltens der Landschaft bei Rilke. Er reflektiert die Spannung zwischen empirischer und imaginierter Landschaft und arbeitet Bewegungsphänomene heraus. Damian zeigt außerdem Querverbindungen zur ← 16 | 17 → Biographie Rilkes, zu seinem Briefwerk und seinen Schriften sowie zur Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts auf. Ein Ausblick auf das Spätwerk Rilkes bildet den Schlusspunkt der Überlegungen. Sandford (1980)49 analysiert „Landscape features“ und arbeitet den Park und das Wallis als Rilkes favorisierte Landschaften heraus. Wermke (1990)50 beschreibt auf der Grundlage der Briefe vier wichtige Landschaftsbilder (Russland, Paris, Spanien, Wallis) und entwickelt daraus einen methodischen Ansatz zur Interpretation der zeitgleich entstehenden Lyrik. Die Arbeiten von Wocke (1940)51, Pettit52 (1983) und Storck53 (2000) legen den Fokus zudem auf spezielle Landschaften: auf Italien (und darin: auf Viareggio), auf Worpswede bzw. den Schwarzwald. Ihr Interesse gilt u.a. dem Zusammenhang von Biographie und Werk. In diesem Zusammenhang sind auch die Heimatforschungen Schmidts54 (1984) zu nennen.

Zum Verhältnis des frühen Rilke zur Natur legt Demetz55 bereits 1953 Thesen vor, deren Nachwirkungen in der Rilke-Forschung deutlich erkennbar sind. Löwenstein56 (2004) bietet dazu vielfältige Belege aus dem Frühwerk. Müller57 (1971) reflektiert das Verhältnis von Natur und Individuum in der frühen und mittleren Werkphase. Beide zeigen die Entwicklung von einer harmonischen Ganzheit zu einer spannungsvollen Entfremdungssituation auf. Für die Naturthematik in der französischsprachigen Lyrik Rilkes liegt neben ← 17 | 18 → der Dissertation von Junge (1956)58 eine Untersuchung von Böschenstein59 (1998) vor.

Für die Lyrik der mittleren Phase konnte auf die Einzelinterpretationen bzw. die Untersuchung des zyklischen Gefüges der Neuen Gedichte von Bradley (1967, 1976)60 zurückgegriffen werden. Interpretationen zum Zyklus „Die Parke“, der im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen wird, finden sich bei Lettau (1959)61, Dieckmann (1963), Stewart (1966)62 und Sheppard (1972)63.

Die Impulse der Kunstszene rund um Versailles skizziert Schoolfield (2009), der als einer der wenigen Forscher auch Henri de Régnier im Zusammenhang mit Rilke erwähnt.64 Über die Rilke-Forschung hinaus sei darauf hingewiesen, dass Versailles durch neuere französische Sekundärliteratur bzw. Kataloge als Impulsgeber für Rilke anschaulich wird, u.a. durch die Publikationen von Gendre (2003) und Léonard-Roques (2005).65 Die Versailler Bildzyklen von Alexander Benois, die Rilke zumindest teilweise kannte, sind zudem in einer neueren russischen Publikation (2010) greifbar.66 Die Forschungsliteratur zu Spezialaspekten wird im jeweiligen Kapitel aufgeführt.

← 18 | 19 → Ein besonderes, abschließend zu nennendes Phänomen ist die Beliebtheit von aufwendig gestalteten, bebilderten Rilke-Anthologien. Dies trifft besonders auf die Park- und Gartenmotivik zu, für die Waldmotivik liegt aber noch nichts Vergleichbares vor.67 Wie sich die Tendenz zur Fiktionalisierung entwickelt (d.h. die Wahl von biographischen Phasen bzw. eines mit Rilke verbundenen Parks als Romanschauplatz), bleibt abzuwarten.68

1.4 Methodik

Die Arbeit verfolgt den Ansatz, in drei Längsschnitten, jeweils durch die Briefe, die Dichtungen, Schriften und Tagebuchnotizen die Naturwahrnehmung und -gestaltung Rilkes, die Übergänge und Spannungen von Natur, Kunst und Epoche, zu untersuchen. Voraussetzung dafür war die Erstellung eines Textkonvoluts, vor allem von Briefpassagen und Gedichten.

Innerhalb der Briefstellen, die im thematischen Fokus dieser Untersuchung liegen, waren die von besonderem Interesse, die eine hohe innere Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit und erkennbare Gestaltung aufweisen. Diese sollen deshalb auch wie Werke in Kleinform, als eigenständige Stufe im teilweise mehrteiligen Prozess der Verschriftlichung angesehen werden. Storck beschreibt diese Briefpassagen in seiner grundlegenden Untersuchung „fast schon ‚Kunst-Ding‘ geworden[e] Schilderungen“69. Andere Autoren wählen die Bezeichnungen „Dinggedicht auf Prosa“70, „Prosaminiatu[r]“71, oder „Sprachetüd[e]“72; sie untersuchen „deskriptive Briefe“73 oder „umfangreich[e] Landschaftsbeschreibungen bzw. ‚Landschaftsbilde[r]‘“74. Da in der Forschung dafür keine einheitliche Terminologie vorliegt, soll im Folgenden von „deskriptiven Briefpassagen“ gesprochen werden.

← 19 | 20 → Diese Vorgehensweise bringt die Frage nach der Verbindung von Briefpassage und Gesamtbrief mit sich, die zumindest exemplarisch berücksichtigt werden soll. Unter der speziellen Zielsetzung dieser Untersuchung mussten Briefstellen neu kommentiert bzw. bereits vorhandene Briefkommentare ergänzt werden.

Folgt man Dieterle, ist die auch poetologische Dimension der in den Briefen beschriebenen Orte und Ortswechsel zu beachten. Dieterle legt im Hinblick auf Rilke eine formale Definition des „poetischen Ortes“ („lieux poétique“75) vor und wendet sie beispielhaft auf Orte aus Rilkes Biographie und Werk an. Seine Reflexionen versteht er als Teilbereich einer „Poetik des Ortes“. Rilke rechnet er dabei zu der europäischen Dichtergeneration um 1900, die durch einen Verlust traditioneller Bindungen, durch Entwurzelung gekennzeichnet sei („écrivains déracinés“76). Die Suche nach einem passenden Ort sei insofern nicht nur ein immer wieder konkret zu lösendes Problem ihrer Biographie, sondern auch eine Grundvoraussetzung ihrer literarischen Produktion. Der Aufenthalt in „logements à caractère éphémère, transitoire“77 zeigt sich als Konsequenz und mögliche Bedrohung dieser Lebensform.

Mit dem Konzept des „poetischen Ortes“ wird ein Prozess, der die empirische Welt und das dichterischen Werk umfasst bzw. schaffens- und werkästhetische Aspekte aufweist, beschreibbar. Dieterle benennt zunächst das Phänomen, dass bestimmte Orte oder Landschaften eine besondere Qualität aufweisen und zu ihren Betrachtern „sprechen“.78 Dabei sind graduelle Unterschiede festzustellen: Manche Orte entfalten ihre Wirkung nur auf den einzelnen Dichter, die touristischen aber auf alle und jeden. Eine besondere Rahmenbedingung sei, auch bei Rilke, die Begegnung mit Orten in einer anderen Kultur. Diejenigen Orte, die einen „Widerhall“ im Bewusstsein erzeugen („retentissement […] dans une conscience“79), können inspirierend wirken und einen literarischen Prozess in Gang setzen („propice à l’inspiration“80; „propice à la poésie“81). Die Umsetzung in ein Werk sei letztlich eine Transformation in sprachliche Bilder („la mise en images“82). Diesen Begriff ← 20 | 21 → des „Widerhalls“83 („Retentissement“84) übernimmt Dieterle von Bachelard. Stützt man sich auf Alker85 oder, außerhalb des Bereichs der Literaturwissenschaft, auf Günter86 oder Augé, lässt sich Dieterles Ansatz ergänzen und in weitere Kontexte einordnen. Bei den poetischen Orten muss es sich beispielsweise nicht immer nur um „haut lieux“87 handeln, auch die „kleinen Orte“88 oder „poetischen Orte der Natur“89 können, wie belegt wird, ihre Wirkung entfalten. Für Rilke benennt Dieterle exemplarisch drei „poetische Orte“ (ohne sie allerdings vom Begriff der Landschaft abzugrenzen): Paris, Spanien und das Wallis.90 Mit Ausnahme von Spanien werden sie auch in dieser Untersuchung zum Thema, weitere werden ergänzt. Über Dieterle hinaus sei darauf hingewiesen, dass sich die Reflexion über den Ort und seine poetologische Bedeutung auch an Rilkes Korrespondenz anbinden bzw. von ihr herleiten lässt: Das Spektrum der Belege reicht dort von bekannten „Welt-Orte[n]“91 bis zur unscheinbaren, nur für ihn selbst relevanten „stillen Stelle“92.

Krechel beurteilt als Schriftstellerin die Ortswechsel und „poetischen Orte“ als Stimulans für Rilkes Schreibprozesse kritisch, spricht den Briefen in diesem Zusammenhang aber eine Vorbereitungs- und Ersatzfunktion für eigentlich angezielte lyrische Werk zu:

„Rilkes exzessive Ortswechsel: eine Camouflage des Schreibwiderstandes, dem die Gedichte nicht mehr abzuringen waren, wohingegen jeder Ortwechsel eine Flut von Briefen über eben diesen Wechsel heraufbeschwört. Es ist ja illusionär, dass die Einnistung an einem schönen Ort den guten Text hervortreibe.“93

← 21 | 22 → Der Wortschatz dieser Briefe ist nach Storck „Rohmaterial für die lyrischen Sprachverkörperungen“, sie besäßen aber dennoch „Eigencharakter“94. Wie von Wermke angeregt, soll die Bildlichkeit der Briefe zur Interpretation der in ihrem Umfeld entstandenen Lyrik genutzt werden.95

Methodisch bietet sich bei dieser Themenstellung an, das Hermeneutisch-Philologische durch den Blick auf den historischen und kulturellen Kontext, durch Intertextualität und Intermedialität zu ergänzen.96 In die Darstellung wurden deshalb Rilkes in brieflichen Notizen oder Rezensionen dokumentierte Lektüre (z.B. Prosatexte von Thoreau, Emerson, Jacobsen, Bang, Lyrik von Stefan George, Schaukal) einbezogen.

Pabst regt diesen Ansatz auch für die Rilke-Forschung, insbesondere für die mittlere Werkphase, an und verweist dabei auf die bereits vorliegenden Forschungen Unglaubs.97 Auf allgemeiner Ebene liegen bereits Überlegungen zur Rolle der „bildliche[n], […] auf Fotografien beruhende[n] Repräsentation eines Ortes“98 für die Literatur vor. In die Darstellung wurden deshalb zeitgenössische Reiseführer und Bildquellen integriert. Rilke selbst griff für Hintergrundinformationen und Reisehinweise auf den „Baedeker“ zurück. Vor allem mit der Ansichtskarte, als am Ende des 19. Jahrhunderts aufkommendem, auch von Rilke genutztem Massenmedium, lassen sich die Beschreibungen des Textkonvoluts belegen, differenzieren, auf eine selektive Wahrnehmung oder gar auf die Gestaltungsweise hin befragen.99 Bereits bekannte Fotografien von Rilke sollen unter ← 22 | 23 → der skizzierten Fragestellung neu ausgewertet werden, historische Ansichtskarten und Fotos werden eingesetzt, um Rilkes briefliche Äußerungen zu überprüfen und den zugehörigen Epochenkontext zu entfalten.

Um die drei Hauptlinien dieser Untersuchung unter einem übergeordneten poetologischen Aspekt zusammenzuführen, wird zudem auf Dieterles Ansatz des „poetischen Ortes“ rekurriert. Im Blick auf den Aspekt „Natur“ werden v.a. im Schlusskapitel Stahls Forschungen zum „Naturbild“ bei Rilke bzw. Seels „Ästhetik der Natur“ einbezogen.100

1.5 Aufbau

Den drei zentralen Begriffen der Untersuchung wird jeweils ein Kapitel (2., 3., 4.) zugeordnet.101 Die Abfolge der drei Kapitel (Wald, Garten, Park) orientiert an einer Linie von Natürlichkeit zu Künstlichkeit. Innerhalb dieser Kapitel werden zunächst die Briefe und Tagebuchnotizen, dann das literarische Werk behandelt, wie es vielfach auch der Verschriftlichungsprozess nahelegt. Von Rilkes Werken aus wird dann eine Erweiterung zum Epochenkontext, zu weiteren Autoren vorgenommen, es folgt jeweils ein systematisierender Auswertungsteil.

Der genauere Blick auf die Gliederung der Einzelkapitel zeigt, dass das erste Hauptkapitel zunächst biographische Stationen der Waldwahrnehmung Rilkes (von Böhmen bis zur Schweiz) darstellt (2.1) und dies mit Beispielen seiner lyrischen Werke kombiniert. Systematische Ergänzungen (2.1.10) schließen sich an.

Zwei Aspekte, die bereits im Abschnitt 2.1 angelegt sind, werden anschließend gesondert untersucht: Rilkes Lektüre dieser Jahre (2.3), in der die Natur oder der Wald einen Themenschwerpunkt bilden, sowie Waldgedichte anderer Autoren, vom Sturm und Drang bis zur Jahrhundertwende (2.4), um die bereits vorliegenden Ergebnisse zu vertiefen und zu kontextuieren. Die frühen Erzählungen Rilkes zeigen eine größere Nähe zu den Briefen als seine Gedichte, sie werden deshalb in einem eingeschobenen, separaten Kapitel untersucht (2.2).

← 23 | 24 → Das Garten-Kapitel (3.) bietet zunächst einen biographischen Überblick (3.1) und stellt anschließend (3.2) vier Gärten vor, denen die besondere Aufmerksamkeit Rilkes galt (was schon an der Quantität der brieflichen Belege erkennbar ist). Weiterhin geht es um ihre Funktion für den Dichter sowie um ihre Wahrnehmung und Gestaltung im Briefwerk. In einem weiteren Abschnitt (3.3) werden Beispiele für Rilkes Garten-Gedichte aus allen Werkstufen, von Prag bis Muzot, vorgestellt. Weil die Garten-Motivik in der deutschen Literatur bereits gut erforscht ist (s. 1.3), wurde auf eine detaillierte Darstellung des Epochenkontexts verzichtet.

Im Blick auf das Thema Park entsteht im vierten Kapitel durch die Kategorien „Öffentlichkeit“ (4.1), „Privatheit“ (4.2) sowie als Unterkategorie „formale“ und „nicht-formale“ Parktypen das Gliederungsraster. In diesem Zusammenhang erhalten die „deskriptiven Briefpassagen“ einen wichtigen Stellenwert. Rilkes theoretische Beschäftigung mit dem Landschaftspark wird in 4.3 am Beispiel von essayistischen bzw. ästhetischen Briefen aus dem Briefwechsel mit Gräfin Sizzo ergänzt. Es folgt, ausgehend vom Park-Sujet, ein Blick in die „Briefe an Cézanne“, auf die Beschäftigung mit Vincent van Gogh und Paul Cézanne (4.4).

Nach dieser Beschäftigung mit dem Briefwerk liegt der nächste Schwerpunkt der Untersuchung auf Rilkes Dichtungen. Drei Werke, die Weiße Fürstin, der Cornet und die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge werden zunächst untersucht, in den der unter Park-Aspekt eine erkennbare, aber untergeordnete Rolle spielt (4.5-4.7). Ein wichtiger Akzent wird wird auf dieInterpretation seiner Gedichte (4.8), vor allem auf die Park-Gedichten der mittleren Phase gelegt. Diese lyrischen Werke werden anschließend in den Kontext der Jahrhundertwende eingeordnet (4.9).

Den skizzierten Hauptkapiteln wird eine zweiteilige Einführung vorgeordnet (1.). Nachdem das Erkenntnisinteresse, die Methodik, der Aufbau und die bisherige Forschung beschrieben worden sind (1.1-1.5), werden zunächst die zentralen Begrifflichkeiten der Fragestellung entfaltet (1.6.1). In einem zweiten Abschnitt (1.6.2) wird an drei Brennpunkten eine grundlegende Kontextuierung vorgenommen, die darlegt, was nahezu alle behandelten Texte der folgenden Kapitel prägt. Zunächst wird über das wahrnehmende Subjekt reflektiert (1.6.2.1), für das Rilke in seiner Gegenwart Muster und Rollenangebote vorfand. Ein Abschnitt über den ästhetischen Blick dieses wahrnehmenden Subjekts, über die Konstitution von Landschaft, schließt sich an (1.6.2.2). Als Spezialfall erscheint Versailles in seinen vielfältigen Bedeutungsdimensionen (1.6.2.3). Abschließend wird die epochenspezifische Wahrnehmung im Spannungsfeld von Retrospektive und Gegenwart beschrieben (1.6.2.4). Dieser Einführungsteil liefert ein erstes Raster für die nachfolgenden Auswertungen am Ende der ← 24 | 25 → Hauptkapitel (2.5, 3.4, 4.10). Diese Resümees werden in einem übergreifenden Auswertungsteil zusammengeführt (5.), der Bogen zu den anfangs gestellten Problemfragen zurückgeschlagen. Rilkes Schriften werden in die genannten Abschnitte einbezogen.

Die in den vorhergehenden Abschnitten ihren Grundlinien beschriebene Untersuchung wurde 2014 der Fakultät für Geistes- und Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig als Qualifikationsschrift (Dissertation) zu Erlangung des Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.) vorgelegt. Prof. Dr. Erich Unglaub sei für die Betreuung gedankt.

1.6 Begrifflichkeiten und prägende Kontexte

Im Folgenden werden zunächst die zentralen Begrifflichkeiten der Fragestellung entfaltet, anschließend wird an drei Brennpunkten umrissen, was nahezu alle behandelten Texte der folgenden Kapitel prägt, ohne immer explizit in ihnen greifbar zu werden. Die Begrifflichkeiten, ihre jeweilige Begriffsgeschichte und Veränderungen lassen ein Raster entstehen, das zur Interpretation bzw. Einordnung der Ergebnisse dienen soll. An ausgewählten Stellen werden Hinweise auf Rilkes Biographie und Werk ergänzt, die auf die folgenden Kapitel vorausweisen.

1.6.1 Begrifflichkeiten

Wald, Park und Garten weisen komplexe Begriffsgeschichten auf, die über die Literaturwissenschaft hinaus auch in den Zuständigkeitsbereich der Gartenkunst und Forstwissenschaft fallen. Schwierigkeiten für die vorliegende Untersuchung ergeben sich aus dem nicht immer konsequenten Gebrauch der Begriffe allgemein und speziell bei Rilke. Wie Rilkes Briefe belegen, gebraucht er die Bezeichnung in ihrer „strengen“ Bedeutung, weiß durchaus zwischen Park und Garten zu unterscheiden.102 Durch die französische Sprache ergeben sich allerdings Unschärfen zwischen dem Gebrauch von „jardin“ und „parc“. Wie Uerscheln und Kalusok feststellen, gibt es in der historischen Gartenkunst keine „strenge Unterscheidung beider Begriffe“103.

1.6.1.1 Wald

← 25 | 26 → In der forstwissenschaftlichen Definition des Begriffs schwingt noch immer mit, dass der Wald einmal unberührte Natur, ein „der Kultur nicht unterworfenes Land“104 war. Dergefühlswert des wortes“ habe sich, so das Grimmsche Wörterbuch, historisch stark verändert: Im Mittelalter gelte der Wald als ein „unwirtlicher ort, wo wilde thiere und böse geister ihr wesen treiben, wo der mensch aber nicht gerne weilt.“ Der Wald ist letztlich „der aufenthalt des landflüchtigen verbrechers, der einsiedler und andrer, die sich aus der gesellschaft der menschen zurückziehen […]. Der Begriff steht insofern „für einen ort, wo die menschliche sitte und gesittung noch keine stätte gefunden hat […].“105

Der Mensch und seine Wohnstätte dienen als Unterscheidungsmerkmal zwischen dem „großen, meist siedlungsfernen“106 und dem „lichten, mit Laubholz (Wald-Laub) bestockten Wald, von kleinem Umfang und in Siedlungsnähe gelegen.“ Dieser wird als „Nieder- oder Mittelwald oder Kopfholzbetrieb“107 charakterisiert. Entsprechend versteht das Grimmsche Wörterbuch unter diesem Begriff „eine gröszere, dicht mit hochstämmigem holz, das aber mit niederholz untermischt sein kann, bestandene fläche.“108 Der Wald unterscheidet sich vom „Hain“, der einen geringeren Umfang hat und wo „die bäume auch weiter auseinanderzustehen pflegen“, außerdem vom „Gebüsch“, das aus Niederholz besteht.

Details

Seiten
427
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653053289
ISBN (ePUB)
9783653973327
ISBN (MOBI)
9783653973310
ISBN (Hardcover)
9783631659304
DOI
10.3726/978-3-653-05328-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Januar)
Schlagworte
Naturlyrik Naturästhetik Französischer Park Landschaftsgarten Neue Gedichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 427 S., 49 s/w Abb.

Biographische Angaben

Alfred Hagemann (Autor:in)

Alfred Hagemann studierte Germanistik und Katholische Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Nach seinem Staatsexamen promovierte er an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina Braunschweig.

Zurück

Titel: Natur bei Rainer Maria Rilke
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
430 Seiten