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Die Gesellschaft der Menschen

Ihre Entstehung, Funktionsweisen und Zukunftsperspektive- Eine energetische Gesellschaftstheorie

von Dietrich Droste (Autor:in)
©2015 Monographie 406 Seiten

Zusammenfassung

In seinem neuen Buch vermittelt der Autor mit historisch-soziologischem und zugleich naturwissenschaftlichem Zugriff die grundlegenden Funktionsweisen menschlichen Gesellschaftslebens. Dessen Entstehung und Funktionieren führt er an konkreten Beispielen aus Frühgeschichte, Geschichte und Gegenwart auf die zugrunde liegende Notwendigkeit dauernden Energieerwerbs aus der jeweiligen Umwelt des Menschen zurück. Wie dieser Energieerwerb in zunehmend naturfernem, einvernehmlichem Gütertausch erreicht wird, zeigt er an Beispielen gesellschaftlichen Lebens wie Freundschaft, Ehe, Nachbarschaft, Geselligkeit, Spiel, Sport, Religion, Kunst, Kultur, Wirtschaft und Politik in seiner innovativen Gesamtschau interdisziplinär auf.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Inhalt
  • 1 Einleitung
  • 2 Entstehung der Menschengesellschaft
  • 3 Entstehung der Religion als wichtiger Fortentwicklung der Menschengesellschaft
  • 4 Säkularisierung als Folge kirchlicher Korruption, gesellschaftlicher Emanzipation und staatlicher Machtausweitung im Gefolge von Kriegen
  • 5 Verschiedene Aspekte des Energieaustauschs in Menschengesellschaften
  • 6 Die Gesellschaft der Menschen als deren einvernehmlicher Energieaustausch
  • 7 Arbeitsteilung und technischer Fortschritt als Verstärker des gesellschaftlichen Energieaustauschs und -gewinns, aber auch sozialer Ungleichheit
  • 8 Vergesellschaftung von Religion und Staat
  • 9 Die Systemfrage
  • 10 Ursachen neuzeitlicher Systemveränderungen
  • 11 Arbeit, Zeit und Raum als gesellschaftliche Produkte
  • 12 Energiesparendes Verhalten im Alltag
  • 13 Geselligkeit, Scherz, Witz und Comic als belebende Elemente gesellschaftlichen Lebens
  • 14 Gruß, Kuss und Geschenk als Austausch fördernde Rituale
  • 15 Spiel und Sport als Regenerierungsmittel entwickelter Gesellschaften
  • 16 Die Künste als sozialpsychologische Sanierungsmittel in gesellschaftlichen Krisen
  • 17 Öffentliche Einrichtungen zur Sicherung und Förderung des gewinnbringenden Energieaustauschs
  • 18 Kriminalität
  • 19 Politik als Vermittlung zwischen Zivilgesellschaft und Staat
  • 20 Die Wirtschaft als gesellschaftlicher Energielieferant und internationaler Friedensstifter
  • 21 Gesellschaftliche Vereinigungen als Mittel zur Durchsetzung persönlicher und politischer Anliegen
  • 22 Kultur als gesellschaftliche Pflege wohltuender Lebensführung
  • 23 Fehlentwicklungen in gegenwärtigen Wohlstandsgesellschaften
  • 24 Die Zukunftsperspektive der Menschengesellschaft
  • 25 Register

← 6 | 7 → 1 Einleitung

Die von Tier- und Pflanzengesellschaften zu unterscheidende Menschengesellschaft ist ein ganz außergewöhnliches wissenschaftliches Objekt. Dies deshalb, weil sie von uns Menschen einerseits fast dauernd erlebt, erlitten und mitgestaltet, andererseits durch Medien aller Art gewissermaßen von außen betrachtet werden kann. Dabei sind bei diesem Objekt so unterschiedliche Zeugnisse, Wort- und Bilddokumente aussagekräftig wie von Menschen längst untergegangener Kulturen hinterlassene Werkzeuge, Waffen, Gebrauchsgegenstände und Bauwerke, weiterhin Schriftdokumente wie das frühe sumerische Gilgamesch-Epos oder die Homerischen Epen, alle erzählende oder auch lyrische Literatur bis zum heutigen Tag, alle Bildergeschichten von den steinzeitlichen Höhlenmalereien bis zum letzten Fernsehfilm, aber natürlich auch musikalische oder Bildwerke mit ihren Aussagen über Handlungen, Stimmungen, Gefühle und Rhythmen bei gesellschaftlichen Aktivitäten verschiedenster Art. Von großer Gesellschaftsrelevanz waren selbstverständlich zu allen Zeiten auch Gesetzbücher, deren ältestes erhaltenes im sumerischen Reich Ur III des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entstand und den soziologischen Betrachter ebenso zu interessieren hat wie gerade verabschiedete Gesetzesvorlagen eines gegenwärtigen Parlaments. Von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung waren und sind zudem alle religiösen Verkündigungswerke, angefangen vom Alten Testament bis zu den Beschlüssen des II. Vatikanischen Konzils, vom Koran bis zur letzten Fatwa oder vom Sanskrit bis zur Gegenwartspredigt eines buddhistischen Mönchs, um nur diese zu nennen. Außerdem geben naturgemäß auch alle Geschichtswerke in der einen oder anderen Weise Auskunft über Menschengesellschaften der Vergangenheit, daneben auch Formen früherer Berichterstattung wie erhaltene Urkunden, Briefe, Reiseberichte und Zeitungsartikel. Dasselbe gilt naturgemäß für heutige Nachrichten und Dokumente in Printmedien, Fernsehsendungen oder im Internet. Selbstverständlich gehört zu diesem vielgestaltigen Bild der Menschengesellschaft auch alles, was die Soziologie über dieses ihr wissenschaftliches Objekt geschrieben und geäußert hat.

Niklas Luhmann als einer ihrer bekanntesten deutschen Vertreter hat wohl auch wegen dieser Fülle von ‚Selbstbeschreibungen‘ der Menschengesellschaft in seinem Spätwerk Die Gesellschaft der Gesellschaft die Auffassung vertreten, dass die Soziologie eigentlich nur noch zu ermitteln und zu analysieren habe, wie sich die moderne Gesellschaft selbst beschreibe. Mit diesem an Hegels oberstem Erkenntnisziel, den ‚Weltgeist‘ nicht nur „an sich“, sondern auch „fürsich“, ← 7 | 8 → also im menschlich zentrierten Selbstbewusstsein zu erfassen, wollte Luhmann offenbar der Soziologie den rechten Weg zur grundlegenden Erkenntnis der Gesellschaft weisen. Dies erscheint angesichts der Luhmannschen Fragestellung nach dem ‚Wie‘ der ‚Gesellschaftsbeschreibungen‘ eine von vornherein kulturspezifisch verengte Fragestellung bei der Erforschung menschlicher Gesellschaft, ist aber auch deshalb illusorisch, weil Luhmann die Gesellschaft als Abstraktum, nämlich als von den Menschen, die sie bilden, gedanklich zu trennende „Kommunikation“verstand, die als „Autopoiesis“, als ein in Gegenwart von Menschen sich selbst erschaffendes Gebilde sei, dessen Zustandekommen und Zweckbestimmung in seiner Theorie dabei unklar und wissenschaftlich ungreifbar bleiben.1

Auch Max Weber, dem vielberufenen Nestor der deutschen Soziologie, gelang es nicht, Ursachen und Zielsetzung menschlicher Gesellschaftsbildung klar zu bestimmen. Er operierte stattdessen mit dem ominösen Begriff des „Sinns“ gesellschaftlichen Handelns, bekennt in § 1 seiner „Soziologischen Grundbegriffe“ aber recht offen: „Inwieweit die problematische Hoffnung besteht, experimentell auch die Existenz > psychologischer < und > sinnhafter < Orientierung [des frühmenschlichen Individuums] wahrscheinlich zu machen, könnte heute wohl selbst der Fachmann kaum sagen.”Das kurz zuvor erwähnte „Erhaltungsinteresse der differenzierten Gruppe“ wird von ihm dagegen nur nebenbei erwähnt, aber nicht weiter als konstitutiv für menschliche Gesellschaftsbildung betrachtet und behandelt.2

Diese Missachtung des Grundbedürfnisses aller Lebewesen nach Erhaltung ihres Lebens durch die beiden genannten, aber auch die meisten anderen Soziologen geht wohl auf die geistesgeschichtliche Fixierung abendländischer Wissenschaft zurück, die im Menschen vor allem ein ‚Geistwesen‘ sah und sieht, das nicht in erster Linie um sein biophysisches Überleben besorgt zu sein, sondern einen höheren Lebenssinn zu erfüllen habe.

Dabei wurde übersehen, dass der Mensch als einzelner und ohne gesellschaftlich erzeugte Hilfsmittel allen seinen tierischen Konkurrenten und möglichen Beutetieren schon bei der Nahrungsbeschaffung weit unterlegen ist und sich auch als robuster homo erectus oder Neandertaler nur gesellschaftlich unter ihnen behaupten konnte. Er war von Anfang an längst nicht so schnell wie seine Beutetiere, ihm fehlten Raubtiergebiss und scharfe Krallen seiner Jagdkonkurrenten, ← 8 | 9 → deren er sich nur mit gesellschaftlich entwickelten und arbeitsteilig erzeugten Waffen erwehren konnte, um nicht selbst zur Beute zu werden. Er konnte nicht fliegen, um Vögel zu erhaschen und hatte kaum eine Chance, ohne spezielle wiederum gesellschaftlich entwickelte Fanggeräte auch nur Fische zu fangen. Seine schließlich gegenüber der gesamten Tierwelt erlangte Überlegenheit beruht allein auf der Kombination von kräftigen und gleichzeitig gelenkigen Armen und Händen mit einem gesellschaftlich hoch entwickelten sprachlichen Kommunikationsvermögen, das anatomisch schon beim Frühmenschen in dessen unverhältnismäßig großem Schädel, also Gehirnvolumen in Erscheinung tritt.3 Mit dieser im Laufe von etwa fünf Millionen Jahren im Überlebenskampf mit ihrer afrikanischen Umwelt entwickelten Stärken-Kombination gelang es den Frühmenschen nach der Erfindung eines ‚Kieselsteinmessers‘4 schließlich, Stoß- und Wurfwaffen aus Holz mit Feuerhärtung und eingelassener Steinspitze zunehmend wirksamer zu gestalten, wie besonders die Funde von Ambrona, Boxgrove und Schöningen aus der Zeit von vor 400 000 bis 300 000 Jahren ausweisen. Auf dem iberischen Fundort Ambrona konnte zudem eine Reihe von mindestens zehn Treibjagden aus jener frühen Zeit nachgewiesen werden, bei denen planvoll eingesetzter Steppenbrand genutzt worden war, um die riesigen Elefanten der heute ausgestorbenen Gattung elefans antiquus in ein Sumpfgebiet zu treiben, wo die halb versunkenen Tiere relativ leicht getötet werden konnten.5 Solche nur in genau geplanter und abgesprochener Gemeinschaftsaktion einer größeren ,Jagdgesellschaft‘ erfolgreich durchzuführende Unternehmung verlangte eine differenzierte sprachliche Verständigung auch und vor allem über die anschließende einvernehmliche Beuteteilung, die durch gleichmäßig verteilte Knochenreste der verschiedenen gemeinsam erlegten Beutetiere an getrennten Essplätzen der an der Treibjagd beteiligten Horden bezeugt ist.6 Die Gesamtheit der Spuren jener frühen Treibjagden belegt neben der damals bereits vorhandenen gesellschaftlichen Kommunikationskompetenz der beteiligten Frühmenschen vor allem auch deren Fähigkeit zu vorausschauendem energetischem Kalkül: Die nur im Herbst mit trockenem Steppengras durchführbaren Feuer-Treibjagden auf Elefanten waren für die gewöhnlich in kleineren Horden andere Beute jagenden Menschen nötig geworden, um im klimatisch damals abgekühlten Europa ← 9 | 10 → die eigenen Körperwärmeverluste im bevorstehenden Winter mit kräftiger und reichlicher Fleischkost ausgleichen zu können. In dieser Lage waren die riesigen Elefanten der genannten Gattung die bestmögliche Beute, deren Fleisch am Feuer getrocknet und geräuchert und so für längere Zeit haltbar gemacht werden konnte. Das hiermit verfolgte energetische Kalkül, das gewiss aus schlechten Erfahrungen vorangegangener Winter geboren wurde, erwies sich als so überlebenswichtig, dass es in Europa, gewiss aber auch in anderen kühleren Regionen des Globus bis in die jüngste Vergangenheit, ja Gegenwart hinein nachgeahmt wurde: Die Bauern Mitteleuropas schlachteten noch vor fünfzig Jahren zum Martinstag am 10. November regelmäßig mindestens eine fette;Martinsgans‘ und ein Schwein, städtische Haushalte ‚kellerten‘ zentnerweise Kartoffeln ein, um im Winter wenigstens über ein Grundnahrungsmittel zu verfügen, und soweit man Gartenobst und -gemüse geerntet hatte, wurde auch dieses gelagert oder ‚eingemacht‘, um im Winter jederzeit ‚etwas Frisches‘ auf den Tisch bringen zu können.

Solche in kühlen Erdregionen über viele Jahrtausende beibehaltenen Energietechniken, die erst durch moderne allgemein verbreitete Kühlgeräte jedenfalls in wohlhabenden Industriegesellschaften überflüssig wurden, beweisen dem Soziologen, dass Menschen schon seit langem energetische Vorsorge betrieben haben und – um auf das frühe iberische Beispiel zurückzukommen – es dabei sehr umsichtig verstanden, mit der Nutzung der im trockenen Steppengras gespeicherten Sonnenenergie, mit der man durch Entzündung den riesigen Elefanten Angst einjagen konnte, sowie der von kinetischer Windenergie, mit welcher der Steppenbrand in die gewünschte Richtung gelenkt wurde, um die Elefanten zielgenau in den Sumpf zu treiben, den eigenen Energieaufwand sowie die eigene Gefährdung bei der Treibjagd entscheidend zu vermindern. So wurden schon vor mehr als 300 000 Jahren Naturkräfte zielbewusst von intelligenten Menschen genutzt, um die voraussehbare Gefährdung der eigenen Energiebilanz durch winterliche Wärmeverluste an die kalte Umwelt mit energiehaltiger Fleischkost aus der Elefantenbeute effektiv auszugleichen.

Wir haben dieses frühgeschichtliche Beispiel bereits hier so detailliert ausgeführt, um unseren anderwärts an vielen historischen Beispielen verifizierten energetischen Betrachtungsansatz7 verständlich zu machen, der folgendermaßen lautet: Menschengesellschaften hatten und haben den Hauptzweck, das ← 10 | 11 → biologische ‚Mängelwesen Mensch‘8, das beispielsweise in Mitteleuropa gegenwärtig im Schnitt täglich etwa 2,8 Kcal Energie aus seiner Umwelt gewinnen muss, um überleben zu können9, vor gefährlichem Energiemangel zu bewahren und der Menschheit so das Überleben zu ermöglichen.

Diese Aufgabe ist, wie wir heute erleben, von den verschiedenen menschlichen Gesellschaften so erfolgreich gelöst worden, dass mehr als sieben Milliarden Menschen die Erde bevölkern, sich mit ihrem dauernd steigenden Energiebedarf mittlerweile allerdings selbst ein Existenzproblem geschaffen haben, wie es nach weitgehender Ausrottung großer Beutetiere durch die erfolgreichen Jäger der Jungsteinzeit schon einmal gegeben war und die Menschen zum mühsamen Ackerbau zwang.10 Abgesehen von kriegerischen Auseinandersetzungen menschlicher Gesellschaften, die einander aufgrund einer mit wachsender Menschenzahl enger gewordenen Erdoberfläche immer häufiger in die Quere kamen und kommen, dabei viele Menschen töteten und nach wie vor töten, besteht dieses Problem im weiterhin ungehemmten Verbrauch der nur begrenzt noch förderbaren fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas, deren Verbrennung außerdem die erkennbar größten Umweltschäden verursacht.11 Über diese vor allem das Klima verändernden Folgen wie steigendem Meerwasserspiegel mit drohender Überflutung großer Küstenstädte und wichtiger Anbaugebiete für Nahrungsmittel dürften sich bei weiter anwachsender Erdbevölkerung schon jetzt beklagte regionale Hungerkatastrophen häufen.12

Selbst wenn sich diese drohende Szenerie mit technisch ermöglichten Sparmaßnahmen auf dem Energiesektor und global ausgeweiteter hochtechnologischer Gewinnung und Nutzung erneuerbarer Energien sowie genetisch optimierter Nahrungsmittel wenigstens mildern lässt, zeigt der Blick auf den bereits frühmenschlichen wie wiederum gegenwärtig drohenden Energiemangel, dass dessen Bewältigung die primäre Aufgabe menschlicher Gesellschaften war und bleibt. Daraus ergibt sich, dass deren Regelungen und Einrichtungen zuerst und vor allem aus dieser ihrer Hauptfunktion dauerhafter Sicherung einer mindestens ausgeglichenen Energiebilanz gegenüber der jeweiligen Umwelt zu verstehen sind.

← 11 | 12 → Dabei muss gleich einleitend darauf aufmerksam gemacht werden, dass ‚Energie‘, deren drohender Mangel und dessen Überwindung damit im Angelpunkt der folgenden Untersuchung stehen werden, eine durchaus geheimnisvolle und komplexe Erscheinung ist, die nach den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften in verschiedenen Formen als Wärme, kinetische Kraft, elektromagnetische Spannung, Gravitation, ‚Atomenergie‘, Magnetismus, chemische Bindung in molekular gebildeten Stoffen, nach Freud und neuerdings Kahneman aber auch als „psychische“ bzw. „mentale Energie“13 auftreten und sich manchmal schlagartig von einer dieser Erscheinungsformen in andere umwandeln kann, ihrem Gesamtbetrag nach im geschlossenen System aber nicht zu vermehren oder zu vermindern ist.14 Weiterhin bleibt zu bedenken, dass nach der inzwischen mehrfach bestätigten und nicht mehr ernsthaft bezweifelten Theorie vom ‚Urknall‘, bei dem vor etwa 13,8 Milliarden Jahren eine riesige als ‚Urkraft‘ bezeichnete Energieladung freigesetzt wurde, die erst nach Sekundenbruchteilen in sogenannte ‚Teilchen‘ zerfiel, aus denen sich in längeren Prozessketten Atome, Moleküle und die vielerlei Erscheinungen unseres Weltalls wie auch wir selbst entwickelt haben, unter ‚Energie‘ also nicht nur die Heiz-, Motor- oder Elektrizitätskraft unseres Industriesystems zu verstehen ist, sondern die Ursubstanz alles dessen, was wir überhaupt wahrnehmen können.15

← 12 | 13 → Daraus ergibt sich, dass eine im Kern energetische Gesellschaftstheorie, wie sie im Folgenden vorgestellt wird, im Anschluss an Sigmund Freud und Daniel Kahneman auch geistig-seelische Prozesse als energetische betrachtet16 und deshalb die hergebrachte Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ablehnt. Damit entfällt für sie auch Max Webers Suche nach dem „Sinn“ von Gesellschaft oder der Realitätsgehalt konkreter Vorstellungen eines ‚Jenseits‘. Dies bedeutet, wie das dritte Kapitel zeigen wird, nicht etwa Missachtung oder Abwertung von Religion, dieser für menschliche – im Unterschied zu tierischen – Gesellschaften grundlegenden und außerordentlich wichtigen Regelungseinrichtung jeder Menschengesellschaft. Unsere Ablehnung jener künstlichen Wissenschaftstrennung besagt nur, dass Geist, Psyche und Körper jedes Menschen hier und im Folgenden als Einheit aufgefasst und behandelt werden, die Vorstellung einer persönlich zuzuordnenden ‚unsterblichen Seele‘ dagegen als religiöse Hilfskonstruktion, nicht aber als Objekt wissenschaftlicher Forschung betrachtet wird.

Was die Methodik unseres Vorgehens betrifft, so ziehen wir zur Erklärung gesellschaftlicher Erscheinungen und der Menschengesellschaft als ganzer weniger die traditionelle soziologische Literatur und ihre Ergebnisse heran, verzichten auch ganz auf eigene im Ergebnis immer fragwürdige soziologische Befragungen, sondern beziehen uns in dieser Hinsicht auf publizierte Ergebnisse öffentlicher Einrichtungen und auf allgemein bekannte und dadurch von jedem überprüfbare gesellschaftliche Phänomene. Diese suchen wir unter energetischer Perspektive auf ihre Verursachung und Wirkung hin zu analysieren, wobei wir immer wieder auch den Blick auf soziologische Erkenntnisse und historische Parallelen werfen, um das Verständnis aktueller Erscheinungen zu erleichtern und abzusichern.

Letzteres geschieht vor allem in den beiden folgenden Kapiteln 2 und 3, in denen die Entstehung erster Menschengesellschaften und der Religion erläutert wird, um deren Funktionieren verständlich werden zu lassen.← 13 | 14 →

________

1 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1997, SS. 1117, 1132.

2 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie. Soziologische Kategorienlehre, Melzer, Neu Isenburg 2005, S. 12.

3 Burenhult, Göran: Dem Homo Sapiens entgegen, in: Menschen der Urzeit. Die Frühgeschichte der Menschheit von den Anfängen bis zur Bronzezeit, Köln 2004, S. 57.

4 Nähere Erläuterung dazu im folgenden Kapitel 2.

5 White, W. / Cambell, B.C. / Howell, C.: The First Men, dt. Ausg.: Die ersten Menschen, Time Life International 1973, S. 76ff.

6 Ebd.

7 Droste, Dietrich: Energiemangel als Antrieb der Menschheitsgeschichte, München 2010.

8 Gehlen, Arnold: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

9 Deutsches Ernährungsberatungs- und Informationsnetz (DEB/net) vom 28.3.2013.

10 Droste (s. Anm.7), S. 60f.

11 Balser, Markus: Rückkehr der Kohle, Süddeutsche Zeitung vom 17.12.2012, S. 17.

12 Harris, Gardiner: As Seas Rise, Clinging to Dying Land. In: The New York Times International Weekly from April 4, 2014, Pages 1/6.

13 Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (1899), Frankfurt/M 1961, SS 466ff., 483; ders.: Abriß der Psychoanalyse (1938), Frankfurt/M 1980, S. 23f.; Daniel Kahneman weist in der 13. Auflage seines Buchs „Thinking, fast and slow, dt.Ausgabe: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 59 ausdrücklich darauf hin, dass nach Versuchsreihen amerikanischer Neurowissenschaftler, bei denen der Blutzuckerverbrauch durch Hirnleistungen nachgewiesen wurde, „die Idee einer mentalen Energie mehr als nur eine Metapher ist.”– Entsprechendes berichten Forscher im Fachjournal PNAS (online) über den Glukose-Verbrauch von Kinderhirnen, der bei Fünfjährigen einen Spitzenwert von 66 Prozent der Energie ausmacht, die der Körper insgesamt im Ruhezustand benötigt. Nach: Charisius, Hanno: Energie für das Denken, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.8.2014, S. 16.

14 Vgl. den von Physikern wie Mayer, Joule und Helmholtz bereits in den 1840er Jahren festgestellten Satz von der Erhaltung der Energie.

15 Wikipedia: GND 4187224-1 vom 15.12.2012; Dieser Energiebegriff entspricht übrigens sehr genau dem des vom chinesischen Daoismus entwickelten Begriff des Qi, unter dem dort zugleich eine das ganze Universum ausmachende Substanz, vitale Energie und ein alles durchdringender kosmischer Geist verstanden wird, zugleich die einzig konstante Größe in einer sich dauernd verändernden Wirklichkeit.(nach: Wikipedia, Stichwort ,Qi‘ unter dem 21.11.2012).

16 Freud (s. Anm. 13); Kahneman (ebd.).

← 14 | 15 → 2 Entstehung der Menschengesellschaft

Wie schon im Vorstehenden gesagt, sehen wir die primäre Aufgabe der von Menschen gebildeten Gesellschaften in der gemeinschaftlichen Versorgung ihrer Mitglieder mit der für diese lebensnotwendigen Energie. Diese in ihrer Basisform als zureichende Nahrung über pflanzliche wie Fleischkost zu erlangen, war für das ‚Mängelwesen Mensch‘ im Unterschied zu anderen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren von Anfang an ein akutes Problem. Der mittelostafrikanische Australopithecus (Südaffe) wurde nach den archäologischen Befunden von Anthropologen dadurch zum Menschen, dass einige seiner Artgenossen infolge einer Klimaveränderung im Gefolge der vor 2,5 Millionen Jahren beginnenden arktischen Eiszeit aus dem dadurch in Mittelostafrika zurückweichenden Urwald auf einige Baumgruppen an Flussufern in der sich bildenden Steppe verdrängt wurden. In diesem beschränkten Biotop konnten die ‚Südaffen‘ nur durch Erfindung des ersten Messers in Form scharfkantig zerschlagener Fluss-Kieselsteine mit einigen Artgenossen überleben, indem sie mit solchen ,Kieselsteinmessern‘ Fleischteile von Beutetieren abschnitten, die Großkatzen erlegt, aber nicht vollständig verzehrt hatten. Dies bezeugen urzeitliche Beutetierknochenfunde in der tansanischen Olduvai-Schlucht, die zunächst von Raubtierzähnen und danach mit Kieselsteinmessern bearbeitet worden waren.1 Es ist zu vermuten, dass der Erfinder dieses Schneidewerkzeugs, der damit zum ersten nachweislichen Werkzeughersteller wurde und deshalb mit seiner ,Art‘ von den Anthropologen den Ehrentitel homo habilis (fähiger Mensch) erhielt, ein besonders kräftiges und mutiges Exemplar seiner Gattung war, das bei seiner Fleischgewinnung das Risiko einging, von anderen Aasfressern wie Geiern, Schakalen und Hyänen angegriffen und vielleicht getötet zu werden. Da er diesen Raubtieren weder scharfe Krallen noch imponierende Reißzähne entgegenzusetzen hatte, war er auf rasches Beutemachen und deshalb eben auf ein Schneidewerkzeug angewiesen, das ihm seine Notlage zu überwinden half, indem er sich mit dem rasch abgetrennten Beutestück, bevor es ihm von Fresskonkurrenten abgejagt wurde, auf einen nahen Baum flüchten konnte. Ein zeitlicher Vorsprung vor anderen Aasfressern war ihm dadurch gegeben, dass er den Vorteil räumlicher Nähe zu erlegten Steppentieren besaß, die zur Tränke regelmäßig an den Fluss kommen ← 15 | 16 → mussten, an dessen Ufern die Bäume standen, auf denen der Habilis mit den Seinen lebte und von dieser Position aus früher als seine Konkurrenten die Erlegung des nächsten Beutetiers durch ein dort lauerndes Raubtier beobachten und als erster zur Stelle sein konnte, wenn sich die erfolgreiche Raubkatze gesättigt von ihrer Beute zurückgezogen hatte. Bei dem auch für den Habilis gegebenen Geschlechtsdimorphismus, also körperlichem Größen- und Kräfteunterschied zwischen den Geschlechtern2, ist davon auszugehen, dass es sich – wie grammatisch schon vorweggenommen – bei dem Erfinder des ersten Messers um ein männliches Exemplar der neuen Gattung handelte, der sich, wie gesagt, als in seiner Gruppe stärkster ,Vorkämpfer‘ noch am ehesten auf die wegen der allseits lauernden Aasfresserkonkurrenz nicht ungefährliche Aktion einlassen konnte. Ob er seine Beute nach Rückkehr auf den Schlafbaum seiner ‚Familie‘ mit dieser geteilt oder Anteile davon gegen frugale Nahrung getauscht hat, ist nicht direkt zu ermitteln. Es liegt aber nahe, dass sich eine solche Praxis zumindest auf Dauer eingespielt haben dürfte. Spätestens geschah dies seit der Herstellung von funktionstüchtigen Jagdspeeren mit Hilfe der aus dem Kieselsteinmesser fortgebildeten steinernen Speerspitze, was eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zwischen dem männlichen Jäger und der frugale Nahrung sammelnden Frau manifest werden ließ. Es wären demnach vielleicht schon bald nach der Erfindung der Kieselsteinmesser vor etwa 2,5 Millionen Jahren, spätestens aber nach der Entwicklung hölzerner Jagdwaffen, die wegen ihres weniger durablen Materials allerdings erst für die Zeit von 400 000 bis 300 000 Jahren v. h. nachzuweisen sind3, die ersten arbeitsteilig agierenden und durch regelmäßigen Nahrungsenergieaustausch zusammengehaltenen Menschengesellschaften entstanden.

Diese wurden eben dadurch besonders nachhaltig stabilisiert, dass sie gerade auch in prekären Notlagen, wie sie durch Klimaänderungen bewirkt wurden, mit Hilfe der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau sowie der Ausrüstung mit Speer bzw. Schneide- oder Stichelgerät ihr Nahrungsspektrum mit selbst erlegtem Wild bzw. ergrabenen Wurzeln und Knollen erheblich erweitern und bereichern konnten. Die biophysisch gar nicht für das Leben in der Steppe ← 16 | 17 → konditionierten Frühmenschen wurden durch diese arbeitsteilig-kooperative Nahrungsbeschaffung in die Lage versetzt, sowohl Klimaschwankungen auszuhalten als auch gegenüber allen tierischen Konkurrenten eine nie mehr verlorene Überlegenheit zu erlangen. Dieser Effekt konnte auf Dauer nur dann erzielt werden, wenn Männer und Frauen ihre getrennt gewonnenen Nahrungsmittel miteinander teilten, also die Mahlzeit bereichernd teilweise austauschten und eben dadurch das Grundprinzip der Menschengesellschaft praktizierten, das wir im gewaltfreien und einvernehmlichen Güteraustausch erblicken. Dieser geschah und geschieht noch heute bei dem im Kreis der Familienangehörigen eingenommenen Mahl, dem deshalb soziologisch „eine wichtige soziale Funktion zugeschrieben wird, die weit über die körperliche Sättigung hinausgeht.“4 Dem entsprechend formulierte die Soziologin Doris Hayn noch für die Gegenwart: „Innerhalb der Familie ist die Tischgemeinschaft ein zentrales Symbol der Zusammengehörigkeit.“5

Details

Seiten
406
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653055917
ISBN (ePUB)
9783653966886
ISBN (MOBI)
9783653966879
ISBN (Hardcover)
9783631661093
DOI
10.3726/978-3-653-05591-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (März)
Schlagworte
Menschengesellschaft Globalisierung Energieerwerb totemistische Religion
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 406 S.

Biographische Angaben

Dietrich Droste (Autor:in)

Dietrich Droste studierte Geschichte und Germanistik an den Universitäten Kiel, Freiburg und Göttingen. Er ist als Buchautor tätig und veröffentlichte u. a. «Energiemangel als Antrieb der Menschheitsgeschichte» und «Kunstwerke: Kinder aus Krisen».

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Titel: Die Gesellschaft der Menschen
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