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«Der Papst und der Bienenkorb»: Marcel Reich-Ranicki als ein Akteur im literarischen Feld der Bundesrepublik

von Jasmin Ahmadi (Autor:in)
©2015 Dissertation 290 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch befasst sich mit Deutschlands bekanntestem Literaturkritiker: Mit Marcel Reich-Ranicki betrat 1958 ein Akteur die literarische Bühne der BRD, der bis dahin kaum über Kontakte zum westdeutschen literarischen Feld verfügte. Dennoch gelang es ihm innerhalb von nur 15 Jahren zum Leiter der Redaktion für Literatur und literarisches Leben bei der FAZ zu avancieren und zu einer der zentralen Benennungsmächte des literarischen Feldes der Bundesrepublik aufzusteigen. Jasmin Ahmadi legt dar, wie es dem Kritiker über die Jahre gelang, die feldspezifischen Kapitalien zu erwerben, strategisch wichtige Positionen einzunehmen und die informelle Struktur des literarischen Feldes zu seinen Gunsten zu verändern. Als Analyseinstrument wird dazu Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes verwandt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • I. Zum Begriff der Literaturkritik in Anlehnung an Pierre Bourdieu
  • 2. Der Kritiker als intermediäre Instanz zwischen den Feldern der Konsumtion und Produktion
  • 3. Die Konzeption des literarischen Feldes
  • 3.1 Logik und Struktur des Feldes
  • 3.2 Die beiden Subfelder: „eingeschränkte Produktion“ und „Massenproduktion“
  • 4. Einschub: Das journalistische Feld
  • 5. Der soziale Raum und seine Felder
  • 5.1 Klassen als Strukturmerkmal des sozialen Raums
  • 5.2 Die Habitus-Theorie Bourdieus
  • 5.2.1 Der Strategiebegriff Bourdieus
  • 5.2.2 Die posture als Akzentuierung und Erweiterung des Habitusbegriffs
  • 5.3 Die Illusio
  • 5.4 Die Kapitalformen
  • 5.4.1 Das ökonomische Kapital
  • 5.4.2 Das kulturelle Kapital und seine drei Formen
  • 5.4.2.1 Das inkorporierte kulturelle Kapital
  • 5.4.2.2 Das objektivierte kulturelle Kapital
  • 5.4.2.3 Das institutionalisierte kulturelle Kapital
  • 5.4.3 Das soziale Kapital: Ein nicht zu unterschätzendes strategisches Moment im literarischen Feld
  • 5.4.4 Das symbolische Kapital: Der ‚Trumpf‘ im literarischen Feld
  • 5.4.5 Konvertierung der Kapitalien
  • II. Marcel Reich-Ranicki als ein Akteur im literarischen Feld der Bundesrepublik
  • 6. Auf dem Weg nach Westdeutschland: Reich-Ranickis letzte Jahre in Polen
  • 6.1 Eingrenzungen: Das literarische Feld Polens nach 1945
  • 6.2 Aufbau eines sozialen Netzwerks in Richtung Bundesrepublik
  • 6.2.1 Die ersten zehn Jahre des literarischen Feldes in West-Deutschland nach Gründung der Bundesrepublik
  • 6.2.2 „Ein literaturgeschichtlicher und -politischer Paradigmenwechsel“: Die Literaturkritik vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Ankunft Reich-Ranickis
  • 7. Der Eintritt Reich-Ranickis in das literarische Feld der Bundesrepublik
  • 7.1 Eine ‚Lücke‘ im Feld: Reich-Ranicki und die DDR-Literatur
  • 7.2 Positionskämpfe: Karl Dedecius und Hans Mayer
  • 7.3 Ein exemplarischer ‚Fall‘: Reich-Ranicki und Günter Grass; die frühen Jahre
  • 8. Institutionentheorie – Reich-Ranickis Positionierungen jenseits der beglaubigten Institutionen
  • 8.1 Die Gruppe 47
  • 8.2 Der Ingeborg-Bachmann-Preis
  • 9. Reich-Ranickis Wirken bei der ZEIT
  • 9.1 Die Verortung der ZEIT im journalistischen Feld der Bundesrepublik
  • 9.2 Beim Feuilleton der ZEIT
  • 10. „Man kam an ihm einfach nicht mehr vorbei“: Reich-Ranicki und die Frankfurter Allgemeine Zeitung
  • 10.1 Die Verortung der FAZ im journalistischen Feld der Bundesrepublik
  • 10.2 Die Durchsetzungsstrategien Reich-Ranickis in der FAZ
  • 10.2.1 Das soziale Kapital und die Strategie der Distinktion
  • 10.2.2 Reich-Ranickis Personalpolitik und sein Streben nach Machtvollkommenheit
  • 10.2.3 Am Subfeld der „eingeschränkten Produktion“: Reich-Ranicki und die Frankfurter Anthologie
  • 10.2.4 Ex cathedra: Das Beispiel Ulla Hahn
  • 11. „Artiste Roué“: Das Literarische Quartett
  • 11.1 Fides implicita: Wie alles begann
  • 11.2 Die Struktur des Literarischen Quartetts
  • 11.2.1 Komponenten einer „falsch echten Debatte“
  • 11.2.2 Komponenten einer „echt falschen Debatte“
  • 11.2.3 Der ‚Fall‘ Löffler
  • 11.3 Die Auswahl der Werke: Eine affirmative Haltung gegenüber dem literarischen Markt?
  • 11.4 Auf dem Weg zur alleinigen Deutungshoheit: Reich-Ranickis Verriss über Ein weites Feld
  • 11.4.1 Das Vorspiel: Die Rezension im Spiegel und die Strategie des ‚Offenen Briefes‘
  • 11.4.2 Der Eklat: Das Literarische Quartett vom 24.8.1995
  • 11.5 Das Ende des Literarischen Quartetts zum ‚richtigen‘ Zeitpunkt?
  • 12. Reich-Ranicki Solo – Polemische Anmerkungen
  • 13. Auf dem Höhepunkt seiner Definitionsmacht: Reich-Ranickis ‚Kanon‘ der deutschen Literatur
  • 14. Reich-Ranickis posture
  • 15. Resümee
  • 16. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

‚Sie kenn ich ausm Fernsehen.‘ Der Taxifahrer mustert im Rückspiegel den Mann, der sich am Berliner Gendarmenmarkt auf den hinteren Sitz seines Wagens hat fallen lassen. Er zögert einen Moment, wendet den Kopf, studiert das Gesicht seines Fahrgasts und läßt Sendungen, Serien, Shows vor dem inneren Auge vorbeiziehen. Dann hellt sich sein Blick auf. ‚Ja‘, brummt er und nickt befriedigt, ‚Sie sind der Kritiker.‘ Dreht sich wieder nach vorn, fährt zur gewünschten Adresse und sagt kein weiteres Wort.1

Fragestellung und Methodik

Bei dem vom Taxifahrer erkannten Kritiker handelt es sich um Marcel Reich-Ranicki, der sich gerade auf dem Weg zur Abschlusssendung des Literarischen Quartetts im Schloss Bellevue befindet. Es ist das Jahr 2001, der Kritiker lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit 43 Jahren in der Bundesrepublik. Hier ist es ihm gelungen, binnen weniger Jahre von einer Außenseiterposition im literarischen Feld aus über Positionskämpfe in der Gruppe 47, der ZEIT, der FAZ, dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Literarischen Quartett – einer Sendung, in welcher er Buchbesprechungen ins Fernsehen verlagerte -, zu einer der Schlüsselfiguren des literarischen Lebens aufzusteigen. Den Höhepunkt seiner Definitionsmacht erreichte Reich-Ranicki jedoch im Jahre 2002. Ein Jahr nachdem die letzte Folge des Literarischen Quartetts auf dem ZDF ausgestrahlt worden war, veröffentlichte er, sekundiert durch mehrere Verlage, überaus erfolgreich seinen ‚Kanon der Romane‘.2 In Jahresabständen folgten hiernach der ‚Kanon der Erzählungen‘, ‚Dramen‘, ‚Gedichte‘ und ‚Essays‘.

Im Ganzen präsentiert sich dem Betrachter eine Lebensgeschichte, deren Verlauf viele Fragen aufwirft, die es näher zu beleuchten gilt. Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, aufzuzeigen, wie es dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, ← 11 | 12 → einem aus dem polnischen Exil zurückkehrenden deutschen Juden, der bis 1958 weder über nennenswerte Kontakte zum westdeutschen Literaturbetrieb verfügte, noch einen Universitätsabschluss vorzuweisen hatte, gelingen konnte, im Laufe von nur wenigen Jahren zu einer der zentralen Benennungsmächte des literarischen Feldes der Bundesrepublik aufzusteigen. Schließlich erkämpfte er sich während dieser Zeit nicht nur eine singuläre Position innerhalb des literarischen Feldes, sondern erlangte außerdem als personifizierte Konsekrationsinstanz eine Berühmtheit, die über die literarische Öffentlichkeit hinausreichte und der sich bis heute kaum ein anderer Literaturkritiker rühmen kann.

Eine viel zu stark verkürzte Schlussfolgerung, die dem Agieren Reich-Ranickis zudem nicht gerecht würde, wäre es, ihm einen reinen Machtwillen zu unterstellen, der seine Handlungen leitete, genauso wie es abwegig wäre, von einer glücklichen Fügung zu sprechen. Vielmehr wird im Laufe der Arbeit aufgezeigt, dass Reich-Ranicki nicht nur ein ausgezeichnetes ‚Gespür‘ für den Wandel im Literaturbetrieb besaß, sondern dass er ebenfalls geschickt mit dessen Kräfteverhältnissen umzugehen wusste, indem er auf diese zu seinen eigenen Gunsten einwirkte.

Um folglich Reich-Ranicki und sein Schaffen angemessen analysieren zu können und dabei nicht dem Mythos vom ‚schöpferischen Individuum‘ zu verfallen, muss über eine bloße Textanalyse seiner Schriften hinausgegangen werden. Schließlich wird allzu gerne von Literaturwissenschaftlern3, zum vermeintlichen Schutz des hehren individuellen Schaffungsprozesses, der Umstand ausgeblendet, dass sowohl das ästhetische Urteil als auch die ästhetische Handlung zugleich kulturelle und soziale Distinktionsakte darstellen. Für die vorliegende Arbeit soll daher die Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, insbesondere die des literarischen Feldes, aufgegriffen und in einigen Aspekten weiterentwickelt werden. Mit seiner historischen Analyse des französischen literarischen Feldes des 19. Jahrhunderts ist es Bourdieu gelungen, normative Implikationen für die Konstitution sozialer Felder, welche auch über die französische Landesgrenze hinaus Geltung beanspruchen können, zu entwerfen.4 Hiernach hat zwar jedes literarische Feld seine eigenen konstitutionellen Spezifika, doch bestehe, so Bourdieu, eine ← 12 | 13 → partielle strukturelle Homologie zwischen ihnen.5 Seine Theorie des französischen literarischen Feldes ist folglich zu großen Teilen übertragbar auf die Beschaffenheit des literarischen Feldes der Bundesrepublik. Doch während die Theorie von Bourdieu selbst sowie einem kleinen Kreis von Literaturwissenschaftlern dazu genutzt wurde, um bevorzugt Literaten und ihr Agieren im Kontext eines jeweiligen literarischen Feldes zu untersuchen, erweitert die vorliegende Arbeit diese Methodologie auch auf andere Akteure im Feld, die selbst keine literarischen Produzenten sind. Es wird dadurch möglich, auch den Kritiker als Akteur im literarischen Feld mit der Theorie Bourdieus zu analysieren.

Marcel Reich-Ranicki scheint mir besonders prädestiniert dazu, die Deutung der Literaturkritik sowie der Gegebenheiten des deutschen literarischen Feldes zu klären. Denn während nach Bourdieu Literaturkritiker in der Regel gleichzeitig auch literarische Produzenten sind, nimmt Reich-Ranicki eine besonders markante Position ein, da er ausschließlich als Kritiker tätig ist.6 Sein Agieren erscheint somit viel klarer als das der meisten anderen Akteure im literarischen Feld, ist doch der Großteil seiner Strategien nur durch diese eine Position bestimmt.

Nach der Theorie Bourdieus ist das literarische Feld, wie jedes andere Feld auch, Teil des sozialen Raums. Man könnte es damit auch als einen gesellschaftlichen Bereich beschreiben, der mehr oder weniger fließende Grenzen zu anderen Feldern aufweist und in welchem die Akteure miteinander kontinuierlich darum ringen zu bestimmen, was gute Literatur ist. Durch die stetigen Handlungen der Akteure ist das literarische Feld von daher auch nicht als ein statischer Raum zu ← 13 | 14 → verstehen, sondern als einer, der sich in fortwährender Bewegung befindet.7 Um demnach die Singularität eines Akteurs und seines Werkes verstehen zu können, muss eine korrelierende Analyse der Genese des Werkes selbst, der Genese der Kämpfe zwischen den Akteuren im Feld und den Abgrenzungskämpfen des literarischen Feldes gegenüber den Zwängen des Marktes vollzogen werden:

Der Versuch, eine Laufbahn oder ein Leben als eine einheitliche und selbstgenügsame Reihe aufeinanderfolgender Ereignisse allein in Beziehung zu einem ‚Subjekt‘ zu verstehen, dessen Unveränderlichkeit nur die eines gesellschaftlich anerkannten Eigennamens sein kann, ist fast so absurd wie der Versuch, eine Linie der Métro zu erklären, ohne die Struktur des Netzes, d.h. die Matrix der objektiven Beziehungen zwischen den Haltestellen einzubeziehen.8

Hierbei darf jedoch das Handeln der Akteure nicht als ein willkürliches oder – um ins andere Extrem zu fallen – gar zielgerichtetes Handeln verstanden werden. Dieses wird vielmehr durch die Disposition des Akteurs, die objektive Position, welche er einnimmt, sowie die Reaktion des Akteurs auf die vorgefundene Position mithilfe seiner Disposition bestimmt. Die relationalen Beziehungen sind für die Theorie Bourdieus folglich entscheidend:

Die Wissenschaft der Kunstwerke hat damit das Verhältnis zweier Strukturen zum eigentlichen Gegenstand, der Struktur des Raumes der objektiven Beziehungen zwischen den Stellungen im Raum der Produktion (und zwischen den Produzenten, die sie besetzten) und die Struktur des Raumes der objektiven Beziehungen zwischen den Stellungnahmen im Raum der Werke.9

Doch Bourdieu geht noch einen Schritt weiter: Nach seinem analytischen Ansatz existieren der Künstler und sein Kunstwerk nicht einfach per se, sondern erst der Glaube anderer maßgeblicher Akteure des literarischen Feldes an die schöpferische Kraft des Produzenten und seine Stellung im literarischen Feld konstituieren diese, verleihen ihnen einen Wert:

Man muß nur einmal die verbotene Frage stellen, um sogleich zu sehen, daß der Künstler, der das Werk schafft, selbst innerhalb des Feldes erschaffen wird: durch all jene nämlich, ← 14 | 15 → die ihren Teil dazu geben, daß er ‚entdeckt‘ wird und die Weihe erhält als ‚bekannter‘ und anerkannter Künstler – die Kritiker, Schreiber von Vorworten, Kunsthändler usw.10

Hieran anknüpfend wird die Biografie Reich-Ranickis als ein Abbild seiner Positionierungen im literarischen Feld der Bundesrepublik verstanden. Für eine umfassende Untersuchung seines Agierens im literarischen Feld ist es also notwendig, seine dort vollzogene „gesellschaftliche Flugbahn“11 mittels eines ‚Nachzeichnens‘ der in dem Raum eingenommen Stellungen zu rekonstruieren. Aus diesem Grunde werden Zeitphasen, Ereignisse, Akteure, Gruppen und Institutionen beleuchtet, zu denen Reich-Ranicki sich in Verhältnis setzte.12

Nicht thematisiert werden sollen die antisemitischen Angriffe, die Reich-Ranicki im Laufe seines Lebens erdulden musste.13 Stellt sich doch zuvörderst die Frage, ob solche Diskurse, die einen Akteur des literarischen Feldes auf seine ‚jüdische Herkunft‘ reduzieren, überhaupt erwähnt werden sollten, was immer auch eine Reproduktion dieses Diskurses bedeutete, oder ob man seine ‚menschlichen‘ Qualitäten bewerten sollte. Darüber hinaus geht es nicht darum, den Erfolg des Kritikers dadurch schmälern zu wollen, indem man wie Christian Schultz-Gerstein argumentiert, dass Reich-Ranicki

stets […] eine moralische Leibwache von wohlmeinenden Deutschen mit schlechtem Nachkriegsgewissen [um sich hatte], die an dem einstigen Gefangenen des Warschauer Gettos Wiedergutmachung übten, indem sie ihm seine Leidenserfahrungen als Bonus auf seine geistigen Gaben anrechneten.14 ← 15 | 16 →

Selbst wenn diese Thematik neue wissenschaftliche Erkenntnisse erbringen sollte, was hier angezweifelt wird, bliebe auf die nicht zufriedenstellende Datenlage zu verweisen. Zwar kann nicht völlig ausgeschossen werden, dass Reich-Ranicki aufgrund des Erlebten gewisse ‚Türen‘ geöffnet wurden,15 so kann aber andererseits auch nicht immer genau festgestellt werden, ob ihm gerade aufgrund seiner jüdischen Herkunft Positionen verweigert wurden.16

Forschungsstand

Eine Adaption der Theorie Bourdieus ist im Feld der deutschsprachigen Literaturwissenschaft nur punktuell zu erkennen. Als symptomatisch hierfür kann das Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung von Die Regeln der Kunst17 gesehen werden. Denn während das Werk in Frankreich bereits 1992 herauskam, wurde eine deutsche Ausgabe erst 1999 veröffentlicht.

Seitdem lassen sich einschlägige interdisziplinäre Einführungen in die Theorie Bourdieus finden, wie etwa aktuell die Arbeiten von Eva Barlösius18, Markus Schwingel19, Joseph Jurt20, Werner Fuchs-Heinritz/Alexandra König21, Christian Papilloud22 oder das Bourdieu-Handbuch von Gerhard Fröhlich/Boike Rehbein23. Sie alle treten mit dem Ziel an, die zentralen Grundbegriffe der Theorie Bourdieus, wie den „sozialen Raum“, das „Feld“, den „Habitus“, die „Klassen“, das „Kapital“ u. a.m. zu erklären. ← 16 | 17 →

Darüber hinaus plädieren seit Anfang/Mitte der achtziger Jahre germanistische Arbeiten, wie beispielsweise von Joseph Jurt24, Ludwig Fischer25, Ludwig Fischer/Klass Jarchow26, Inge Stephan/Hans-Gerd Winter27, Klaas Jarchow/Hans-Gerd Winter28 oder Andreas Dörner/Ludgera Vogt29 für einen praxisbezogenen Umgang mit der Theorie Bourdieus. Diesem Aufruf beginnen Literaturwissenschaftler im deutschsprachigen Raum erst vermehrt in den letzten Jahren zu folgen.30

Gezielte Beschäftigungen mit dem literarischen Feld und im Speziellen mit dem deutschen sind jedoch auch heute noch Randerscheinungen in der Literaturwissenschaft, wenn auch mit steigender Tendenz. Zu finden sind diese vor allem in Kurzbeiträgen in Zeitschriften und Sammelbänden. Während Joseph Jurt31 und Louis Pinto/Franz Schultheis32 noch Überlegungen insbesondere zum literarischen Feld Frankreichs zusammentrugen, deren Wert unbestritten ist, sind die Sammelbände von Ludwig Fischer/Klaas Jarchow/Horst Ohde/Hans ← 17 | 18 → Gerd Winter33, Hans-Gerd Winter34, Markus Joch/Norbert Christian Wolf35, Ingrid Gilchner-Holtey36, Christine Künzel/Jörg Schönert37, Markus Joch/York-Gothart Mix/Norbert Christian Wolf38, Christine Magerski39 und Dirk Hempel/Hans-Ulrich Wagner40 als eine erfrischende Neuheit in der Literaturwissenschaft zu betrachten, legen sie doch im Gegensatz zu ihren Kollegen ihren Schwerpunkt auf das literarische Feld der Bundesrepublik und deren Akteure.

Während der Sammelband von Hans-Gerd Winter Uns selbst mussten wir misstrauen41 sich beispielsweise mit dem sich neu konstituierenden deutschen literarischen Feld der Nachkriegszeit beschäftigt, „analysieren [die Autoren in Mediale Erregungen] individuelle Autorenkarrieren, Formen medialer Literaturvermittlung, die Wirkung von Literaturkritik und das Verhältnis von Staatskunst und Autonomie um die Jahrtausendwende.“42 Der Sammelband Text und Feld geht wiederum dem Thema „Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis“ nach. Die Theorie Bourdieus wird von den Autoren in „theoretischer, historischer und thematischer Hinsicht […] [ausgeweitet]“43 sowie einer kritischen Reflexion unterzogen. In dem Sammelband von Gillchner-Holtey werden „Positionen europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert [untersucht]“44, und man ← 18 | 19 → nimmt sich dabei primär der Akteure des literarischen Feldes an, „die vorübergehend die Rolle des Intellektuellen übernommen und sich eingemischt haben in den Kampf um Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt.“45 Die spezifische Konstitution des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871 ist bei Christine Magerski46 Gegenstand ihrer Arbeit. Sie untersucht, unter anderem mittels der Feldtheorie, die literarischen Strömungen dieser Zeit. In Autorinszenierungen: Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien gehen die Autoren konkreten Formen der Autorinszenierungen mit Rückbezug auf das Habitus-Konzept Bourdieus nach. Den

Beiträgen geht es darum, veränderte Formen der Thematisierung, Inszenierung und Instrumentalisierung von Autorschaft im 20. und an der Schwelle zum 21. Jahrhundert mit Bezug auf einzelne Autorinnen und Autoren oder Autorengruppen und ihre Werke darzustellen und zu analysieren.47

Auf eine besondere Art und Weise ergänzen sich die auf das Hamburgische literarische Feld bezogenen Sammelbände: Denn während die Schrift Das literarische Feld in Hamburg 1933–194548 dieses zur Zeit des „Dritten Reichs“ analysiert, knüpfen die Aufsätze in Dann waren die Sieger da aus einer chronologischen Perspektive betrachtet an erstere Arbeiten an. Letztere beschäftigen sich verstärkt mit „all den ‚symbolischen Kämpfen‘, den vielfältigen Bewegungen und Kräfteverhältnissen des literarischen Lebens in jenen Ausnahmejahren.“49

Sowohl der Begriff der Literaturkritik als auch der der posture werden von Bourdieu in seinen Arbeiten nur am Rande erwähnt. Während jedoch bezüglich des ersten Begriffs die Arbeiten des Soziologen selbst hinzugezogen werden können, um auf diese, direkt Bezug nehmend, aufzubauen, stützt sich die vorliegende Arbeit, ← 19 | 20 → den Begriff der posture betreffend, auf die Schriften Jérôme Meizoz‘, der diesen von Bourdieu eher vernachlässigten Begriff in Pionierarbeit aufbereitet hat.50

Bis auf den Sammelband von Markus Joch/Norbert Christian Wolf51 und dem Aufsatz „Es geht nicht um Christa Wolf“52 ebenfalls von Markus Joch, in denen an verschiedenen Stellen ein ‚Seitenblick‘ auf das Agieren Reich-Ranickis nach feldtheoretischen Gesichtspunkten geworfen wird, liegen keine weiteren Abhandlungen zu dieser spezifischen Thematik vor.53 Deshalb ist es unumgänglich, sich in erster Linie mit primären und sekundären Quellen auseinanderzusetzen, die in Teilen zwar nicht ihren Schwerpunkt auf dem Handeln und Wirken Reich-Ranickis legen, die aber dennoch dabei helfen können, die Struktur des literarischen Feldes zu einem bestimmten Zeitpunkt zu rekonstruieren und zu analysieren, wodurch dann wiederum Rückschlüsse auf das Agieren Reich-Ranickis selbst möglich werden. Zu diesen Themenbereichen wie zum Beispiel der Gruppe 47, dem Ingeborg-Bachmann-Preis, der ZEIT, der FAZ, dem Literarischen Quartett etc. existiert über die Quellen hinaus ausreichendes Untersuchungsmaterial.54 Für das biografische Gerüst werden u. a. die Biografien ← 20 | 21 → von Uwe Wittstock55, Thomas Anz56, Volker Hage/Matthias Schreiber57 sowie die Autobiografie von Marcel Reich-Ranicki58 herangezogen. Lediglich zum literarischen Feld der Volksrepublik (VR) Polen ist die Materiallage etwas schwieriger. ← 21 | 22 → Hier wird vor allem auf die Arbeit von Katarzyna Taborska59 und die Aufsätze von Silke Pasewalck60, Hubert Orlowski61 sowie Karol Sauerland62 zurückgegriffen.

Gliederung der Arbeit

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptabschnitte. Der erste Hauptabschnitt beschäftigt sich mit der Theorie des literarischen Feldes. Er wird das ‚Analyseraster‘ für eine Sozioanalyse der Laufbahn und Strategien Reich-Ranickis liefern. Hierbei liegt es nicht im Interesse dieser Arbeit, die gesamte Fülle der Theorie Bourdieus zu referieren. Mein Bestreben ist es vielmehr, Ansatzpunkte für die daran anschließende Analyse zu liefern, gewisse rudimentäre Zusammenhänge und Begrifflichkeiten werden folglich als bekannt vorausgesetzt.

Das erste Kapitel dieses Hauptabschnitts widmet sich dem Literaturkritiker, der sich durch seine besondere Positionierung als Vermittler in der Sphäre zwischen den Konsumenten und den Produzenten auszeichnet. Dieser Bereich ist jedoch bei Bourdieu sowohl theoretisch als auch in seinem historischen und in seinem Praxisbezug nur schwach entwickelt. Infolgedessen wird eine eigene praktikable Definition der Literaturkritik mit Rückbezug auf Bourdieus Schriften erstellt. Dies wird vor allem durch eine intensive Auseinandersetzung mit den Begriffen des auctor und des lector geschehen.

Daran anknüpfend folgen weitere tiefer gehende Ausführungen zur Theorie Bourdieus, die für das Verständnis bezüglich des Agierens Reich-Ranickis als Literaturkritiker von Nöten sind, wie etwa die Theorie des literarischen Feldes, des journalistischen Feldes und die des sozialen Raums mit ihren Unterkapiteln unter anderem zur Habitus- und Kapital-Theorie. Doch während Bourdieu im Zusammenhang mit dem Habitus primär von ‚unbewussten‘ Handlungen ausgeht, trifft dies nicht immer auf das Agieren der Akteure des literarischen Feldes ← 22 | 23 → zu. So ist es beispielsweise im Fall des medialen Gebarens Reich-Ranickis sehr wohl möglich, von bewussten ‚Inszenierungen‘ zu sprechen. Aus diesem Grunde gilt es, in einem eigens hierfür vorgesehenen Kapitel den von Bourdieu nur am Rande erwähnten Begriff der posture hinzuzuziehen und zu spezifizieren.

Der zweite Hauptabschnitt hat die eigentliche Sozioanalyse der Laufbahn Reich-Ranickis zum Thema. Das Ziel ist es, eine korrelierende Analyse seines ‚Anstrebens‘ von Machtpositionen sowie seines feldspezifischen „sozialen Sinns“ durchzuführen. Der Abschnitt gliedert sich nach den wichtigsten Phasen in der Laufbahn Reich-Ranickis, um einerseits aufzuzeigen, wie dieser die jeweilige Position des Feldes besetzte, und andererseits zu fragen, welche Auswirkungen sein Vorgehen auf die Konstitution des literarischen Feldes genommen hat.

Ausgehend von der Theorie Bourdieus, wird die Karriere Reich-Ranickis zeitlich ab 1954 rekonstruiert. Sachverhalte, Ereignisse, Beziehungen etc. Reich-Ranickis in der VR Polen sollen genauer analysiert werden, um Rückschlüsse bezüglich seines Einstiegs in das literarische Feld der Bundesrepublik ziehen zu können. Hinsichtlich des außergewöhnlichen Erfolgs Reich-Ranickis im bundesdeutschen Literaturbetrieb ist es schließlich notwendig, herauszuarbeiten, ob er bereits vor seinem Wechsel in die Bundesrepublik über gewisse habituelle Dispositionen verfügte, die ihm nun auch dort ‚Anerkennung‘ versprachen. Daran anknüpfend ist zu beleuchten, ob er in Polen Kapitalien akkumulierte, die er in das neue literarische Feld transferieren und dort nutzbar machen konnte.

Um den Eintritt Reich-Ranickis in das literarische Feld der Bundesrepublik im Jahre 1958 klarer herausarbeiten zu können, muss in einem ersten Schritt untersucht werden, welche Beschaffenheit das literarische Feld zu diesem Zeitpunkt hatte, um dann in einem zweiten Schritt aufzeigen zu können, welchen Positionen er sich als Kritiker zuwandte. Hierbei werden insbesondere die Positionskämpfe Reich-Ranickis mit Karl Dedecius, Hans Mayer und Günter Grass einer Analyse nach feldtheoretischen Gesichtspunkten unterzogen.

Direkt nach seiner Ankunft in der Bundesrepublik wandte sich Reich-Ranicki mit der Gruppe 47 einem lockeren Zusammenschluss von Akteuren zu und nicht etwa den etablierten Institutionen des Feldes, wie den verschiedenen Akademien. Ähnliches gilt es in Bezug auf sein späteres Mitwirken am Ingeborg-Bachmann-Preis zu konstatieren, denn auch hier schloss er sich nicht lediglich bereits etablierten Literaturpreisen an, sondern initiierte 1977 zusammen mit anderen Akteuren des literarischen Feldes einen eigenen Preis, der zudem bis heute zu den wichtigsten deutschsprachigen Literaturpreisen zählt. Es stellt sich demnach die Frage, ob dieses Vorgehen unter anderem darin eine Begründung findet, dass ← 23 | 24 → der Zutritt zu den etablierten Institutionen weitaus schwieriger und mit wesentlich mehr Zeitaufwand verbunden gewesen wäre.

Von 1959 bis 1973 arbeitete Reich-Ranicki als Rezensent für die ZEIT. Im Anschluss an diese Tätigkeit übernahm er die Leitung für den Bereich „Literatur und literarisches Leben“ bei der FAZ. Auf den ersten Blick scheint dieser Karrieresprung abrupt, schließlich lebte Reich-Ranicki zu diesem Zeitpunkt erst fünfzehn Jahre in der Bundesrepublik. In einem ersten Schritt wird daher die ZEIT im journalistischen Feld der Bundesrepublik verortet sowie Reich-Ranickis Tätigkeit bei der Wochenzeitung beleuchtet. In einem zweiten Schritt wird dann, nachdem die FAZ ebenso verortet wurde, der These nachgegangen, dass sich der Kritiker auch im Kontext mit der FAZ die spezifische Konstitution des literarischen Feldes zu eigen machte.

1987 entwickelte Reich-Ranicki zusammen mit dem ZDF ein Konzept für eine regelmäßige Fernsehsendung, die ausschließlich der Literatur gewidmet sein sollte und die am 25. März 1988 unter dem Namen Das Literarische Quartett zum ersten Mal im Fernsehen ausgestrahlt wurde. In den dreizehn Jahren seiner Ausstrahlung wurden 77 Sendungen produziert und mehr als 385 Bücher besprochen. Im Durchschnitt sahen sich 900 000 Zuschauer die abendliche Kultursendung an.63 In diesem Kontext wird insbesondere der Einfluss des Literarischen Quartetts auf das Kräfteverhältnis im literarischen Feld analysiert.

Details

Seiten
290
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057348
ISBN (ePUB)
9783653966084
ISBN (MOBI)
9783653966077
ISBN (Paperback)
9783631661598
DOI
10.3726/978-3-653-05734-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juli)
Schlagworte
Literaturkritik Literarische Quartett FAZ:
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 290 S.

Biographische Angaben

Jasmin Ahmadi (Autor:in)

Jasmin Ahmadi studierte Lehramt Oberstufe/Allgemeinbildende Schulen in den Fächern Deutsch und Sozialwissenschaften mit dem Schwerpunkt Politik. Ihre Promotion erfolgte an der Universität Hamburg. Sie arbeitet als Studienrätin im Hamburger Schuldienst.

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