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Die Freiheit zum radikal Bösen

Das Problem der Fatalismus-These in Reinholds Interpretation zu Kant

von Martin Muransky (Autor:in)
©2015 Monographie 184 Seiten

Zusammenfassung

Der Formalismus des Wollens besitzt eine intentionale Struktur, da das menschliche Handeln nach Kant nicht dem Streben folgt, sondern einer Stellungnahme («Wie») zu den eigenen Strebungen (Absichten zur Handlung) entspringt. Dieses ungleichgültige «Wie» als Ja/Nein-Stellungnahme zu den eigenen Handlungsmöglichkeiten geschieht nach Kant nicht nach Belieben, da es zugleich um die eigene Selbst-Bezogenheit geht. Der Primat der praktischen Rationalität seit Kant fußt auf der Voraussetzung, dass dieser «Endzweck» als mich betreffender «Gegenstand» ausdrücklich geworden ist. Somit wird die zu machende Bewältigung des Lebens im Ganzen als rationales Ziel des eigenen Wollens anerkannt. Dies steht im direkten Gegensatz zur theoretisch objektivierenden Gewissheit.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfáhigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Die Einleitung zum Thema und die Konkretisierung der Fragestellung
  • 1. Einleitung
  • 2. Konkretisierung der Fragestellung
  • 3. Zur Geschichte der metaphysischen Kant-Interpretation
  • A Die Betrachtung der Transzendentalphilosophie als Ideen-Metaphysik
  • B Dreivermögenslehre und die transzendentale Einbildungskraft
  • Teil I: Rheinholds Theorie der Vernunft und der freien Willkür
  • 1.1. Die „Briefe“ als Versuch, „der Kant‘schen Moralität ein objektives Dasein zu schaffen“
  • 1.2. Metaphysik des Wissens: Vernunft und Person
  • 1.3. Dreivermögenslehre als Freiheitsproblem
  • 1.4. Zusammenfassung: Libertas indifferentiae oder Verbindlichkeit der Wahl?
  • 1.5. Anhang Reinholds ungelöstes Problem mit der Freiheit der Willkür
  • Teil II: Zur Reinholds Kritik an Kant
  • 2.1. Der allgemeine Ansatzpunkt
  • 2.2. Kants Phänomen des Gewissens und die Faktizität des Bösen
  • 2.3. Faktum der Vernunft und die praktische Verbindlichkeit
  • 2.4. Die Grundfrage des reinen Willens und die Fatalismus-These
  • 2.5. Zusammenfassung: Kants Frage der Fatalität der Handlung
  • Teil III: Die praktischen Gewissheit und das Böse bei Kant
  • 3.1. Der Akt der Freiheit und das Wissen um die Freiheit
  • 3.2. Postulatenlehre und praktische Gewissheit
  • 3.3. Der unbedingt gute Wille und das radikal Böse
  • 3.4. Schlussbetrachtung
  • Teil IV: Anhang
  • 4.1. Anhang I: Das Problem der assertorischen und praktischen Sätze (E. Tugendhat und L. Honnefelder)
  • 4.2. Anhang II: On the Concept of Responsibly and of Freedom of the Will in Ernst Tugendhat
  • Literaturliste
  • Reihenübersicht

Die Einleitung zum Thema und die Konkretisierung der Fragestellung

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1. Einleitung

Das Wechselverhältnis von Sein und Freiheit (Bewusstsein) in der Tradition des transzendentalen Gedankens ist für mich der zentrale Ausgangspunkt folgender Überlegungen. Die Thematik der Selbstbestimmung oder des Identitätsbegriffes der Aufklärung, bei der es darum geht, die in den letzten drei bis vier Jahrhunderten erfolgten wichtigen Umgestaltungen unserer Kultur und Gesellschaft zu begreifen, beschäftigt die moderne Philosophie immer weiter. Sie steht auch im Brennpunkt der fast endlosen Diskussion über die Konflikte der Moderne und der mit ihr eng verbundenen postmodernen Reflexion der neuzeitlichen geistigen Kultur. Der Brennpunkt solcher Diskussionen lässt sich im Prinzip auf die Frage der Beschaffenheit und Verbindlichkeit der Normenwelt reduzieren, bei welcher es vor allem um die begriffliche Artikulation des Verhältnisses von Legalität und Moralität geht.

Ein beträchtlicher Teil dieser Diskussion setzt aber ein Bild der bisherigen geistigen Entwicklung der Neuzeit voraus, deren entsprechende Rekonstruktion und Artikulation die Hauptaufgabe des modernen Denkens bleibt. Im Rahmen des Buches mit dem Titel Die Freiheit zum radikal Bösen: das Problem der Fatalismus-These in Reinholds Interpretation zu Kant bin ich bemüht, mich auf das Erarbeiten der Problematik des modernen Subjektivitätsverständnisses zu konzentrieren. Mit diesem Ausdruck möchte ich die Gemeinsamkeit der Auffassungen dessen bezeichnen, was es heißt, ein handelndes menschliches Wesen zu sein, zu welchem die im neuzeitlichen Abendland beheimateten Begriffe der Innerlichkeit, der Freiheit und der Individualität gehören.

Beinahe so alt wie Kants Schriften zur praktischen Philosophie ist der Vorwurf, dass eine solche, vermeintlich inhaltslose, Ethik ein Unding, ein leerer Formalismus sei. Dem liegt mindestens ein Missverständnis zugrunde, nämlich jenes, dass eine Philosophie, der zufolge das Prinzip der Moral ohne jede „inhaltliche“ Beimengung bleiben müsse, auch die ganze Moralphilosophie a priori aus bloßer Vernunft zu deduzieren habe. Der immer bemängelte Formalismus der kantischen Ethik1 ist in Wahrheit gerade ihre ← 11 | 12 → epochale Innovation, der Grund ihrer geschichtlich wirkenden Kraft. Derjenige Problemzusammenhang, der zur begrifflichen Trennung der „Form“ und des „Inhalts“ im Rahmen der transzendentalen Reflexion führt, heißt: die Autonomie des Willens. Indem Kant in seiner praktischen Philosophie das Wollen in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, erhebt sich für ihn das Problem der Bestimmungsgründe des Willens. Geht man, allgemein gesagt, davon aus, dass diese Bestimmungsgründe die verschiedenartigste Darstellung und Begründung erfahren haben, dann sind nach seiner eigenen Lehre alle diejenigen Bestimmungsursachen zu verwerfen, welche lediglich materiale, d.h. inhaltliche Prinzipien der Moralität sind. Sie sind zugunsten eines rein formalen obersten Grundsatzes zu verwerfen, welchen Kant als das alleinige Fundament allen sittlich guten Tuns und Lassens bezeichnet. Mit diesem formalen Prinzip verbindet sich der Begriff eines „guten Willens“. Allein der gute Wille ist es, der sich nach diesem Prinzip bestimmt. Es fragt sich, ob die Sittenlehre mit der Betrachtung des guten Willens auskommt. Dass Kant nicht ausschließlich vom guten Willen handelt, ist eine triviale Festlegung: Kants Überzeugung nach jedermann, selbst der „ärgste Bösewicht“, sich „eines guten Willens bewusst“ sei, was im Hinblick auf die zynischen Ergebnisse der Geschichte im XX Jahrhundert eine eher metaphysisch optimistische Behauptung ist1.

Die Faktizität moralisch böser Handlungen würde man dann für eine Selbstverständlichkeit „sensus communi“ halten, wenn nicht die Existenz solcher Handlungen für Kants Konzept der Autonomie des moralischen Handelns gravierende Probleme aufwerfen würde2. Denn in seiner morali ← 12 | 13 → schen Theorie in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant, nachdem alle Versuche einer Deduktion des moralischen Gesetzes aus dem „höheren Grund“ gescheitert waren, freies und moralisch gutes Handeln im Begriff autonomen Handelns festgesetzt. Kants These lautete: Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beide zwei Seiten einer Minze, die die Autonomie heißt. Wenn jedoch nach diesem Konzept nur moralisch gutes Handeln auch autonom und frei ist, wäre nicht-moralisches Handeln nicht-frei und nicht-autonom. Diese Konsequenz einfacher logischer Negation jener Wechselbegriffe wäre absurd.

Darüber hinaus würde sie nicht nur das unmoralische Handeln unzurechenbar machen, sondern auch das moralisch gute Handeln. Denn dieses ist nur dann verdienstlich und zurechenbar, wenn ein frei handelndes Wesen auch anders als gut handeln könnte, das bedeutet: seine Handlung nicht im Sinne der Identifizierung von Freiheit mit der stets moralischen Autonomie sozusagen mechanisch ausübt, sondern um seinetwillen handelt. Wie in der Einleitung der Metaphysik der Sitten bringt der Gedanke der persönlichen Zurechenbarkeit mit sich, dass Kant das radikale Böse als Möglichkeit von Vernunft und Freiheit sieht, weil ein automatisches Tun des Guten nicht dienstlich und zurechenbar wäre. Mit anderen Worten gesagt: Die Grundlage kantischer Philosophie der praktischen Vernunft ist die Erkenntnis, dass die Freiheit nicht nur die Bedingung der Möglichkeit der Moral ist – sondern dass diese Freiheit als Selbstbestimmung auch der ursprüngliche Grund der Moral und des moralischen Gesetzes ist, d.h. dass die sittliche Differenz Gut/Böse ihre Voraussetzung, ihren Grund in der Freiheit hat3.

Zurechenbarkeit und Verdienstlichkeit in Kants Theorie setzen also voraus, dass ein Individuum stets auch nicht-moralisch muss handeln können, also über eine Freiheit zum Bösen verfügt. Andererseits müsste das Wechselverhältnis von Freiheit und Autonomie der praktischen Vernunft in ← 13 | 14 → den moralphilosophischen Hauptwerken Kants angesichts der faktischen Möglichkeiten moralisch bösen Handelns zu absurden Konsequenzen führen, dass dieses Wechselverhältnis in der These über das radikale Böse um der Zurechenbarkeit dieses Handelns willen und zugunsten einer Freiheit zum Bösen aufgelockert oder sogar aufgelöst werden sollte. Die ebenso einseitig „dezisionistische“ Gegenreaktion stellt die Position des liberum arbitrium indifferentiae zwischen Gut und Böse dar, die von jeher das Vernunftmonopol des moralischen Handelns, sowie der Autonomie, in Frage stellt

Die Zurechenbarkeit auch des moralisch Bösen wird dadurch zum Grundthema der ganzen Abhandlung Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die als einzige Schrift Kants ausschließlich dem Problem des moralisch Bösen in der Autonomiephilosophie gewidmet ist. Diese Zurechenbarkeit gründet in der Synonymität von Freiheit und Autonomie und macht die moralische Selbstgesetzgebung dementsprechend möglich, so dass man auch vom unmoralischen Handeln behaupten kann, es sei Handeln aus dem Grund der Freiheit und somit überhaupt erst moralisch qualifizierbares Handeln, das im Gegensatz zu einem unfreien, durch Natur-Kausalität bestimmten Reagieren steht.

Dieses grundsätzliche Problem im Konzept kantischer Autonomiephilosophie wurde zuerst und zunächst nicht von Kant, sondern von seinen Anhängern und Kritikern gesehen. Am prominentesten und gleichermaßen direkt unter den Augen Kants, neben denen von Carl Christian Erhard Schmid (Siehe Fußnote S. 61), war es Carl Leonhard Reinhold, der in seiner Ausführung der Willenstheorie im zweiten Band der Briefe über die Kantische Philosophie auf das Problem des Bösen bei Kant unwiderruflich aufmerksam machte und systematisch darauf zu reagieren versuchte. Eine wesentliche Ergänzung zu demselben Thema findet man dann in seinem kurzen Text Einige Bemerkungen über die in der Einleitung zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre von I. Kant aufgestellten Begriffe von der Freiheit des Willens. Beide Beiträge ordnen sich zu denjenigen Texten, welche bereits im Jahrzehnt nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft die Diskussion über Kants Freiheitstheorie angefangen haben und die, vom Standpunkt der neuzeitlichen Metaphysik des Willens aus, das fundamentale Problem des nichtmoralischen Handelns zum zentralen Thema kantischer Freiheitslehre machen. Zum letztgenannten Text von Reinhold existiert, soweit mir bekannt ist, keine sekundäre Literatur. ← 14 | 15 →

2. Konkretisierung der Fragestellung

Die Behandlung des Bösen bei Kant und Reinholds philosophischer Interpretation desselben im Rahmen der praktischen Philosophie kann man unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Allgemein gesagt, Kants Transzendentalphilosophie bedeutet für Reinhold einen kritischen Abschied von der ontologischen Tradition, die ihren Ursprung von dem platonischen Dualismus ableitet4. Seit Kant ist die von Platon herkommende Identifikation des „Guten“ mit dem Prinzip „Vernunft“ und des Bösen mit der „Sinnlichkeit“ zum Problem geworden, denn diese ontologische Auffassung, die sich als Abgrenzung vom Ewigen und vom Zeitlichen verstehen lässt, kann nicht willentlich böse und bewusst tugendwidrige Handlungen erklären.

Als gänzlich verfehlt muss deshalb jeder Versuch erscheinen, das Böse in seiner begrifflichen und ontologischen Selbstständigkeit der „Universalkrankheit“ alles geschaffenen Seienden in der Welt nach zu ordnen und lediglich als Defizient des absoluten Guten zu beschreiben. Dieses besagt in der Form, wie Reinhold die platonische Tradition überliefert5, dass niemand freiwillig Böses tue oder dem, was er für böse hält, nachgehe. Der vernünftige Mesnch wird also stets das anstreben, was er für gut hält; das Böse geschieht ausschließlich, wie Albert Schweitzer sagt, aus Mangel an Ansicht, wegen äußerer Bedrängnisse oder weil die Sinnlichkeit die Vernunft verdunkelt6.

Details

Seiten
184
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653056327
ISBN (ePUB)
9783653964707
ISBN (MOBI)
9783653964691
ISBN (Paperback)
9783631664537
DOI
10.3726/978-3-653-05632-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (April)
Schlagworte
Freiheit des Willens Wissen um das Selbst Theoretische und praktische Gewissheit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 184 S.

Biographische Angaben

Martin Muransky (Autor:in)

Martin Muránsky studierte Philosophie in Bratislava, war DAAD-Stipendiat in Bonn und FES-Stipendiat am Philosophischen Institut der Universität zu Köln. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Institut der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. In deutscher Sprache erschien seine Monographie «Heideggers Aneignung der Kantischen Grundlegung der Metaphysik» (Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2002).

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