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Gegenargumentieren in der Digitalkultur

Französische Internetforenbeiträge zu europapolitischen Fragen

von Claudia Schmitz (Autor:in)
©2016 Dissertation 378 Seiten

Zusammenfassung

Internetforen sind virtuelle Versammlungsorte, deren kommunikativen Kern – besonders bei politischen Diskursen – Argumentationen und Gegenargumentationen darstellen. Ziel der Studie ist es, die konstitutiven Sprechakte und sprachlichen Mittel des Gegenargumentierens in französischen Internetforumsbeiträgen zu europapolitischen Fragen zu ermitteln. Als Untersuchungskorpus dienen die polylogalen Diskussionen des von der Europäischen Kommission eingerichteten Internetforums «Debate Europe», welches u.a. von frankophonen Internetnutzern zur informellen politischen Deliberation genutzt wird. Für die Arbeit wird eine etymologische, rhetorische und argumentationstheoretische (im Sinne der Pragma-Dialektik) Herangehensweise gewählt.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Untersuchungsgegenstand
  • 1.2 Methodik und Aufbau
  • 1.3 Das Internetforum Debate Europe als Korpus: Eignung, Auswahl und Konstitution
  • 2. Annäherung an den Gegenargumentationsbegriff – Anmerkungen zu Etymologie und Vorkommen in Wörterbüchern
  • 2.1 Wortgeschichte von fr. contre(-), fr. contre-argumentation, fr. contrarguer und fr. argumenter contre qqc, qqn
  • 2.2 Wortgeschichte von dt. gegen, dt. Gegenargumentation, dt. argumentieren gegen etwas und dt. gegenargumentieren
  • 2.3 Zusammenfassung
  • 3. Zur Begriffsgeschichte der widerlegenden Verfahren und Redeteile in Traktaten der Rhetorik
  • 3.1 Gr. élenchos
  • 3.2 Gr. lýsis; anaskeuázein
  • 3.3 Lat. confutatio
  • 3.4 Lat. reprehensio
  • 3.5 Lat. refutatio
  • 3.6 Zusammenfassung
  • 4. Modelle und Strukturen der Gegenargumentation von der Antike bis zur Gegenwart
  • 4.1 Antisyllogismus/Gegendeduktion/gr. élenchos
  • 4.2 Gr. enstasis/dt. Einwand
  • 4.3 Gr. epicheirem/lat. ratiocinatio
  • 4.4 Das Modell der Eristischen Dialektik
  • 4.5 Layout of Argument
  • 4.5.1 La séquence argumentative prototypique
  • 4.5.2 Argumentationsmuster der Gegenargumentation
  • 4.6 Das Dissensmodell
  • 4.7 Nicht-minimales Argumentationsmodell
  • 4.8 Argumentationsdiagramm
  • 4.9 Argumentationssequenzen
  • 4.10 Contra-argumentation coming from an antagonist in der Pragma-Dialektik
  • 4.11 Argumentationsstränge/Makrostruktur einer Argumentation
  • 4.12 Netz-Diagramm-Format
  • 4.13 Riserva und conclusione alternativa in der struttura ad albero
  • 4.14 Textprofile der Opposition
  • 4.15 Zusammenfassung
  • 5. Gegenargumentation in der Pragma-Dialektik
  • 5.1 Allocation of discussion roles
  • 5.2 Typen von Disputen
  • 5.3 Stadien einer kritischen Diskussion
  • 5.4 Sprechakte des Antagonisten
  • 5.5 Eignung des idealen Modells einer kritischen Diskussion zur Analyse von Gegenargumentationen in politischen Internetforumsdiskussionen
  • 5.6 Zusammenfassung
  • 6. Kommunikative, digitaltechnologische und institutionelle Bedingungen für das Äußern von Gegenargumentationen im politischen Internetforum Debate Europe
  • 6.1 Kommunikationsbedingungen
  • 6.2 Digitaltechnologische und institutionelle Bedingungen
  • 6.3 Zusammenfassung
  • 7. Gegenargumentieren als ein Typ von kritischen Reaktionen im Internetforum Debate Europe
  • 7.1 Definition critical reactions
  • 7.2 Critical reaction(s) im Konfrontationsstadium als Voraussetzung für eine argumentative Diskussion
  • 7.3 Gegenargumentieren als type of critical reaction des Argumentationsstadiums
  • 7.4 Ziele des Gegenargumentierens als type of critical reaction des Argumentationsstadiums
  • 7.5 Zusammenfassung
  • 8. Makroskopie der gegenargumentativen Sprechakte des Antagonisten
  • 8.1 Konfrontationsstadium
  • 8.1.1 Wortwörtliches Referieren
  • 8.1.2 Nicht-wortwörtliches Referieren
  • 8.1.3 Mischformen des wortwörtlichen und nicht-wortwörtlichen Referierens
  • 8.2 Eröffnungsstadium
  • 8.2.1 Den Protagonisten auffordern, seinen Standpunkt zu verteidigen
  • 8.2.2 Zurückweisen von Prämissen
  • 8.3 Argumentationsstadium: Angreifende Sprechakte
  • 8.3.1 Tatsachenwertende Sprechakte des Antagonisten: RÉFUTER QUELQUE CHOSE
  • 8.3.1.1 Bewertungskriterium: Wahrheit
  • 8.3.1.2 Bewertungskriterium: Logik
  • 8.3.1.3 Bewertungskriterium: Relevanz
  • 8.3.1.4 Bewertungskriterium: Richtigkeit
  • 8.3.2 Personenwertende Sprechakte des Antagonisten: RÉFUTER QUELQU‘UN
  • 8.4 Zusammenfassung
  • 9. Ergebnisse und Ausblick
  • Literatur- und Quellenverzeichnis
  • Anhang

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1.   Einleitung

Dass die Gegenargumentation neben der Argumentation eine der wichtigsten Kommunikationstätigkeiten darstellt, ist seit der Antike bekannt. Obwohl es bisher einige Publikationen zu diesem Kommunikationsbereich gibt, fehlt doch in den romanischen Sprachwissenschaften, insbesondere in der deutschen Romanistik, eine Arbeit, die sich ausführlich mit einer bestimmten Textsorte auseinandersetzt und speziell deren konstitutive gegenargumentative Handlungen im Zeitalter der Digitalkultur1 untersucht. Die hohe Relevanz des Themas bestätigte das Wissenschaftsjahr 2014, welches sich der „digitalen Gesellschaft“2 widmete und die Folgen des digitalen Wandels auf den Alltag der Menschen untersuchte. Besonders das Handlungsfeld des „digitalen Miteinanders“3 stand im Fokus und somit die Kommunikation im Internet sowie die neuen Formen der politischen Mitbestimmung.

Ziel der Arbeit ist deshalb die Analyse der konstitutiven sprachlichen Handlungen des Gegenargumentierens sowie die Ermittlung der Realisierungsmöglichkeiten in französischen europapolitischen Diskussionsbeiträgen eines Internetforums. Zentrale Beachtung wird dabei die Bestimmung des Einflusses der digitalen Medien auf das Gegenargumentieren finden. Die Wahl des Korpus fiel auf das von der Europäischen Kommission initiierte Forum Debate Europe4, welches insgesamt 24 – nach Sprachen sortierte – Teilbereiche bietet. Es wurde sich auf den Teilbereich der Diskussionen in französischer Sprache fokussiert.

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war, dass Gegenargumentationen in Diskussionen erwartbare Handlungen darstellen, weshalb zunächst nach einer Textsorte in Online-Kommunikationsformen gesucht wurde, die es ← 11 | 12 → erlaubt, Meinungsverschiedenheiten zu einem Thema argumentativ zu diskutieren. Die Textsorte, die untersucht werden soll, ist deshalb der Internetforumsdiskussionsbeitrag. In ihm können Standpunkte zu unterschiedlichen Themen kritisch diskutiert werden, d. h. Argumentationen und Gegenargumentationen geäußert werden. Die Wahl der Politik als zu untersuchendem Diskursbereich soll hierbei die Entfaltung sprachlich komplexer gegenargumentativer Verfahren begünstigen.

Die Entscheidung hinsichtlich des Mediums fiel zugunsten eines Internetforums aus, da Internetforen als virtuelle Versammlungsorte zur informellen politischen Deliberation im digitalen Zeitalter gelten können.5 Es kann deshalb sicherlich Lewiński zugestimmt werden, der sie als „deliberative activities aimed at opinion-formation“ charakterisiert (Lewiński 2010: 70).

Unbestritten ist, dass das Gegenargumentieren fest in unseren täglichen Sprachgebrauch integriert6 und Bestandteil der Streitkultur von Sprach- und Kulturgemeinschaften sowie seit der Antike bestimmter Text- und Diskurstraditionen7 ist. Die Besonderheit der vorliegenden Studie liegt deshalb darin, eine an sich universelle kommunikative Tätigkeit in einer medial durch die besonderen Rahmenbedingungen der digitalen Kommunikation geprägten Umgebung zu untersuchen.

Der Begriff der Gegenargumentation ist wie derjenige der Argumentation äußerst komplex und deshalb schwierig zu definieren. Die Beschäftigung mit dieser Problematik setzte bereits in der Antike ein und hat bis heute keine ← 12 | 13 → allgemeingültige Definition des Begriffs hervorgebracht. Es wäre daher vermessen und auch nicht sinnvoll, im Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Studie, die Geschichte der Gegenargumentationsforschung zusammenfassen und darstellen zu wollen. Es sollen deshalb lediglich jene Ansätze und Theorien kurz zusammengefasst werden, die wichtige Erkenntnisse und Definitionsaspekte für das Analysevorhaben bereitstellen.

Es lässt sich anmerken, dass bis in die 1980er Jahre der gegenargumentative Diskurs insgesamt weniger Beachtung als der argumentative Diskurs findet, worauf zu Recht van Eemeren und Grootendorst (1984: 15) aufmerksam machen, wenn sie bemerken, dass „[t]he literature on argumentation generally focuses attention exclusively on pro-argumentation and tacitly ignores contra-argumentation.“ Derselben Auffassung sind Apothéloz, Brandt und Quiroz noch Anfang der 1990er Jahre, die feststellen, dass der „negative aspect of argumentation […] has seldom been studied elsewhere“ (Apothéloz/Brandt/Quiroz 1993: 23).

Seit den 2000er Jahren lässt sich eine leichte Trendwende erkennen (vgl. Pirazzini (2002); Anscombre (2002); Walton (2009); Lewiński (2010; 2011; 2014)). Als einschlägige Studien lassen sich seit Ende der 1970er Jahre – jeweils nach Sprachräumen getrennt – ermitteln: Für den französischen und anglophonen Raum können z. B. Moeschler (1982), Apothéloz/Brandt/Quiroz (1989), Anscombre (2002) Walton (2009), Lewiński (2010; 2011; 2014) und Amossy (2011) genannt werden. Im deutschen Raum können die Untersuchungen von Apeltauer (1977), Gruber (1996) und von Pirazzini (2002a) als wegweisend gelten.

1.1   Untersuchungsgegenstand

Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist die Gegenargumentation in politischen Internetforumsdiskussionen der Plattform Debate Europe im Französischen. Das Forum Debate Europe ist ein von der Europäischen Kommission initiiertes und betriebenes Forum, das es ermöglicht, die öffentliche Meinung zu sondieren. Es kann deshalb den von Regierungen gesponserten Internetforentypen (‘government-sponsored’8) zugeordnet werden. Das Internetforum bietet der Zielgruppe – den Bürgern Europas – die Möglichkeit, über aktuelle Themen Europas in 24 Sprachen der Europäischen Union zu diskutieren. Anders als in einer offiziellen politischen Debatte einer Regierungsinstitution unterliegen die ← 13 | 14 → Diskussionen9 des Internetforums Debate Europe keinen formalen Regeln10 (wie z. B. einer Geschäftsordnung, in der geregelt ist, wer wann und wie lange sprechen darf) einer organisierenden Körperschaft. Die Themen können sich (rund um europapolitische Fragen) frei entwickeln, und es herrscht kein antagonistisches Grundschema (Ja/Nein, pro/kontra), weshalb im Folgenden von Diskussionen und nicht von Debatten gesprochen wird.11

Die Diskussionen im untersuchten Internetforum werden in der Regel von den Nutzern begonnen und die Themenfindung in der Regel selber gestaltet.12 Es werden lediglich die Oberthemenbereiche (Avenir de l’Europe, Consommateurs et santé, Dialogue interculturel, Femmes et politique, etc.) von der Plattform Debate Europe vorgegeben, in denen die Diskussionen von den Diskussionsinitiierenden eingeordnet werden sollen (vgl. Abb. 38).

Die Studie beschränkt sich auf den französischen Teil13 des Forums, der auf gegenargumentative Äußerungen hin untersucht werden soll. Die hierzu selektierten Diskussionsbeiträge sind zwischen dem 29.01.2008 und dem 28.02.2010 auf der Internetplattform veröffentlicht worden. ← 14 | 15 →

1.2   Methodik und Aufbau

Die vorliegende Untersuchung ist in zwei Teile unterteilt: einen theoretischen und einen analytischen. Der theoretische Teil umfasst Kapitel 1–5, in denen sich der Gegenargumentation aus wortgeschichtlicher, rhetorischer und argumentationstheoretischer Perspektive genähert wird.

Nach der Betrachtung der Wortgeschichte und Wortfelder von fr. contre-argumentation sowie argumenter contre bzw. Gegenargumentation sowie gegenargumentieren (Kapitel 2) soll sich Kapitel 3 der begriffsgeschichtlichen Entwicklung der widerlegenden Verfahren und Redeteile in ausgewählten Traktaten der Rhetorik widmen.14

Auf der Grundlage einer ausführlichen Diskussion werden anschließend in Kapitel 4 einige wichtige antike Ansätze ausgewählt und zusammen mit modernen Theorien im Rahmen eines Überblicks über die wissenschaftlichen Modelle und gegenargumentativen Strukturen besprochen.15 Es soll zum einen die Frage beantwortet werden, welche argumentationstheoretischen Ansätze bereits bestehen, und welcher bzw. welche am besten geeignet ist bzw. sind, politische Internetforumsdiskussionen auf gegenargumentative sprachliche Handlungen und Strukturen zu analysieren, sowie zum anderen, ob und inwiefern sich die präsentierten Ansätze systematisieren lassen, um ausgehend von diesen Erkenntnissen zu einer Arbeitsdefinition der Gegenargumentation zu gelangen. Nach dem Überblick über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gegenargumentation wird in Kapitel 5 die Argumentationstheorie ausführlicher vorgestellt, die den höchsten Differenziertheitsgrad für die Analyse im Hauptteil vorweist: der pragma-dialektische Ansatz der Amsterdamer Schule, der zudem bereits auf den politischen Diskurs Anwendung fand.16 ← 15 | 16 →

Der analytische Teil beginnt mit Kapitel 6, in dem in einem ersten Schritt die Kommunikationsbedingungen des Internetforums Debate Europe in Hinsicht auf ihren Einfluss auf die Gegenargumentationsgestaltung untersucht werden. In einem zweiten Schritt soll der Einfluss der technischen und institutionellen Bedingungen diskutiert werden. In Kapitel 7 wird der Frage nachgegangen, inwieweit das Gegenargumentieren als ein Typ von kritischer Reaktion im Sinne von van Eemeren und Grootendorst im Internetforum Debate Europe charakterisiert werden kann und welche Ziele damit angegriffen werden können.

Aus makroskopischer Perspektive sollen in Kapitel 8 konstitutive argumentative Handlungen und Züge (argumentative moves17) des Antagonisten, die zusammen die Makrostruktur der Gegenargumentation ausbilden, ermittelt und an Korpusbeispielen unter Berücksichtigung des Modells einer kritischen Diskussion der pragma-dialektischen Argumentationstheorie erläutert werden,. Es soll dabei der Frage nachgegangen werden, welche sprachlichen Mittel im Französischen Gegenargumentationen indizieren.

Das neunte und letzte Kapitel stellt abschließend noch einmal alle Ergebnisse der Studie resümierend dar und zeigt weiterführende Forschungsfragen auf, die sich aus den Erkenntnissen ableiten lassen.

Methodisch wird qualitativ und nicht quantitativ vorgegangen. Diese Entscheidung lässt sich dadurch begründen, dass eine detaillierte Beschreibung einzelner Phänomene der Auswertung von Frequenzbestimmungen vorgezogen wird. Für eine qualitative Vorgehensweise zur Analyse von kritischen Reaktionen im Rahmen von politischen Internetforumsdiskussionen spricht sich bereits Lewiński (2010: 6) aus:

What is needed for this task are analytic tools sensitive enough to grasp the specificities of contextualised argumentation, that is, tools that are instrumental in spelling out the argumentative qualities of the context in question, in specifying the functions a given move plays in argumentative discussion, in reconstructing the implicit and indirect parts of argumentation and, eventually, in evaluating the move’s reasonableness. It is contemporary theory of argumentation that provides such tools. Therefore, in general, qualitative methods of argumentation theory are more adequate to studying phenomena of online argumentative discourse than quantitative content analysis routinely employed by political theorists, communication scholars and sociologists interested in online argumentation. (Eigene Hervorhebung) ← 16 | 17 →

Die qualitativen Methoden der Argumentationstheorie der Amsterdamer Schule sieht Lewiński als geeignet bzw. „sensitive enough“ für die Studie von argumentativen Zügen (moves) in argumentativen Diskussionen. Ihre Argumentationstheorie stelle die Analysewerkzeuge „to grasp the specificities of contextualised argumentation” (Lewiński 2010: 6); im vorliegenden Fall im Kontext von Internetforumsbeiträgen zu EU-politischen Themen.

Nach der Ermittlung der konstitutiven argumentativen Handlungen (Referieren, negatives Bewerten (Angreifen), argumentatives Stützen des Angriffs18) zur Verbalisierung einer Gegenargumentation wird induktiv nach den sprachlichen Realisierungsformen19 im Korpus gesucht, um darüber Rückschlüsse auf das „Vertextungsmuster“ Gegenargumentation zu ziehen. Das Konzept des „Vertextungsmusters“ geht auf den textlinguistischen Ansatz von Heinemann (2000) zurück. Letzterer beschäftigt sich ausführlich mit dem Vertextungsmuster Deskription – welches neben Narration und Argumentation zum Grundkanon der textlinguistischen Fachliteratur zählt. Heinemann (2000: 57) bemerkt, dass Vertextungsmuster im Rahmen von globalen Strategiemustern zu platzieren seien:

Globale Strategiemuster sind auch die Basis für die Entscheidung eines Textproduzenten für eine bestimmte Grundform der strukturellen und sprachlichen Gestaltung eines Textes (unter bestimmten situativen Bedingungen), eben für die Vertextung des jeweiligen Sprecher-Anliegens. Solche Vertextungsmuster können als Teilkomponenten von umfassenderen Strategien gefasst werden, als Ensembles von Verfahren zur Textherstellung im engeren Sinne.

Daraus ließe sich folgern, dass die Situationsbedingungen – wie es beispielsweise Anonymität, Asynchronität, Raum-Zeit-Trennung der Kommunikationspartner in einem Internetforum wären – Einfluss auf die Vertextung des Sprecher-Anliegens haben könnten und somit auf die strukturelle und sprachliche Gestaltung des Gegenargumentierens, welche als verbale Strategie der Ablehnung im Sinne von Kleinke (2007: 330) verstanden werden kann. ← 17 | 18 →

Neben den sprachlichen Mitteln, die einem Sprecher individuell zur Verfügung stehen, um seiner „Kommunikationsaufgabe“20 gerecht zu werden und sein Anliegen vorzubringen, soll deshalb ebenfalls untersucht werden, welche Kommunikationsbedingungen tatsächlich Einfluss auf die Vertextung haben.

1.3   Das Internetforum Debate Europe als Korpus: Eignung, Auswahl und Konstitution

Das von der Europäischen Kommission eingerichtete Internetforum Debate Europe (http://europa.eu/debateeurope/index_fr.htm) ist ein öffentlicher, virtueller Raum für multilinguale transnationale Diskussionen. Mittels des Forums soll versucht werden, eine Brücke zwischen EU-Institutionen und Bürgern zu schlagen und die Kommunikation zu erleichtern.21 Es eignet sich zur Analyse von Gegenargumentationen in argumentativen Texten des Französischen, da es sich um (informelle) Diskussionen zwischen mindestens zwei Parteien handelt und somit um typische kritische Diskussionen (critical discussions) im Sinne von van Eemeren und Grootendorst (1984; 1992; 2004; 2010).

Van Eemeren und Grootendorst definieren eine kritische Diskussion als eine Diskussion

between a protagonist and an antagonist of a particular standpoint in respect of an expressed opinion, the purpose of the discussion being to establish whether the protagonist’s standpoint is defensible against the critical reactions of the antagonist. (van Eemeren/Grootendorst 1984: 17)

Das Forum bietet den Vorteil, authentische (Alltags22-)Argumentationen in insgesamt 24 Sprachen abzubilden, wobei der Fokus auf den französischen Teil des Forums gelegt wird, der argumentative Diskussionen in Form eines critical exchange zwischen (in der Regel) französischsprachigen Diskussionsteilnehmern enthält.23 Ziel der Europäischen Kommission ist – laut der Internetseite –, eine ← 18 | 19 → Plattform bereitzustellen, auf der die Diskutierenden aktiv an der Gestaltung der Politik der EU teilhaben können.24 Die politische Partizipation ist tatsächlich eine begrenzte,25 da keine Gesetze, Resolutionen oder andere juristisch legitimierten Entscheidungen im Anschluss an die Diskussionen verabschiedet werden.

Dass die Beiträge der Internetforumsdiskussionen als typisch argumentativ angesehen werden können, ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass argumentative sprachliche Handlungen konstitutiv sind,26 und zum anderen durch die große Beachtung, die den Online-Forumsdiskussionen innerhalb der Argumentationsforschung beigemessen wird (vgl. z. B. Pirazzini 2006; Kleinke 2007; Abott et al. 2011; Amossy 2011). Besonders die Studie Internet political discussion forums as an argumentative activity type: A pragma-dialectical analysis of online forms of strategic manoeuvring in reacting critically von Lewiński (2010) unterstreicht dieses Phänomen und kann als bisher ausführlichste Auseinandersetzung mit diesem Themenbereich in Bezug auf die englische Sprache gelten.

Zur Auswahl des Internetportals Debate Europe ist zu sagen, dass eine möglichst heterogene, aktuelle europapolitische Themenzusammenstellung angestrebt wurde und Dispute als konstitutive Phänomene enthalten sein sollten. Insgesamt wurden Diskussionen zu 26 verschiedenen europapolitischen Themen ausgewählt (Korpus A-Z vgl. Anhang). Die 26 Diskussionen, die das Korpus konstituieren, bestehen aus mindestens sechs Diskussionsbeiträgen (wie in Korpus M) und können mehrere hundert Beiträge (z. B. Korpus A) unterschiedlicher Autoren enthalten. Der Vorteil der hohen Anzahl von unterschiedlichen Diskussionsbeitragsautoren soll dazu beitragen, ein breites Spektrum an Gegenargumentationen abzubilden.

Im initialen Internetforumsdiskussionsbeitrag ist in der Regel ein Standpunkt eines Diskussionsbeitragsautors oder eine Quaestio enthalten, der bzw. die Anlass zu einer Meinungsverschiedenheit (difference of opinion) gibt, welche mittels ← 19 | 20 → kritischer Diskussion zu lösen versucht wird. Eine Meinungsverschiedenheit (als grundsätzlicher Ausgangspunkt einer jeden argumentativen Handlung im pragma-dialektischen Ansatz) ist aufgrund der stark polarisierenden politischen Thematiken im Forum Debate Europe nicht nur zu erwarten, sondern auch notwendige Voraussetzung für das Äußern einer Gegenargumentation eines Antagonisten. Dass in den Forumsdiskussionen Gegenargumentationen zu erwarten sind, ist auf zwei maßgebliche Aspekte zurückzuführen: Zum einen ist dies auf die politische Ausrichtung der Diskussionen zurückzuführen, da „online political discussions can be expected to be more emphatically argumentative than, say (information-based) online medical discussions, even if both these types of discussion are supported by the same technology“ (Lewiński 2010: 82). Und „more emphatically argumentative“ soll in der vorliegenden Studie interpretiert werden als verstärkt argumentativ, d. h. dass der kommunikative Kern der Diskussionen das Argumentieren (und damit auch das Gegenargumentieren) darstellt (von Protagonisten sowie Antagonisten). Zum anderen sind Gegenargumentationen zu erwarten aufgrund der allgemein angenommenen Präferenz für „forms of disagreement“ (Lewiński 2010: 85) in der Internetforumskommunikation. Disagreement, welches für politische Diskussionen konstitutiv ist, kann u. a. durch die Konfrontation eines Standpunkts mit Zweifeln geäußert werden und den Schreiber veranlassen, den Leser mittels Argumentation von seinem Standpunkt zu überzeugen. Das Alternieren von zustimmenden und ablehnenden Gesprächsschritten ist nicht zuletzt der Handlung >Diskutieren< geschuldet. Kleinke (2007) weist auf die allgemeine Präferenz für „ablehnende Gesprächsschritte“ innerhalb der „Gesprächssorte >Diskussion<“ hin – zu denen auch die Gegenargumentationen gezählt werden können:

Eine Besonderheit der Gesprächssorte >Diskussion< liegt in ihrer spezifischen Art der Präferenzorganisation. Im Unterschied zum >informellen Gespräch<, in dem zustimmende Gesprächsschritte aufgrund ihrer Strukturmerkmale durch Levinson als >bevorzugte Gesprächsschritte< identifiziert wurden, gilt nach Pomerantz, Jacobs und Kotthoff in der Diskussion die verbale Ablehnung als bevorzugte Strategie in Realdiskussionen. (Kleinke 2007: 330)

Mit Gegenargumentationen können demzufolge Strategien verbaler Ablehnung in politischen Internetforumsdiskussionen verfolgt werden. Aber ob verbale Ablehnung im Forum Debate Europe tatsächlich zu den bevorzugten Strategien und Gesprächsschritten zählt, müsste in Form von statistischen Auswertungen verifiziert werden, was jedoch in der vorliegenden Studie aufgrund der qualitativen ← 20 | 21 → Ausrichtung nicht überprüft werden kann.27 Die 26 Korpustexte (Diskussionsthreads) sind nach derzeitigem Stand (Mai 2016) im Internet unter http://europa.eu/debateeurope/about/index_fr.htm abrufbar, auch wenn das Forum am 28.02.2010 geschlossen wurde (vgl. dazu Kapitel 6.2). Um die aus den Diskussionsthreads stammenden und im Analyseteil untersuchten Diskussionsbeiträge im Original zu finden, reicht es in der Regel, die Überschrift und die ersten Worte in Kombination mit dem Forumsnamen in eine Suchmaschine einzugeben.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das von der Europäischen Kommission initiierte Internetforum eine asynchrone, informelle, politische Diskussion im öffentlichen Raum zwischen europapolitisch interessierten Frankophonen ermöglicht. Argumentationen und Gegenargumentationen zählen aufgrund der Politik als zu untersuchendem Diskursbereich zu den erwartbaren sprachlichen Handlungen, da sie den kommunikativen Kern dieses Tätigkeitsfelds darstellen. ← 21 | 22 →

Details

Seiten
378
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653056785
ISBN (ePUB)
9783653964523
ISBN (MOBI)
9783653964516
ISBN (Hardcover)
9783631664636
DOI
10.3726/978-3-653-05678-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Juni)
Schlagworte
Widerlegung Rhetorik Internetforum politische Deliberation
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 378 S., 1 farb. Abb., 47 s/w Abb.

Biographische Angaben

Claudia Schmitz (Autor:in)

Claudia Sofie Schmitz studierte französische und italienische Philologie sowie Kulturanthropologie an der Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Pragma-Dialektik, Sozio- und Varietätenlinguistik sowie Lexikographie.

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