Lade Inhalt...

Gesundheitsförderung an Schulen aus ethischer Sicht

Das Leitbild der Gesundheitsgerechtigkeit im Setting Schule

von Janika Suck (Autor:in)
©2015 Dissertation 232 Seiten

Zusammenfassung

Janika Suck greift ein aktuelles Thema auf: Trotz eines funktionierenden medizinischen Versorgungssystems können sozial benachteiligte Familien die Gesundheitsförderung ihrer Kinder häufig nur unzureichend realisieren. Eine Vielzahl von Studien weist auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialer Herkunft bei Heranwachsenden hin. Daher stellt sich die Frage nach einer ethisch begründeten Legitimation zur Aufarbeitung bestehender Sozialisationsdefizite. Die Bildungsinstitution Schule erhält im curricularen Kontext zunehmende Verantwortung, Strategien für eine nachhaltige Gesundheitsförderung in den Schulalltag zu integrieren. Vor diesem Hintergrund entwickelt die Autorin Vorschläge, wie SchülerInnen kompetenzorientiertes, gesundheitsförderliches Verhalten erwerben können.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • I. Gesundheit aus der Sicht der Ethik
  • 1. Typen ethischer Argumentationen
  • 1.1 Tugendethik
  • 1.2 Deontologische Ethik
  • 1.3 Der Utilitarismus
  • 2. Sozial- und Individualethik
  • 3. Verantwortung als Kernprinzip der Ethik
  • 4. Das Recht auf Gesundheit aus normativ-ethischer Perspektive
  • 5. Befähigung als Gerechtigkeitskriterium: Ein Beitrag zur gesundheitlichen Chancengleichheit
  • 6. Fazit
  • II. Grundlagen im gesundheitswissenschaftlichen Diskurs
  • 1. Gesundheit und Krankheit
  • 1.1 Das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit
  • 1.2 Grundsätzliche Gemeinsamkeiten moderner Auffassungen über Gesundheit und Krankheit
  • 2. Gesundheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln
  • 2.1 Gesundheit in den Buchreligionen
  • 2.1.1 Gesundheit im Christentum
  • 2.1.2 Gesundheit im Islam
  • 2.1.3 Gesundheit im Judentum
  • 2.1.4 Zusammenstellung der Gesundheitsaspekte in den Buchreligionen
  • 2.2 Gesundheit aus pathogenetischer Sicht
  • 2.3 Der Zusammenhang zwischen Wohlbefinden und Gesundheit
  • 2.4 Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Leistungsfähigkeit
  • 2.5 Homöostase versus Heterostase
  • 2.6 Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Anpassungsfähigkeit
  • 2.7 Fazit
  • 3. Gesundheitspädagogische Begriffsbildung
  • 3.1 Gesundheitserziehung
  • 3.2 Gesundheitsbildung
  • 3.3 Gesundheitsförderung
  • 3.3.1 Empowerment
  • 3.3.2 Ziele der Gesundheitsförderung
  • 3.4 Gesundheitskompetenz
  • 3.5 Gesundheitsbildung, Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung im didaktischen Diskurs
  • III. Gesundheitsmodelle
  • 1. Das Salutogenese-Modell nach Aaron Antonovsky
  • 1.1 Eckpunkte einer salutogenetischen Orientierung
  • 1.2 Stressoren und Widerstandsressourcen
  • 1.3 Das Kohärenzgefühl
  • 1.4 Kritik
  • 2. Das Resilienz-Modell
  • 2.1 Merkmale des Resilienz-Modells
  • 2.2 Resilienzfaktoren
  • 2.3 Kritik
  • 3. Das Sozialisationsmodell nach Hurrelmann
  • 3.1 Merkmale des Sozialisationsmodells
  • 3.1.1 Die produktive Realitätsverarbeitung
  • 3.1.2 Selbstbild und Identität im Sozialisationsmodell
  • 3.1.3 Entwicklungsaufgaben im Sozialisationsmodell
  • 3.1.4 Personale und soziale Ressourcen
  • 3.2 Risiko- und Schutzfaktoren im Sozialisationsmodell
  • 3.3 Kritik
  • 3.4 Modellvergleich
  • IV. Soziale Ungleichheit als Ursache für gesundheitliche Ungleichheit
  • 1. Gesundheitliche Ungleichheit durch Armut
  • 1.1 Die Verwendung des Armutsbegriffs
  • 1.2 Armut bei Kindern und Jugendlichen
  • 1.3 Gesundheitliche Auswirkungen bei armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen
  • 1.3.1 Das „Kinderpanel“: Vorgehensweise und Zielsetzung
  • 1.3.2 Die Rolle des Wohlbefindens im „Kinderpanel“
  • 1.4 Gesundheitliche Auswirkungen des elterlichen Bildungsstands auf Kinder und Jugendliche
  • 1.5 Überblick über Gesundheitsdefizite bei sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen
  • 1.5.1 Säuglingssterblichkeit
  • 1.5.2 Unfälle bei Kindern
  • 1.5.3 Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen
  • 1.5.4 Der Zusammenhang zwischen dem sozialen Status und der psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen
  • 1.5.5 Ergebnisse von Schuleingangsuntersuchungen
  • 2. Gesundheitliche Ungleichheit durch Migration
  • 2.1 Auswirkungen der Migration auf die Gesundheit
  • 2.2 Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
  • V. Gesundheitsförderung in Schulen
  • 1. Schule als geeignetes Setting zur Gesundheitsförderung
  • 1.1 Entwicklung und Zielsetzung des Setting-Ansatzes
  • 1.2 Vorteile des Setting-Ansatzes
  • 2. Ganzheitliche Gesundheitsförderung im Setting Schule
  • 2.1 Entwicklungslinien zu einer ganzheitlichen Gesundheitsförderung
  • 2.2 Gesundheitsbildung im Schulalltag
  • 2.3 Kriterien und Handlungsfelder für gesundheitsfördernde Schulen
  • 2.3.1 Förderung der psychischen und sozialen Gesundheit
  • 2.3.1.1 Die Progressive Muskelentspannung
  • 2.3.1.2 Phantasiereisen
  • 2.3.1.3 Die Stärkung des Selbstwertgefühls
  • 2.3.1.4 Konfliktlösestrategien
  • 2.3.2 Bewegung
  • 2.3.2.1 Die Wirkung der Bewegung auf das Lernen
  • 2.3.2.2 Möglichkeiten zur Bewegungsförderung in der Schule
  • 2.3.3 Ernährung
  • 2.3.3.1 Ernährung in den Unterrichtspausen
  • 2.3.3.2 Integration der Ernährungsbildung in den Unterricht
  • 2.3.4 Schulische Kooperationspartner
  • 2.3.5 Pausenplatzgestaltung
  • 2.4 Ziele zur Umsetzung der Gesundheitsförderung
  • 3. Etablierung von Verbindlichkeiten in gesundheitsfördernden Schulen
  • 3.1 Festlegung schulischer Gesundheitsförderung als Kompetenzentwicklung
  • 3.2 Verbindlichkeit durch curriculare Verankerung
  • 3.2.1 Verbindlichkeit durch Themenfestlegung
  • 3.2.2 Verbindlichkeit durch curricular verankerte Kompetenzerwartungen
  • 3.2.2.1 Kompetenzerwartungen am Ende der Jahrgangsstufe
  • 3.2.2.2 Kompetenzerwartung am Ende der Jahrgangsstufe
  • 3.2.2.3 Kompetenzerwartungen am Ende der Jahrgangsstufe
  • 3.3 Verbindlichkeit durch die Verankerung im Schulprogramm und schulspezifische Konzepte
  • 3.4 Verbindlichkeit durch die Einrichtung von Unterstützungssystemen
  • 3.5 Modell zur kompetenzorientierten Gesundheitsförderung
  • 3.6 Fazit
  • VI. Ergebnisse
  • 1. Ethische Argumente zur Gesundheitsförderung
  • 2. Die Komplexität der Gesundheitsverständnisse
  • 3. Salutogenetisch ausgerichtete Gesundheitsmodelle
  • 4. Der Zusammenhang von gesundheitlicher und sozialer Benachteiligung
  • 5. Schulische Entwicklungsmöglichkeiten zur Gesundheitsförderung
  • 6. Fazit und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

| 13 →

Einleitung

Kommunale, landes- und bundesweite Gesundheitsstudien sowie zahlreiche Schuleingangsuntersuchungen weisen seit Jahren eine alarmierende Verschlechterung in der Gesundheitsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen nach. Trotz eines gut funktionierenden deutschen Versorgungssystems und ausreichender medizinischer Hilfe für alle Bevölkerungsschichten kann in Deutschland nicht von einer problemlosen gesundheitlichen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen gesprochen werden.1 Studienergebnisse zeigen,2 dass bereits im Kinder- und Jugendalter gesundheitsrelevante Einstellungen erworben werden, so dass eine frühzeitige Gesundheitsförderung im Rahmen einer umfassenden Gesundheitsbildung sinnvoll erscheint. Gesundheitliche Fehlentwicklungen im frühen Kindes- und Jugendalter haben gravierende Auswirkungen auf die spätere Individualentwicklung. Defizitäre Syndrome treten verstärkt in den Bereichen der motorischen Entwicklung, der Sprachentwicklung sowie der Ausprägung des Wahrnehmungsvermögens und der Hör- und Sehfähigkeit auf. Des Weiteren werden vermehrt psychische Auffälligkeiten im Kindesalter diagnostiziert und es wird eine stetig steigende Zahl adipöser Kinder und Jugendlicher beklagt. Letzteres lässt sich auf unterschiedliche Formen von Fehlernährung und Bewegungsmangel zurückführen. Häufig entsteht eine Kumulation unterschiedlicher Gesundheitsdefizite, die in einen Teufelskreis der gesundheitlichen Fehlentwicklung mündet.

Gesundheitschancen und gesundheitliche Defizite sind keinesfalls gleichmäßig innerhalb der Bevölkerung verteilt. Es besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und defizitärer gesundheitlicher Entwicklung.3 Unterschiedliche Studien dokumentieren eine überproportional hohe gesundheitliche Belastung sozial benachteiligter Gruppen. Dabei erhält der elterliche Bildungsstand als Korrelat des gesundheitlichen Zustandes von Kindern und Jugendlichen zentrale Bedeutung: Benachteiligte gesellschaftliche Gruppen sind weitaus stärker von Gesundheitsdefiziten betroffen als Kinder und Jugendliche aus Familien mit einem hohen Bildungsstand.

Wenn sich diese Einschätzung bestätigt, könnte es im Sinne einer zukunftsorientierten Planung institutioneller Aufgabenstellungen liegen, Möglichkeiten ← 13 | 14 → und Strategien zu entwickeln, die nachhaltig die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen verbessern. Wichtig erscheint, das soziale Setting Schule hinsichtlich seiner Bedeutung für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Elternhäusern zu thematisieren. Hiervon ausgehend ergeben sich Möglichkeiten einer flächendeckenden Gesundheitsförderung zugunsten von Kindern und Jugendlichen, um defizitären Entwicklungen entgegenzuwirken.

Diese Arbeit setzt sich im ersten und zweiten Teil mit ethischen4 und gesundheitswissenschaftlichen5 Basisüberlegungen auseinander. Innerhalb des ethischen Abschnitts werden philosophische Grundrichtungen und Überlegungen zum Verantwortungs- und Gerechtigkeitsbegriffs bezogen auf die vorliegende Themenstellung konkretisiert und Aussagen zum Wert der Gesundheit aus ethischer Sicht beleuchtet. Innerhalb des gesundheitswissenschaftlichen Diskurses werden die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen von Gesundheit und Krankheit diskutiert und ihre thematische Relevanz analysiert. Anschließend werden im dritten Teil Gesundheitsmodelle vorgestellt6 und kritisch hinterfragt, um Indikatoren für eine Förderung gesundheitlicher Entwicklungen mit verschiedenen Schwerpunkten zu erarbeiten. Zudem liefert die Arbeit im vierten Teil einen Überblick über die Verteilungsungerechtigkeit von gesundheitlichen Chancen.7 Aus der Analyse der theoretischen Modellsicht des dritten Teils und den Studienergebnissen des vierten Teils lassen sich darauf aufbauend Anregungen und Strategien für die Praxis der Gesundheitsförderung im Setting Schule ableiten und ausformulieren. Aus den soziologischen und pädagogischen Überlegungen können Rahmenbedingungen zur Förderung der Gesundheit an Schulen entwickelt und modellhaft aufbereitet werden. Daraus ergibt sich das Anliegen, Schulen gesundheitsförderlicher zu gestalten, um der Befähigungsgerechtigkeit benachteiligter Kinder und Jugendlicher im ethischen Sinne Rechnung zu tragen. Im letzten Teil werden die Ergebnisse zusammengestellt und weiterführende Aspekte der Gesundheitsförderung dargelegt.

1 Vgl. Peschel, Gesundsein als Bildungsaufgabe unter besonderer Berücksichtigung der Suchtprävention, S. 11.

2 Vgl. unten Kapitel IV.

3 Vgl. unten Kapitel IV.1, IV.2.

4 Vgl. unten Kapitel I.

5 Vgl. unten Kapitel II.

6 Vgl. unten Kapitel III.

7 Vgl. unten Kapitel IV.

| 15 →

I. Gesundheit aus der Sicht der Ethik

Ethik untersucht als Reflexionswissenschaft der Moral das menschliche Handeln normativ.8 Eine ethische Betrachtungsweise orientiert sich an der Vernunft und bezieht sich auf die Gültigkeit der moralisch normativ erhobenen Ansprüche.9 Durch die normative Komponente grenzen sich ethische Überlegungen von denjenigen Ansätzen der Moralphilosophie und Moralsoziologie ab, die empirisch deskriptiv vorgehen. Soziologische Betrachtungen beschränken sich auf die Faktizität moralischen Handelns und überlassen die Klärung ihrer Gültigkeit oder der Moralität der Ethik. Dazu werden soziologisch erforschte, empirische Kenntnisse über das menschliche Handeln aufgegriffen, um den sozialen Gesichtspunkt der intersubjektiven Vermitteltheit der gemeinsamen Handlungswelt auszuweiten.10 Ethik und Soziologie (auch Psychologie) verbindet die Absicht, menschliches Handeln vor dem Hintergrund seiner bedingenden Faktoren aufzuklären. Demgegenüber kann das ethische Interesse primär als normativ beschrieben werden, weil die Untersuchung und Ausweisung des moralischen Anspruchs von Handlungen Gegenstand der ethischen Betrachtung sind.11 Pieper fasste die Abgrenzung der Psychologie und Soziologie von der Ethik wie folgt zusammen:

„Psychologie und Soziologie reflektieren die menschliche Praxis bezüglich ihrer empirischen Beschaffenheit, während es der Ethik um deren normative Gültigkeit zu tun ist, die sich nur in der Thematisierung des Verhältnisses von Moral und Moralität angemessen bedenken lässt. Gleichwohl setzt Ethik voraus, dass eine Handlung sowohl psychische als auch soziale Bedingungen hat, die jeweils von eigenen Wissenschaften untersucht werden.“12

In der hier vorliegenden Arbeit wird der enge Zusammenhang zwischen der Soziologie mit ihren empirisch gewonnenen Daten zum Gesundheitszustand Jugendlicher und ethischen Überlegungen deutlich, die pädagogisch normatives Handeln notwendig erscheinen lassen.

Grundsätzlich gewinnt Ethik durch zunehmende Pluralität der Wertehaltungen und Lebensentwürfe einerseits und den Verlust religiös begründeter ← 15 | 16 → Normsysteme andererseits in der heutigen Zeit an Bedeutung.13 Die Relevanz ethischer Betrachtungen zeigt sich in der Ausdifferenzierung zwischen evaluierenden und normativen Fragen des guten Lebens bzw. des moralisch Richtigen.14 So ist es Ziel der Ethik, nicht nur erklärend, sondern kritisch handlungsleitend zu fungieren.15 Vossenkuhl verstand die Ethik als Konfliktwissenschaft, die zwar keine fertigen Problemlösungen darlegt, aber exemplarisch Verfahren entwickelt, die einen Zugang ermöglichen, zu moralisch verantwortbaren Ergebnissen zu gelangen.16 Sie ist besonders dann gefordert, wenn durch sich verändernde Grundlagen und Prinzipien das menschliche Handeln neu zu überdenken ist. Konkret sind damit aktuelle Herausforderungen gemeint, die sich oft im Widerspruch zu bestehenden moralischen Wertevorstellungen17 befinden. Die ethische Bewertung neuer Forschungserkenntnisse im Bereich der Naturwissenschaften, vor allem in der Biomedizin, nimmt Einfluss auf politische Handlungen.18 Exemplarisch kann der Zusammenhang zwischen Ethik und Politik am Beispiel der jahrelang umstrittenen PID19 verdeutlicht werden. ← 16 | 17 → Mit diesen und anderen ähnlich intensiv diskutierten Phänomenen beschäftigt sich die Medizinethik, die terminologisch auf den englischen Arzt Thomas Percival (1740–1804) zurückzuführen ist und deren Entwicklung in der Aufklärungsepoche ihren Anfang genommen hat.20 Ihre Urteilsbildung knüpft an Prinzipien der jüdisch-christlichen Tradition und der abendländischen Philosophie an, wobei sie auf die gegenwartsbezogene Fortentwicklung ethischer Prinzipien abzielt und damit Verantwortung für Werte und Normen übernimmt, die dem aktuellen Fortschritt der Biotechnologie, aber auch modernen Strukturen des Gesundheitswesens gerecht werden.21 Durch die Frage nach dem individuellen Gesundheitswert sowie Überlegungen zur gerechten und verantwortungsvollen Verteilung gesundheitsrelevanter Güter werden Aufgabenfelder der Medizinethik berührt, deren Prinzipien durch Typologien ethischer Grundargumentationen im Folgenden dargelegt werden sollen.

1. Typen ethischer Argumentationen

Es werden zunächst drei für diese Arbeit relevante Grundrichtungen der Ethik dargestellt (Tugendlehre, deontologische Ethik und Utilitarismus), deren Aussagen im weiteren Verlauf die Forderung nach gesundheitlicher Chancengleichheit unterstreichen.

1.1 Tugendethik

Die Tugendethik geht im Kern davon aus, dass sich eine gute Handlung dann ergibt, wenn sie von einem tugendhaften Menschen ausgeführt wird. So gilt die Grundhaltung des Menschen als konstitutives Merkmal für die Tugend.22 Unter dem Gesichtspunkt einer Tugendethik werden innere Haltungen konstruiert und kritisch-hermeneutisch unterschiedliche Tugenden analysiert, die Entscheidungen für das Gute bedingen. Im Ursprung geht die Tugendethik auf Platon zurück und wurde von Aristoteles weiter entwickelt.23 Nach Aristoteles wird der einzelne Bürger nicht als Gemeinschaftswesen geboren, sondern muss sich erst für die Gesellschaft durch planvolles und einsichtiges Handeln tauglich machen.24 Dabei stützt er sich auf allgemein gültige, für alle verbindliche ← 17 | 18 → Wertesysteme und Normen als Orientierungshilfe.25 Als Tugend wird nach aristotelischem Verständnis folgende Wesensgrundhaltung gesehen:

„Tugend ist jene Tüchtigkeit der Seele, die den einzelnen befähigt, ein Ziel anzustreben, über dessen Wert in der Polis ein Konsens besteht, und dieses Ziel mit wirtschaftlich vertretbaren Mitteln umzusetzen.“26

Im Zusammenhang dieser Definition wird deutlich, dass moralisches, wirtschaftliches und politisches Handeln für Aristoteles ineinandergreifen. Aus aristotelischer Sicht bedeutet Tugend insgesamt die Qualität einer Lebensform, die sowohl ein individuell gutes Leben als auch ein kollektiv gutes Leben ermöglicht.27

Für ein vertieftes Tugendverständnis differenzierte Aristoteles zwischen ethischen Tugenden (Charaktertugenden) und rationalen Tugenden (z.B. Verständigkeit und Klugheit).28 Charaktertugenden bezeichnen nach Aristoteles eine sittliche Grundhaltung, die durch Gewöhnung entstanden ist und sich in dem jeweiligen Handlungskontext als Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit usw. definieren lässt.29 Rationale Tugenden eines Menschen sorgen bei zu treffenden Entscheidungen dafür, „dass Augenmaß und Urteilskraft zur Wahl der für die jeweilige Situation angemessenen und somit richtigen Mittel führen.“30 Den Inbegriff aller Tugenden stellte für Aristoteles die Gerechtigkeit dar.31 Im Allgemeinen meint Gerechtigkeit die Einstellung, Gesetz und Sitte zu achten. Darüber hinaus sprach Aristoteles von der austeilenden Gerechtigkeit, die sich auf materielle Güter, aber auch Aufgaben und Lasten bezieht und durch den Gleichheitsgedanken zu rechtfertigen ist.32 Nach Aristoteles bildet die Gleichverteilung von Gütern den zentralen Maßstab für eine gerechte Zuteilung.33 Die thematische Bedeutung der Tugendethik für die weiteren Überlegungen macht sich am Gerechtigkeitsbegriff fest: Auch heute beschäftigen sich unterschiedliche Fachrichtungen wie Politik, Pädagogik und Ethik mit der Frage der Gerechtigkeit bzw. ← 18 | 19 → der gerechten Verteilung von Ressourcen. So gilt es im Rahmen dieser Arbeit, Möglichkeiten zu finden, wie vor dem Hintergrund einer ethisch vertretbaren Chancengerechtigkeit für ein erfülltes Leben individuelle Gesundheitsdefizite aufgearbeitet werden können.

1.2 Deontologische Ethik

In Abgrenzung zur aristotelischen Tugendlehre werden im Folgenden die Grundzüge der deontologischen Ethik vorgestellt. Während für Aristoteles die Tugendlehre im Vordergrund für ethisches Handeln stand, bezog sich Kant innerhalb der deontologischen Ethik auf die Gültigkeit und Verbindlichkeit der Handlungsmaximen, die eine Person zu einer bestimmten Handlung anleiten.34 Nach Kant gewinnt der Mensch seine Würde und seine Subjektstellung aus seiner Vernunftexistenz bzw. seiner Teilhabe an universaler Vernunft.35 So besitzt der Mensch als einziges Lebewesen sowohl die Fähigkeit, vernünftige Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen als auch das Vermögen, Normen und Werte zu entwickeln, die der Willenskraft unterliegen. Danach dient die menschliche Vernunft als Schlüssel für die Entwicklung von Normen und fungiert als Begründungsebene für ethische Aussagen.36 Zudem untersuchte Kant das menschliche Handeln hinsichtlich des Grundes und des Moralitätsgehaltes, wobei sich beide Aspekte empirisch nicht messen lassen.37 Er verstand ein Handeln, das der Moralität folgt, als ein Handeln aus Pflicht, welches dann vorliegt, wenn sich die Handlung an Maximen orientiert, die ihrerseits kritisch zu hinterfragen sind.38 Als Pflichten gegenüber sich selbst nannte Kant die Pflicht zur Selbsterhaltung, die Pflicht zur Wahrheit, zur Selbstachtung und zur moralischen Selbsterkenntnis.39 Er legte außerdem Pflichten gegenüber anderen fest, wie die Pflicht zur Achtung der menschlichen Würde, die Pflicht zur Dankbarkeit, Wohltätigkeit, die Pflicht zum Gehorsam oder die Pflicht zur Tierliebe.40 ← 19 | 20 →

Kants Pflichtenethik leistet auch heute noch einen Beitrag zu moralischem Handeln aus Pflicht gegenüber sich selbst und anderen. Innerhalb der vorliegenden Arbeit verweist die Pflichtenethik einerseits auf die dem Individuum auferlegte Pflicht, für die eigene Gesundheit Verantwortung zu übernehmen (Pflicht zur Selbsterhaltung) und andererseits erhält die Gesellschaft bzw. die Politik aus heutiger Sicht eine entscheidende Funktion, Rahmenbedingungen zum gesundheitsförderlichen Leben zu schaffen. Die von Kant angesprochenen Pflichten sprechen zwar Gesundheitsfragen nicht konkret an. Dennoch lässt sich sein Grundgedanke, Handeln aus Pflicht gegenüber sich selbst und anderen, auf aktuelle ethische Themen übertragen. So obliegt der Pädagogik aus ethischer Sicht die Pflicht, Mitverantwortung für Bildungs- und Gesundheitsprozesse im Kindes- und Jugendalter zu übernehmen.

1.3 Der Utilitarismus

Im Gegensatz zu Kants Pflichtgedanken stehen konsequenzialistische Theorien, die die Folgen einer Handlung zum ethischen Bewertungsmaßstab erheben. Zu den konsequenzialistischen Begründungstheorien zählen vornehmlich der Utilitarismus, aber auch die Verantwortungsethik im Sinne Max Webers.41 Als zentrale Charakteristika für den Utilitarismus sind die Orientierung an der Folge und dem Nutzen einer Handlung zu nennen.42 Als positiver Nutzen gilt eine Verbesserung der Verhältnisse für die Mehrheit der Menschen (Summenkalkulation).43 Ein weiteres Merkmal des Utilitarismus bezieht sich auf die Gleichbehandlung aller Menschen. So sollen die Bedürfnisse eines Menschen, unabhängig von seinem Status oder seiner Identität, in gleicher Weise berücksichtigt werden (Universalismus).44 Anders als die Pflichtenethik Kants orientiert sich der Utilitarismus an der faktischen Gegebenheit und Messbarkeit bestimmter Phänomene (Empirie). Es werden nur die Zustände als moralisch relevant bewertet, die auch subjektiv ebenso empfunden werden, so dass die moralische Relevanz an die empirische Bedingung der subjektiven Empfindung geknüpft wird.45

Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Folgenbeurteilung und die Untersuchung nach dem Nutzen einer Handlung für ethische Urteilsfindungen ← 20 | 21 → nahezu unabdingbar sind. Für die vorliegende Arbeit dient der Utilitarismus insofern als wichtiger Impuls, da es in gesundheitspolitischen Debatten darum geht, die Folgen und den Nutzen bestimmter Entwicklungen und Entscheidungen zu analysieren und zu normieren. Zudem verfolgen Maßnahmen der Gesundheitsförderung das Ziel, dem Allgemeinwohl, unabhängig von sozialen Unterschieden, zu dienen.

2. Sozial- und Individualethik

Die Individualethik richtet den Schwerpunkt auf die moralischen Grundlagen einer Person, die als ein in Beziehung zur Gesellschaft stehendes Individuum angesehen wird. Somit zielen individualethische Überlegungen immer auf eine Person ab, die sich über gesellschaftliche Strukturen als ihrem Gegenüber definiert.46 Als Komplementärbereich zur Individualethik fasst die Sozialethik das gesellschaftliche Handeln als Ganzes.47 Demzufolge beschäftigt sich die Individualethik mit der Verantwortung des Menschen für sich selbst, während die Sozialethik gesellschaftliche Normen und Werte in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.48

„Gegenstand und Aufgabe der Sozialethik ist die Bestimmung der sittlichen Form all jener Ordnungen, die menschliches Handeln in Gesellschaft normieren und sich darin der Verfügung durch den Einzelnen, seinem unmittelbaren sittlichen Gestaltungswillen, entziehen.“49

Moralisches Verhalten auf individualethischer Ebene bedingt jedoch nicht zwangsläufig auch moralisches Verhalten auf sozialethischer Ebene und umgekehrt. Deshalb versucht die Sozialethik für die Systemebene entscheidende Regeln auf ihre ethische Rechtfertigung hin zu überprüfen und Möglichkeiten bereitzustellen, wie institutionelle Verfassungen in der Gesellschaft so gestaltet werden können, dass das moralische Verhalten eines Individuums nicht zur Selbstschädigung führt. Individuell moralisches Verhalten kann nur dauerhaft bestehen, wenn gesellschaftliche Rahmenbedingungen das moralische Wertesystem des individuellen Handelns begünstigen.50

Der Mensch ist als Sozialwesen auf Hilfe und Anerkennung anderer Menschen angewiesen, so dass hieraus Formen des Zusammenlebens (Familie, ← 21 | 22 → Staat etc.) erwachsen. Innerhalb der prinzipiellen Betrachtungen ergibt sich als pragmatisch-verfahrensethische Fragestellung, welche Bedingungen und Regeln in einer Gesellschaft gelten müssen, damit ein faires Handeln ermöglicht wird. Diesen Anspruch löst die Berufung auf ethische Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde ein.51 Demnach ist die Gesellschaft zur Mitverantwortung in die Pflicht genommen, um den Individuen ein gleichberechtigtes Handeln zu ermöglichen.52 Folglich übernimmt die Gemeinschaft die Aufgabe, gleichberechtigt strukturierte Diskurse als Problemlösungspotential bereitzustellen und stattfinden zu lassen.53 So kann der Mensch die Gesellschaft, die ihn geprägt hat, beeinflussen, formen und an der Veränderung inakzeptabler Verhältnisse aktiv mitwirken.54 Das daraus resultierende menschliche Verhalten dient nicht nur der Absicherung des physischen Überlebens in einer Gesellschaft, sondern leistet auch einen Beitrag zum größtmöglichen Maß an Wohlbefinden aller Bürgerinnen und Bürger. Neben einer nicht grundsätzlich einforderbaren Mitverantwortung der Bürger für ihr Verhalten wird das individuelle Handeln durch disparate gesellschaftliche Rahmenbedingungen erschwert, die keine subjektiv zufriedenstellende Umsetzung der Grundprinzipien von Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde zulassen. Dieser Mangelzustand führt, unabhängig von seinem jeweiligen Entstehungsmuster, zur individuellen Frustration. Durch seinen dauerhaften Charakter misslingt in vielen Fällen der Aufbau und die Entwicklung einer positiven Selbstbeziehung, um sich zu einem gesunden Individuum entwickeln zu können.55 Da Anerkennungserwartungen, die ein Individuum an die Gesellschaft hegt, nicht immer zufriedenstellend von ihr erfüllt werden, versucht der Einzelne, diesen defizitären Zustand durch permanentes Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung zu kompensieren.56 Als unmittelbarste Form der Missachtung nannte Spiess die physische Missachtung, als Bemächtigung des Leibes einer Person gegen deren Willen.57 Außerdem sprach Spiess von einer rechtlichen Missachtung,58 indem dem Individuum Anerkennungsansprüche auf der Ebene der Gesetzgebung und ← 22 | 23 → der Rechtsprechung sowie des Rechtsverkehrs verweigert werden. Als drittes wurde die soziale Missachtung erwähnt, bei der es um die Verweigerung von Partizipationsmöglichkeiten, Benachteiligungen und faktisch schlechtere Zugangschancen geht, u.a. im Bereich des Gesundheits- und Bildungssystems.

Details

Seiten
232
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057010
ISBN (ePUB)
9783653964288
ISBN (MOBI)
9783653964271
ISBN (Paperback)
9783631664780
DOI
10.3726/978-3-653-05701-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (April)
Schlagworte
Gesundheitsmodelle Gesundheitsteams medizinisches Versorgungssytem Gesundheitliche Chancenungleichheit
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 232 S., 2 Tab., 1 Graf.

Biographische Angaben

Janika Suck (Autor:in)

Janika Suck studierte an der Universität zu Köln Evangelische Theologie und Anglistik auf Lehramt. Im Anschluss absolvierte sie ihr Referendariat in Köln und nahm danach ihre Tätigkeit als Lehrerin auf.

Zurück

Titel: Gesundheitsförderung an Schulen aus ethischer Sicht
book preview page numper 1
book preview page numper 2
book preview page numper 3
book preview page numper 4
book preview page numper 5
book preview page numper 6
book preview page numper 7
book preview page numper 8
book preview page numper 9
book preview page numper 10
book preview page numper 11
book preview page numper 12
book preview page numper 13
book preview page numper 14
book preview page numper 15
book preview page numper 16
book preview page numper 17
book preview page numper 18
book preview page numper 19
book preview page numper 20
book preview page numper 21
book preview page numper 22
book preview page numper 23
book preview page numper 24
book preview page numper 25
book preview page numper 26
book preview page numper 27
book preview page numper 28
book preview page numper 29
book preview page numper 30
book preview page numper 31
book preview page numper 32
book preview page numper 33
book preview page numper 34
book preview page numper 35
book preview page numper 36
book preview page numper 37
book preview page numper 38
book preview page numper 39
book preview page numper 40
234 Seiten