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Der Verfügungsmachtbegriff bei Umsatzrealisation und Leasingverträgen nach IFRS

von Serpin Caliskan (Autor:in)
©2016 Dissertation XVIII, 234 Seiten

Zusammenfassung

Die Autorin analysiert den Verfügungsmachtbegriff und dessen Eignung als Realisationsmerkmal in der Umsatzrealisierung und Leasingbilanzierung nach IFRS. Bisher zeichneten heterogene Konzepte und Regelungslücken die Umsatzrealisierung nach IFRS und US-GAAP aus. Im Rahmen des Konvergenzprojektes von IASB und FASB nahm man sich dieser Problematiken an und gab im Mai 2014 den IFRS 15 «Revenue from Contracts with Customers» heraus. In enger Beziehung steht das Projekt zur Leasingbilanzierung. Beiden Projekten ist die zentrale Rolle des Verfügungsmachtbegriffs gemein, mit dem sich bislang nicht ausreichend kritisch auseinandergesetzt wurde. Die Autorin zeigt zahlreiche offene Fragen und Inkonsistenzen im IFRS 15 auf und bemängelt ein divergierendes Nutzenverständnis der Verfügungsmachtbegriffe bei Umsatzrealisierung und Leasing.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Geleitwort
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Verzeichnis der Zeitschriftenabkürzungen
  • 1. Problemstellung
  • 2. Konzeptionelle Grundlagen im Vorfeld der Analyse von IFRS 15 und ED/2013/6
  • 2.1 Rechnungslegungssysteme als zweckgerichtete Systeme
  • 2.2 Gewinnkonzepte in der Rechnungslegung
  • 2.2.1 Periodisierung und alternative Konzepte der Periodenabgrenzung
  • 2.2.2 Statische Gewinnkonzepte
  • 2.2.3 Dynamische Gewinnkonzepte
  • 2.3 Grundlagen zur Rechnungslegung nach IFRS
  • 2.3.1 Zielsetzung und Anforderungen der Rechnungslegung
  • 2.3.1.1 Vorbemerkungen: Rolle des Conceptual Framework in den IFRS und Überblick über das Conceptual Framework-Projekt
  • 2.3.1.2 Zielsetzung
  • 2.3.1.3 Qualitative Anforderungen an zweckadäquate Rechnungslegungsregeln
  • 2.3.1.4 Divergierende Meinungen zur Zielsetzung – Zurückstufung des Rechenschaftsziels
  • 2.3.2 Vermögens- und Gewinnermittlung in den IFRS
  • 2.4 Kriterien zur Würdigung von IFRS 15 und ED/2013/6
  • 2.4.1 Vorbemerkungen
  • 2.4.2 Bereitstellung entscheidungsnützlicher Informationen durch die Ermittlung extrapolierbarer Rechnungslegungsgrößen
  • 2.4.2.1 Eigenschaften entscheidungsnützlicher Rechnungslegungsinformationen und daraus resultierende Anforderungen an die Rechnungslegung
  • 2.4.2.2 Konzeption extrapolierbarer Rechnungslegungsgrößen und deren Rolle in der Bereitstellung entscheidungsnützlicher Informationen
  • 2.4.2.3 Unterschiedliche Gewinnkonzepte und Umsatzrealisationszeitpunkte in der Diskussion um die Bereitstellung entscheidungsnützlicher Informationen
  • 2.4.3 Qualitative Anforderungen
  • 2.4.4 Konsistenz
  • 3. Regelungen des IFRS 15
  • 3.1 Anwendungsbereich
  • 3.2 Erfassung von Umsatzerlösen gemäß IFRS 15
  • 3.2.1 Vorbemerkungen
  • 3.2.2 Erlöserfassungskonzept des IFRS 15
  • 3.2.3 Das Fünf-Schritte-Modell der Umsatzrealisierung
  • 3.2.3.1 Vorbemerkungen
  • 3.2.3.2 Identifizierung der Vertragseinheit mit dem Kunden
  • 3.2.3.2.1 Der Kundenvertrag als Anwendungsvoraussetzung des IFRS 15
  • 3.2.3.2.2 Umfang der Vertragseinheit
  • 3.2.3.2.3 Vertragsänderungen
  • 3.2.3.3 Identifizierung der in der Vertragseinheit enthaltenen eigenständigen Leistungsverpflichtungen
  • 3.2.3.4 Bestimmung des Transaktionspreises und der Beträge, die erwartungsgemäß nicht einbringlich sind
  • 3.2.3.5 Allokation des Transaktionspreises auf eigenständige Leistungsverpflichtungen
  • 3.2.3.6 Bestimmung des Zeitpunkts des Umsatzausweises anhand der Erfüllung der Leistungsverpflichtungen
  • 3.3 Der Verfügungsmachtbegriff als umsatzrealisierendes Merkmal
  • 3.3.1 Vorbemerkungen
  • 3.3.2 Verfügungsmacht in IAS 18: Zweifelhafte Annahmen des Schrifttums über den Inhalt des Verfügungsmachtbegriffs
  • 3.3.3 Verfügungsmacht als Realisationsmerkmal des IFRS 15
  • 3.3.3.1 Leistungserfüllung und Übergang von Verfügungsmacht als Grundprinzip der Umsatzrealisation
  • 3.3.3.2 Indikatoren eines zeitraumbezogenen Verfügungsmachtübergangs
  • 3.3.3.3 Indikatoren eines zeitpunktbezogenen Verfügungsmachtübergangs
  • 3.3.4 Analyse des Verfügungsmachtbegriffs
  • 3.3.4.1 Inhaltliche Konkretisierung
  • 3.3.4.2 Nutzenverständnis des Verfügungsmachtbegriffs
  • 3.3.4.2.1 Konkretisierungserfordernis
  • 3.3.4.2.2 Evidenz aus den Indikatoren
  • 3.3.4.2.3 Evidenz aus den Eigenschaften eigenständiger Leistungen
  • 3.3.4.2.3.1 Regelungen des IFRS 15
  • 3.3.4.2.3.2 Nutzenverständnis eigenständiger Leistungen gemäß IFRS 15
  • 3.3.4.2.4 Ergebniszusammenfassung und kritische Würdigung
  • 3.3.4.3 Wirtschaftlicher Gehalt
  • 3.3.4.4 Beurteilung der Indikatoren
  • 3.3.4.4.1 Vorbemerkungen
  • 3.3.4.4.2 Indikatoren des zeitpunktbezogenen Verfügungsmachtübergangs
  • 3.3.4.4.3 Indikatoren des zeitraumbezogenen Verfügungsmachtübergangs
  • 3.3.5 Kritische Würdigung
  • 3.4 Anwendung des IFRS 15 auf ausgewählte Bilanzierungsprobleme unter besonderer Berücksichtigung des Verfügungsmachtübergangs
  • 3.4.1 Verkaufsgeschäfte
  • 3.4.1.1 Bill-and-hold Sales
  • 3.4.1.2 Layaway Sales
  • 3.4.1.3 Rücknahmegarantien
  • 3.4.1.4 Versendungskauf
  • 3.4.2 Erbringung von Dienstleistungen
  • 3.4.2.1 Wirtschaftliche und rechtliche Grundkonzeption
  • 3.4.2.2 Bilanzierungslösung des IFRS 15
  • 3.4.3 Fertigungsaufträge
  • 3.4.3.1 Begriffsbestimmung und Abgrenzung
  • 3.4.3.1.1 Wirtschaftliche Grundkonzeption
  • 3.4.3.1.2 Zivilrechtliche Einordnung
  • 3.4.3.1.3 Bilanzierungsproblematik
  • 3.4.3.2 Bilanzierungslösung des IFRS 15
  • 3.4.3.3 Kritische Würdigung der Bilanzierungslösung des IFRS 15 unter besonderer Berücksichtigung des Verfügungsmachtbegriffs
  • 3.4.3.4 Sonderfall: Mehrfamilienhäuser
  • 3.4.3.4.1 Wirtschaftliche Grundkonzeption
  • 3.4.3.4.2 Bilanzierungsproblematik
  • 3.4.3.4.3 Bilanzierungslösung des IFRS 15
  • 3.4.4 Mehrkomponentenverträge
  • 3.4.4.1 Wirtschaftliche Grundkonzeption
  • 3.4.4.2 Bilanzierungsproblematik
  • 3.4.4.3 Bilanzierungslösung des IFRS 15
  • 3.4.4.3.1 Vorbemerkungen
  • 3.4.4.3.2 Erstes Fallbeispiel: Spezialsoftwarevertrag mit zusätzlicher Servicevereinbarung
  • 3.4.4.3.3 Zweites Fallbeispiel: Mobilfunkverträge
  • 3.4.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
  • 3.4.6 Analyse der bereitgestellten Lösungen anhand der qualitativen Merkmale des Rahmenkonzepts
  • 4. Kritische Analyse des Verfügungsmachtbegriffs des ED/2013/6 und dessen Eignung als umsatzrealisierendes Merkmal i.R.d. Leasingbilanzierung
  • 4.1 Zivilrechtliche und ökonomische Grundkonzeption von Leasingvereinbarungen und ihre Bilanzierungsproblematik
  • 4.2 Reformbestrebungen in der internationalen Leasingbilanzierung
  • 4.2.1 Bilanzierungsmodelle des ED/2013/6
  • 4.2.1.1 Konzept der Aktivierung eines Nutzungsrechts bei sämtlichen Leasingvereinbarungen
  • 4.2.1.2 Definition von Leasingverträgen und Anwendungsbereich des ED/2013/6
  • 4.2.1.3 Separierung einer Vereinbarung mit einer Leasingkomponente in eigenständige Komponenten
  • 4.2.1.4 Klassifizierung von Leasingverträgen
  • 4.2.1.5 Überblick über die Bilanzierungsmodelle von Typ-A- und Typ-B-Leasingverträgen
  • 4.2.1.5.1 Bilanzierung beim Leasingnehmer
  • 4.2.1.5.2 Bilanzierung beim Leasinggeber
  • 4.2.1.5.3 Konzeptionelle Einordnung der Bilanzierungsmodelle
  • 4.2.2 Kritische Würdigung der vorgeschlagenen Bilanzierungsmodelle und der Eignung von Verfügungsmacht als umsatzrealisierendes Merkmal
  • 4.2.2.1 Vorbemerkungen
  • 4.2.2.2 Bilanzierungsfähigkeit des Nutzungsrechts
  • 4.2.2.3 Klassifizierung als Veräußerungsgeschäft
  • 4.2.2.4 Lösung im ED/2013/6
  • 4.2.3 Unvereinbare Bilanzierungsweisen von Typ-A- und Typ-B-Leasingvereinbarungen
  • 4.2.4 Vergleich der Verfügungsmachtbegriffe in IFRS 15 und ED/2013/6: Divergierendes Nutzenverständnis
  • 4.2.5 Zusammenfassung der Ergebnisse zur Analyse des Verfügungsmachtbegriffs i.R.d. Leasingbilanzierung
  • 5. Thesenförmige Zusammenfassung
  • 6. Literaturverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis

← XVI | XVII →

Verzeichnis der Zeitschriftenabkürzungen

← XVIII | 1 →

1.  Problemstellung

Das im Juni 1973 ins Leben gerufene International Accounting Standards Committee (IASC), die dem International Accounting Standards Board (IASB) vorhergehende Körperschaft, nahm sich vor, weltweit etablierte Standards zu schaffen, um eine globale Harmonisierung der Rechnungslegungsgrundsätze, -methoden und -verfahren zu erreichen.1 In der nachfolgenden Zeit hat es diverse, vornehmlich kasuistisch geprägte, Standards zu unterschiedlichen Bilanzierungssachverhalten erlassen.2 Inhaltlich zeichnen sich die Verlautbarungen des IASC, die auch gegenwärtig noch gültigen International Accounting Standards (IAS), durch eine Vielzahl von Wahlrechten aus, die aus notwendigen Kompromissen zur Konsensfindung zwischen den unterschiedlichen nationalen Auffassungen resultierten.3 Während das IASC den Kompromiss zwischen unterschiedlichen nationalen Rechnungslegungskulturen suchte, verfolgt der im April 2001 gegründete IASB die Entwicklung einer einheitlichen Rechnungslegung, frei von Wahlrechten4 – so auch in dem gegenwärtigen Konvergenzprojekt, das der IASB gemeinsam mit dem Financial Accounting Standards Board (FASB), dem US-amerikanischen Standardsetzer, in die Wege leitete. Die Absicht, mit der dieses Projekt hervorgebracht wurde, zeigt zudem ein weiteres Ziel der Arbeit des IASB, die Angleichung5 der weltweit bedeutendsten Rechnungslegungswerke in wesentlichen Bereichen.6 Der Fortgang des gemeinsamen Konvergenzbestrebens von IASB und FASB wird gegenwärtig von Rechnungslegungsregulierung, -praxis und -forschung ex aequo verfolgt.7 ← 1 | 2 →

Ein Teilprojekt von herausragender Bedeutung im Rahmen dieser Konvergenzbemühungen stellt die Überarbeitung der Erlöserfassungsregeln dar.8 Dieses Teilprojekt ist aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Zum einen kommt der in der Erfolgsrechnung ausgewiesenen Kennzahl „Umsatzerlöse“ realiter unter dem Gesichtspunkt der Bewertung der Unternehmensleistung eine herausragende Bedeutung zu;9 nicht selten wird sie vom Management deshalb als „Spielball des Gewinnmanagements“10 eingesetzt. Dem Standardsetzer zufolge war die Überarbeitung der bestehenden Standards zur Erlöserfassung aufgrund vorhandener Inkonsistenzen und Regelungslücken dringend geboten.11 Er argumentiert, dass mit der Überarbeitung der bestehenden Standards bezweckt wird, Kontroversen und Defizite in den vorhergehenden Regelungen zu beseitigen und ein Fundament zur Entwicklung von Umsatzerfassungsregeln zu erarbeiten, um damit eine verbesserte Vergleichbarkeit von Abschlüssen und eine verbesserte Entscheidungsnützlichkeit von Abschlussinformationen zu erreichen. Insbesondere wurde beabsichtigt, die gegenwärtigen bilanztheoretischen Diskrepanzen zwischen der risikoorientierten Erlöserfassung bei der Veräußerung von Gütern gemäß IAS 18 und der performance-basierten Umsatzrealisierung bei Fertigungsaufträgen zu eliminieren sowie die Regelungslücke i.R.v. Mehrkomponentenverträgen zu schließen,12 indem Regelungen zur Erlösaufteilung und -erfassung erarbeitet wurden.

Nach einem langen Vorlauf verabschiedeten die Standardsetzer schließlich im Mai 2014 den Standard IFRS 15: Revenue from Contracts with Customers. Er ist das Resultat eines seit dem Jahr 2002 andauernden Überarbeitungsprozesses.13 ← 2 | 3 →

In den Anfängen des Projekts wurde an einem Bilanzierungsmodell gearbeitet, das die Erlöserfassung an den Abbau „[…] der zum Fair Value bewerteten vertraglich eingegangenen Leistungsverpflichtungen […]“14 koppelte. Aufgrund vielseitiger Kritik wurde die Idee der Bewertung der Leistungspflichten zum Fair Value jedoch zugunsten einer Bewertung in Höhe der erwarteten Vergütung verworfen.15 Dem Standard gingen das Discussion Paper „Preliminary Views on Revenue Recognition from Contracts with Customers“16, der Exposure Draft “Revenue from Contracts with Customers” ED/2010/617 und der Exposure Draft “Revenue from Contracts with Customers – A revision of ED/2010/6 Revenue from Contracts with Customers” ED/2011/618 voraus. Der finalen Verabschiedung von IFRS 15 vorausgegangen sind zudem zahlreiche vorläufige Entscheidungen (tentative decisions) i.R.d. zwischen Juni 2012 und Oktober 2013 in regelmäßigen Abständen durchgeführten Beratungen von IASB und FASB (redeliberations), in denen die eingegangenen Kommentierungsschreiben zum ED/2011/6 durch den staff ausgewertet und die Bilanzierungsvorschläge des Entwurfs überarbeitet wurden. Gleichwohl sind i.R.d. redeliberations die in ED/2011/6 enthaltenen Regelungsvorschläge lediglich in Teilen und überwiegend nur geringfügig angepasst worden.

Der Standard ist mit vereinzelten Ausnahmen branchenübergreifend auf sämtliche Umsatzrealisationsvorgänge aus Kundenverträgen anzuwenden19 und ersetzt damit die derzeit gültigen Regelungen zur Umsatzrealisation, welche sich in den IAS 11, IAS 18, IFRIC 13, IFRIC, IFRIC 18 und SIC-31 finden.20 Die Erstanwendung der Neuregelungen ist vorgesehen für Geschäftsjahre, die am bzw. nach dem 01.01.2017 beginnen.21

Gemäß dem neuen Grundkonzept ist die Erfassung von Umsatzerlösen an den Zugang von vertraglichen Vermögenswerten bzw. den Abgang von vertraglichen Schulden geknüpft.22 ← 3 | 4 →

Annahmegemäß resultieren aus einem Vertragsverhältnis für das Unternehmen wie den Kunden juristisch durchsetzbare Rechte und Pflichten.23 Während der Kunde ein Zahlungsversprechen abgibt, verpflichtet sich das Unternehmen zur Leistungserbringung.24 Die Erfüllung der (Teil-)Leistungspflicht durch das Unternehmen führt zu einem Abbau der vertraglichen Verbindlichkeit, sodass ein entsprechender Erlös realisiert wird.25 Impliziert wird dies durch den Übergang der Verfügungsmacht an den zu übereignenden Gütern oder zu erbringenden Dienstleistungen auf den Kunden.26

Die Standardsetzer entschieden, die Umsatzerfassung am Verfügungsmachtübergang von Gütern oder Dienstleistungen zu verankern.27 Als entscheidende Argumente für die Orientierung an dem Übergang der Verfügungsmacht werden dessen vorrangige Rolle in der gegenwärtigen Vermögenswertdefinition und bei der Ausbuchung von Vermögenswerten benannt.28 Weiterhin ermögliche das Merkmal des Verfügungsmachtübergangs eine konsistentere Vorgehensweise in der Bilanzierung der abzubildenden Sachverhalte als das Kriterium des Übergangs der wesentlichen eigentumsbezogenen Chancen und Risiken, denn die Notwendigkeit einer Abwägung zwischen den wesentlichen Chancen und Risiken erübrige sich.29 Schließlich würde das Kriterium des Verfügungsmachtübergangs zudem eine, und so ist das Argument wohl zu verstehen, zweckadäquatere Abgrenzung einzelner Teilleistungspflichten innerhalb eines Vertrags bedingen und insofern eine zweckadäquatere Erlösrealisation herbeiführen.30

Eine ähnliche Abwendung von dem bisher dominierenden Chancen-Risiken-Übergang zugunsten einer Hinwendung zum Übergang von Verfügungsmacht zeichnet sich auch in einem weiteren wesentlichen Teilprojekt des gemeinsamen ← 4 | 5 → Konvergenzbestrebens von IASB und FASB, der Bilanzierung von Leasingverträgen, ab.31

Im Mai 2013 hat der IASB mit dem Standardentwurf ED/2013/6: Leases32 neue Regelungen zur Bilanzierung von Leasingverträgen vorgeschlagen. Im Kern sieht der Entwurf Folgendes vor: Sämtliche Rechte und Verpflichtungen, die aus Leasingverhältnissen mit einer Laufzeit von mehr als zwölf Monaten resultieren, sind bilanziell sowohl beim Leasingnehmer als auch beim Leasinggeber zu erfassen.33 Mit dem aktuellen Vorschlag soll die Off-Balance-Sheet-Bilanzierung von Leasingverträgen eingeschränkt werden.34 Damit wird das Ziel verfolgt, den Bilanzlesern ein umfassendes Bild über die Leasingverhältnisse eines Unternehmens zu geben.35

Die nach IAS 17.7 f. gebotene Zurechnung des Leasinggegenstands entsprechend dem Chancen-Risiken-Übergang wäre den Standardsetzern zufolge in Anbetracht dessen, dass der Leasingnehmer über die Vertragslaufzeit ohnehin die Verfügungsmacht über den Leasinggegenstand innehätte, irrelevant;36 stattdessen soll seitens des Leasingnehmers das i.R.d. Vertragsverhältnisses erkaufte Nutzungsrecht und seitens des Leasinggebers die auf sich genommene Überlassungsverpflichtung bilanziert werden.37 Der Reformvorschlag geht davon aus, dass der Leasingnehmer, unabhängig von der bisherigen Einteilung, stets ein ← 5 | 6 → Nutzungsrecht an dem Leasingobjekt erwirbt und dieses einem Erwerbsvorgang entsprechend mit den Anschaffungskosten zu aktivieren hat.38

Die Regelungen zur Bilanzierung von Leasingverträgen sind von besonderer Bedeutung, weil hier die Regelungen zur Erlösrealisation und Vermögenszurechnung ineinandergreifen. Insofern haben die geplanten Neuregelungen nicht nur Auswirkungen auf die Darstellung der Vermögenslage in der Bilanz, sondern auch auf den Zeitpunkt der Erlösrealisation beim Leasinggeber.

Nun muss man sich vergegenwärtigen, dass Rechnungslegungsregeln nicht zum Selbstzweck, sondern immer im Hinblick auf einen im Vorhinein bestimmten Abbildungszweck erlassen werden. Unterschiedliche Zwecke stellen unterschiedliche Anforderungen an die Rechnungslegung im Allgemeinen und die Ertragsvereinnahmung im Speziellen.39 Insofern erfordert jeder Zweck grundsätzlich eigene Gewinnermittlungsregeln. Angesichts dieser Zweckgebundenheit ist das Rechnungslegungssystem bzw. sind dessen Komponenten danach zu beurteilen, in welchem Maße die Regelungslösungen dazu beitragen, dem vom Standardsetzer betonten Rechnungslegungszweck gerecht zu werden. Gerade i.R.e. Standardsetzungsprozesses ist eine solche Analyse von Relevanz.

Die Relevanz der Zweckgerechtigkeitsanalyse der Umsatz- und Gewinnrealisierung in der betriebswirtschaftlichen Forschung wird offensichtlich, wenn man die Vielzahl der Literaturbeiträge zu dieser Thematik zur Kenntnis nimmt. Mit der zunehmenden Bedeutung der IFRS für die Rechnungslegung im deutschen Rechtsraum befasste man sich in der betriebswirtschaftlichen Forschung eingehend mit den Regelungen zur Umsatz- und Gewinnrealisierung gemäß der internationalen Rechnungslegung.40 Die Regelungen der IFRS wurden aus bilanztheoretischer Sicht41 und hinsichtlich der Frage der Zweckadäquanz42 der bereitgestellten Informationen analysiert. Ebenso wurden Vergleiche zwischen den IFRS und US-GAAP bzw. den Gewinnrealisierungsgrundsätzen nach GoB angestellt.43 Die Problembereiche der Umsatz- und Gewinnrealisierung nach IFRS, die in früheren Arbeiten festgestellt wurden, stellten wiederum den Analysegegenstand späterer Arbeiten dar. Hierzu zählen bspw. die Arbeiten von Wirth ← 6 | 7 → (2009) und Fürwentsches (2010), welche die Bilanzierung von Mehrkomponentenverträgen in der internationalen Rechnungslegung diskutieren. Ähnlich intensiv diskutiert wurde die Thematik der Bilanzierung von Leasingverträgen. Um nur einzelne Monografien zu nennen, können die Arbeiten von Sabel (2006), Pferdehirt (2007), Leippe (2002), Gebhardt (2009), Koch (2011) und Seebacher (2013) angeführt werden.

Wenngleich sich der Umfang der bestehenden Literatur zu dem neuen Standard zur Umsatzerfassung noch in Grenzen hält, liegen zu den zeitlich vorhergehenden Standardentwürfen ED/2010/6 und ED/2011/6,44 wie auch dem ED/2013/645, zahlreiche Literaturbeiträge vor, auf denen aufgebaut werden kann.

Die konzeptionelle Diskussion zu dem Verfügungsmachtbegriff erschöpft sich jedoch nicht in dem gegenwärtigen Stand der Literatur. Die vorliegende Arbeit erweitert den bestehenden Literaturstand, indem sie das Augenmerk auf den Verfügungsmachtbegriff richtet. Die Leistungserfüllung bei Übergang der Verfügungsmacht stellt einen kritischen Schritt in der künftigen Umsatzrealisierung dar, der Verfügungsmachtübergang ist das alleinige Realisationsmerkmal. In Anbetracht der Zweckgebundenheit von Rechnungslegungsregeln stellt sich die Frage, ob der Verfügungsmachtübergang allein ausreicht, um sämtliche Umsatzrealisationsprobleme einer zweckadäquaten Bilanzierungslösung zuzuführen. Die Frage der Eignung als alleiniges Realisationsmerkmal stellt sich umso mehr, wenn man die in der Literatur vorzufindende ablehnende Haltung dem Verfügungsmachtbegriff gegenüber berücksichtigt. Dort wird dessen Eignung als Realisationsmerkmal bezweifelt.46 Wenn überhaupt, würde es sich als subsidiäres Ertragsvereinnahmungskriterium eignen, falle doch der Übergang der Verfügungsmacht nicht zwingend mit der Erlangung eines Anspruchs auf Gegenleistung durch Erfüllung der vertraglichen Leitungspflichten zusammen.47 Speziell ← 7 | 8 → i.R.d. geplanten Leasingbilanzierung wird konstatiert, dass die auf dem Verfügungsmachtbegriff beruhende Bilanzierung von Rechten und Verpflichtungen den Kriterien eines Vermögenswerts bzw. einer Schuld nicht genügen würden, mithin der Verfügungsmachtbegriff zumindest zur Abgrenzung von bilanzierungspflichtigen und nicht bilanzierungspflichtigen Dauerschuldverhältnissen sich nicht eignen würde.48

Nun ist der Verfügungsmachtbegriff zwar bereits aus der Umsatzrealisierung gemäß IFRS bekannt.49 Allerdings wurde ihm bisher nur eine nachrangige Rolle zugesprochen50 – in der Folge ist eine Analyse der Eignung des Verfügungsmachtübergangs zur Bereitstellung entscheidungsnützlicher Informationen in der Umsatzrealisierung bisher ausgeblieben. Ob dem Verfügungsmachtübergang als umsatzrealisierendes Merkmal eine zweckadäquate Problemlösungskompetenz zugesprochen werden kann, steht aus diesem Grund und insbesondere in Anbetracht der oben zitierten Literaturmeinungen zu dem Verfügungsmachtbegriff i.R.d. IFRS weiterhin offen.

Details

Seiten
XVIII, 234
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653057706
ISBN (ePUB)
9783653963946
ISBN (MOBI)
9783653963939
ISBN (Hardcover)
9783631665015
DOI
10.3726/978-3-653-05770-6
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Zweckadäquate Bilanzierungsregeln Leasingbilanzierung Verfügungsmachtübergang
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. XVIII, 234 S.

Biographische Angaben

Serpin Caliskan (Autor:in)

Serpil Caliskan studierte Technologie- und Managementorientierte Betriebswirtschaftslehre an der TU München und erlangte den Master of Business Research an der LMU München. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechnungswesen und Prüfung an der LMU München.

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