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Geschichte: Eine Theorie

von Karl Heinz Metz (Autor:in)
©2015 Monographie 129 Seiten

Zusammenfassung

Um eine globale Dimension zu gewinnen, muss moderne Geschichtswissenschaft theoriefähig sein. Der Autor versteht sein Buch als eine Aufforderung zum Denken, als einen Versuch, ausgehend von der Theoriefähigkeit historischen Wissens, die Ausbildung einer historischen Intelligenz zu befördern, die unabdingbar eine kritische sein muss. Das hier vorgeschlagene Konzept einer Historie, die sich zur Theorie hin weitet, entspricht einem neuen Paradigma des forschenden Umgangs mit Vergangenheit, also einer Fortbildung des Wissens zum Denken. Fünf Schritte sind dabei wesentlich: Die Frage nach dem Ort der Geschichte im Wissen, nach ihrer Theorie, nach der Philosophie als Alternative, nach der Zivilisation, schließlich die Frage nach der Person des Historikers selbst.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Wozu Geschichtstheorie?
  • 1 Wissen
  • 1.1 Physik
  • 1.2 Biologie
  • 1.3 Geschichte
  • 1.4 Summe
  • 2 Theorie
  • 2.1 Gesellschaft
  • 2.2 Geschichte: Prozess
  • 2.3 Geschichte: Struktur
  • 2.4 Summe
  • 3 Philosophie
  • 3.1 Anthropologie
  • 3.2 Politische Philosophie
  • 3.3 Geschichtsphilosophie
  • 3.4 Summe
  • 4 Praxis
  • 4.1 Zivilisation
  • 4.2 Kinesis
  • 4.3 Summe
  • 5 Minima historia
  • 5.1 Anamnesis
  • 5.2 Summa summarum
  • Literatur-Hinweis

Wozu Geschichtstheorie?

Hat die Vergangenheit noch eine Zukunft? Oder unterscheidet sich diese Zukunft im Vorzeichen digitaler Vernetzung in einer Weise von allem Vergangenen, dass sich Rückfragen kaum lohnen? Tritt der lange, die Zivilisation begründende Vorgang einer Auslagerung des Wissens in Artefakte in ein Stadium ein, in dem die vertikale Ordnung des Wissens – gemäß der (chronologischen) Zeit – als wesentliches Kriterium verschwindet und durch eine horizontale Weitung ersetzt wird, in der Zusammenhänge durch Suchbegriffe entstehen und zerfallen: ein Stadium, in dem die zunehmende Beschleunigung der technisch-gesellschaftlichen Prozesse mit ihrer Dekonstruktion noch verbliebener Traditionsbestände und ihrer – durch Algorithmen erfolgenden – elektronischen Analyse exponentiell wachsender Datenmengen die Vergangenheit obsolet werden lässt, bedeutungslos für eine Permanenz der Gegenwart, die wie ein schwarzes Loch alle Zeit, alle Bedeutung in sich hineinzieht? Das ist eine Möglichkeit, die den Historiker zwingt, sein Verschwinden zu bedenken. Gewiss, dieses Verschwinden wird schrittweise vor sich gehen. Als Erzählung von merkwürdigen Geschehnissen mag sie noch unterhalten, wie Kurioses es tut. Als Institution mag sie sich weiterschleppen. Als phraseologische Ausbeute mag sie fortbestehen, solange sie geschichtspolitische Zinsen abwirft. Doch so, wie das Bedeutungspotential der Religion weitgehend ausgelaugt ist, wird es jenes der Geschichte auch bald sein. Ein ahistorisches Zeitalter ist möglich, in welchem ein globales „Jetzt‘“ regulativ wird, zusammengesetzt aus globaler Information, globaler Ökonomie, globalem Klimawandel. Die Vergangenheit versinkt in Echtzeit, weil für sie keine Zeit mehr übriggeblieben ist. Das neu sich formierende digitale Bewusstsein könnte eine solche Möglichkeit entfalten, ein schier endloses Gleiten über horizontale Flächen, ein wie unbegrenztes Verfügen über alles, was irgendwie wissbar ist, bis hin zur Präsenz des Toten als „Bot“ in einem virtuellen Leben. Mit dem Gedächtnis als Ressource verliert das Wissen seinen Halt in der Vergangenheit, der es für Jahrtausende gekennzeichnet hat. In der elektronischen Moderne wandert es vom nassen Gehirn des Menschen in das trockene einer tragbaren Echtzeit-Apparatur, die Datenmengen verfügbar werden lässt, vor denen jede Gedächtnisleistung ← 7 | 8 → lächerlich erscheint. Das Gedächtnis ist eine Investition von (Lebens-)Zeit, das digitale Wissen ist zeitfrei, weil es weder individuell erworben werden muss noch eine feste Gestalt besitzt, ständig veränderbar bleibt. Die für das historische Bewußtsein gründende Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft löst sich auf und mit ihr die Fremdheit der Zeit, also die Vorstellung der Unumkehrbarkeit als Essenz der menschlichen Existenz.

Dennoch: Die Geschichte, als Geschehen, wird weitergehen, gleich ob man dem Denken darüber noch soziale Bedeutung zuweist. Will man einer solchen Bewusstlosigkeit wehren, muss man einen Schritt über das hinaustun, was bislang darunter verstanden worden ist: Eine Wissenschaft der Geschichte zeigt sich dann, welche als Geschichtsschreibung zur Kritik der Geschichtspolitik wird und als Theorie die kategoriale Analyse des sozialen Handelns in der historischen, d. h. irreversiblen Zeit vorbereitet. Wie jede Wissenschaft ist auch sie vom Impuls Kants getrieben, „zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält“. Wie jede Wissenschaft wird sie vom Monitum Newtons begrenzt, „zu erkennen, was dem Erkennen Grenzen setzt“. Jedem Erkennen geht ein Fragen voraus, das sich in seinem Fortgang des Gegenstands durch Definitionen versichert und das in seiner Antwort weiß, dass diese auf Definitionen beruht. Geschichtsschreibung produziert Interpretation als Erzählung in der irreversiblen Zeit, Theorie produziert Interpretation als Begriffsgefüge in der reversiblen Zeit. Die Theorie bietet demnach ein analytisches Gefüge sowohl zum elementaren Verstehen von Geschichte wie zur Herausarbeitung von Strukturen in konkreten geschichtlichen Abläufen und Zuständen. Wenn im anbrechenden elektronischen Weltalter des Wissens nicht länger die Beschaffung von Informationen zum Problem wird, sondern deren Durchdringung, dann muss die Theorie zur Bedingung werden für ihr Gelingen.

Geschichte ist Zeit, Raum, Leben. Als Zeit ist sie lange Zeit, gemessen in Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden. Aus der langen Zeit wächst jene Kontinuität, ohne welche Geschichte, Gesellschaft, die Dauer des sozialen Lebens nicht möglich wären. Als Raum gibt sie diesem Leben Materialität und eine erste, elementare Differenzierung im Umgang mit der Natur. Als Leben füllt sie Zeit und Raum mit Menschenbedeutung, entstehen Netzwerke des sozialen Handelns, die unabsehbare kulturelle Eigendynamiken ausbilden. Geschichte als „Historie“, d. h. als Wissen von etwas, das im Jetzt der Gegenwart nur noch indirekt vorhanden ist, wird daher Wissen langer ← 8 | 9 → Zeit, Wissen räumlicher Weite, Wissen großer Vielfalt: Historie hat die Universalgeschichte als Horizont oder sie ist als Denken nicht vorhanden. Als Denken aber hat sie den Impuls zur Theorie, denn nur dort, wo eine geistige Bewegung vom Komplexen zum Einfachen, von der je besonderen Realität zur immer größeren Allgemeinheit des Begriffs möglich wird, vollendet sich das Denken. Denken zielt auf Theorie und Freiheit. Denken heißt daher, vorsichtig zu werden, wenn alle einer Meinung sind, denn dann herrscht stets die Opportunität. Die Zeit der Opportunität jedoch ist die kurze Zeit, die Überwältigung durch das Jetzt. Da die Menschen in der kurzen Zeit ihres physischen Daseins leben, fällt ihnen ein Denken in der langen Zeit so schwer. Das gilt für den „einfachen“ Menschen ebenso wie für den machtbesitzenden. Es gilt auch für Historiker, die der Gegenwart liefern, wonach sie verlangt. Ein „Lernen aus der Geschichte“ wird auf diese Weise unmöglich, wohl aber die Bestätigung der jeweiligen Gegenwart. Wenn daher aus der Geschichte nichts gelernt wird, so deshalb, weil die Menschen dazu neigen, nur sich bzw. ihre physisch-soziale Existenz im Jetzt wichtig zu nehmen und jede Herrschaft sie darin bestärkt, weil diese nichts als ihren Fortbestand im Jetzt sicherstellen will. Historisches Denken aus der langen Zeit zerbricht die Egomanie des Jetzt, historische Theorie führt zu analytischen Begriffen jenseits der jeweils Herrschaft legitimierenden Dichotomie von Gut und Böse. Dabei besteht zwischen einer entschieden analytischen und einer entschieden moralischen Historie lediglich ein methodologischer Unterschied. Beide fragen nicht nach den Siegern, um sich auf die richtige Seite zu stellen. Sie sind, im Gegenteil, nur konsequent in der Anwendung ihrer Begriffe. Geschichte kann daher „Wissen“ werden, vorausgesetzt, sie stellt „tiefe Fragen“ und hat keine Angst vor den Antworten. Wer nur „die Geschichte“ kennt, kennt auch diese nicht. „Geschichte“ kann nicht gelehrt werden, man kann nur dabei helfen, historisch denken zu lernen. Denken bleibt eine Zumutung, die man sich selber abverlangt. Diese Zumutung besteht darin, vom historischen Denken nicht das zu erwarten, was man (moralisch) ohnehin zu wissen glaubt. Der Historiker ist ein Beobachter, der sich unter alle Parteiungen mischt, ohne selbst Parteigänger zu werden. Historisches Denken ist Schutz gegen die Herrschaft der Mehrheitsmeinung. Historisches Denken besteht darin, jeder Vergangenheit „Zukunft“ zuzubilligen, d. h. Unsicherheit. Wer nicht gegen den Strom zu schwimmen vermag, wird nichts begreifen (allerdings ist es auch bequemer, sich treiben ← 9 | 10 → zu lassen). Kurzum: Historisches Denken ist das Heraustreten aus der Gefangenschaft des Unmittelbaren. Deshalb ist der Historiker einer, der auch wissen will, was zu wissen sich (jeweils) nicht lohnt.

Details

Seiten
129
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653057751
ISBN (ePUB)
9783653963885
ISBN (MOBI)
9783653963878
ISBN (Hardcover)
9783631665046
DOI
10.3726/978-3-653-05775-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Juni)
Schlagworte
Theorie der Geschichte Gesschichtsphilosophie Universalgeschichte Historische Methode Politische Philosophie
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 129 S.

Biographische Angaben

Karl Heinz Metz (Autor:in)

Karl H. Metz ging nach Lehramtsstudium und Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München als Research Fellow an die Universität Oxford. Nach seiner Habilitation in München und der Tätigkeit als Fellow, ZIF, in Bielefeld war er Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Erlangen sowie Visiting Professor an der Emory University, Atlanta.

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