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Bilder Belgiens verstehen

Politische und kulturelle Zusammenhänge – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

von Marieke Gillessen (Autor:in)
©2016 Dissertation 344 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch behandelt die politische und kulturelle Situation Belgiens aus verschiedenen Blickwinkeln. Das kleine Land mit den drei Sprachgruppen und den unterschiedlichen cultural networks bildet ein hochkomplexes System und ist für Außenstehende schwer durchschaubar. Auf der Basis von Interviews, einer Datenerhebung sowie einer Comic-Analyse beleuchtet die Autorin kritisch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen frankophonen und niederländischsprachigen Belgiern. Vor dem Hintergrund der historisch-politischen Entwicklung stellt sie die Frage, ob zwei unabhängige Kulturen innerhalb des Landes existieren. Ihr besonderes Interesse gilt dabei den Auswirkungen der strukturellen Asymmetrie und des politischen Systems auf die Identität.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Sprachen – Literaturen – Kulturen Aachener Beiträge zur Romania
  • Dank
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Einleitung
  • 2. Politischer und theoretischer Kontext
  • 2.1 Die politische Situation Belgiens
  • 2.1.1 Die Entstehung des belgischen Föderalstaats: historisch-politischer Überblick
  • 2.1.2 Das politische System mit seinen Besonderheiten
  • 2.1.2.1 Staatsaufbau
  • 2.1.2.2 Föderalismus zu zweit – ein Sondermodell
  • 2.1.3 Aktuelle Entwicklungen in der Regierungsbildung zwischen 2007 und 2012
  • 2.1.4 Exkurs: Vier Möglichkeiten für Belgien
  • 2.2 Beschreibung der kulturellen Dimensionen nach Hofstede, Hall und Trompenaars
  • 2.2.1 Geert Hofstede
  • 2.2.2 Edward T. Hall
  • 2.2.3 Fons Trompenaars
  • 3. Methodik
  • 3.1 European Values Study
  • 3.2 Comics: Korpus und Methode
  • 3.3 Fragebogen
  • 4. Politische und kulturelle Zusammenhänge – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
  • 4.1 Drei Trennlinien innerhalb Belgiens und die Frage nach der Identität
  • 4.1.1 Religiöse Trennlinie
  • 4.1.2 Wirtschaftliche Trennlinie
  • 4.1.3 Sprachliche Trennlinie
  • 4.1.4 Regionale oder belgische Identität?
  • 4.2 Zusammenfassung der Dimensionen-Analyse der European Values Study
  • 4.3 Verknüpfung der politischen und der kulturellen Charakteristika
  • 4.3.1 Besonderheiten des belgischen Föderalismus
  • 4.3.1.1 Politisches Charakteristikum: Konsens und Kompromiss – kulturelles Charakteristikum: Machtdistanz und Externalismus
  • 4.3.1.2 Politisches Charakteristikum: Asymmetrie – kulturelles Charakteristikum: Identitäten und Unsicherheit
  • 4.3.1.3 Politisches Charakteristikum: starker Föderalismus – kulturelles Charakteristikum: Individualismus – Kollektivismus und Unsicherheitsvermeidung
  • 4.3.2 Besonderheiten des belgischen Familienkonzepts in Bezug auf die Dimensionen Individualismus – Kollektivismus & Femininität – Maskulinität
  • 4.4 Zusammenfassung der Verknüpfung von kulturellen und politischen Charakteristika
  • 5. Schlussbetrachtung
  • Literaturverzeichnis
  • Monographien und Fachzeitschriften
  • Comics und spezifische Sekundärliteratur
  • Onlinequellen
  • Darstellungsverzeichnis

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1.  Einleitung

„Ces stéréotypes récurrents, tout le monde les connaît bien: l’accent, la bière, l’imbécillité prétendue des Belges, les moules frites, le chocolat, la Bande Dessinée […].“1 Soweit das gängige Bild, das viele Länder, so auch das deutsche Nachbarland, von Belgien haben. Stark popularisierend dargestellt, wie bei Stereotypen üblich, und viele wichtige Aspekte ausklammernd. Belgien macht es dem Besucher nicht unbedingt leicht, das Land zu erfassen. Das politische System ist komplex, vielschichtig und wird selbst innerhalb des Landes nicht durchgehend verstanden. Für Außenstehende wiederum ist die Komplexität, die durch die Mehrsprachigkeit, die asymmetrische Aufteilung in subnationale Entitäten und durch unterschiedliche Identifikationsbezugspunkte entsteht, schwer zu durchschauen. Unverständnis und die Entstehung von stark simplifizierten Stereotypen sind die Folgen. Dies ist bedauernswert, bietet das Land doch viele äußerst interessante Facetten auf politischer und kultureller Ebene, die es zu kennen lohnt. Um das Verständnis des Landes Belgien zu fördern, wurde ein interdisziplinärer Forschungsansatz gewählt, der die politikwissenschaftliche Herangehensweise mit der kulturwissenschaftlichen verbindet. Nur so kann der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes, der hochgradigen Verquickung von politischem System, Identitätsgefühl und kulturellen Orientierungen, Genüge getan werden. Eine eindimensionale Betrachtung der belgischen Kultur(en) verbietet sich.

Motivation der Arbeit sind sowohl die aktuelle politische Situation nach der langen regierungslosen Zeit von April 2010 bis Dezember 2011, die Fragen zu deren Ursprung aufwirft, als auch der Eindruck, dass Belgien von der Welt hauptsächlich als Hauptstadt Europas, jedoch kaum als Land mit (einer) eigenen Kultur(en) gesehen wird: „[…] le Belge, citoyen du monde et illustre inconnu […]“2 und „the Belgian case is chronically overlooked and understudied in comparative studies of Western European politics and society.“3 Zudem ist das ← 11 | 12 → Charakteristikum dieses Landes, aus zwei, beziehungsweise drei, Sprachgruppen zu bestehen, sowie die Nichtexistenz gesamtbelgischer Parteien und Medien, erschreckend unbekannt, wie die folgende Karikatur von Pierre Kroll zeigt: Im April 2010 wurde vom größten französischen Fernsehsender TF1 eine Karte Belgiens verwendet, auf der die Regionen vertauscht waren.

Darstellung 1: Comic, Tout comprendre avec TF1, Alors on danse, Kroll © 2016 Kroll.4

img1

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Dieser Seitenhieb richtet sich an die Franzosen, die als notorische Nicht-Kenner Belgiens gelten. Die Karte entspricht, mit Ausnahme der Verortung Berlins, der Abbildung, die auf TF1 gezeigt wurde. Bei den Worten des Nachrichtensprechers Harry Roselmack handelt es sich jedoch um eine Zuspitzung Krolls.

Die vorliegende Untersuchung erhebt den Anspruch, ein Bild von Belgien zu zeichnen, welches über die Beschreibung des politischen Systems, der aktuellen politischen Situation oder über Informationen zu nur einer der Regionen oder Gemeinschaften hinausgeht. Dabei wird differenziert zwischen Flamen und Wallonen. Die Vorarbeiten zu dieser Dissertation5 haben bereits ergeben, dass kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Flamen und Wallonen überwiegen. Es treten jedoch genügend statistische Unterschiede auf, die eine differenzierte, auch nach den beiden großen Sprachgruppen aufgeschlüsselte Betrachtung erfordern6. Zudem wird in Fachkreisen von der „[…] inexistance d’une culture nationale forte“7 gesprochen, und auch dieser Aspekt findet im Rahmen der Forschungen Beachtung.

Die theoretische Grundlage bilden die kulturellen Dimensionen nach Geert Hofstede8, Edward T. Hall9 und Fons Trompenaars10, auf denen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgearbeitet und interpretiert und auch in den ← 13 | 14 → politischen und kulturellen Zusammenhang gestellt werden. Vervollständigt werden die Ergebnisse der Forschungsarbeit durch eine Analyse der fiktionalen, belgischen Selbstwahrnehmung im Medium der Comics und durch Interviews mit Personen, die sich auf politischer, kultureller oder literarischer Ebene mit ihrem Land beschäftigen. Wo es sinnvoll erscheint, werden weitere Quellen wie Zeitungsartikel, andere Studien und Statistiken hinzugezogen. Die fiktionale wie auch die reale Selbstwahrnehmung bilden den Ausgleich zu den genutzten medialen Informationsquellen, da den flämischen und frankophonen Medien gegenüber der begründete Vorwurf besteht, in communautairen11 Angelegenheiten nicht objektiv über die Sprachgrenze hinaus zu berichten.

Es geht nicht um das Herausstellen von Unterschieden, um damit innerhalb Belgiens Unstimmigkeiten zwischen den beiden Sprachgruppen zu schüren, sondern darum, Klischees und gefestigte Bilder ins Bewusstsein zu heben und eine neue Unvoreingenommenheit zu gewinnen. Denn das Empfinden von Fremdheit stützt sich zumeist auf emotional und unbewusst erlangte Vorurteile,12 die erst durch die aktive Auseinandersetzung aufgebrochen werden können. In einem ersten Schritt müssen die Differenzen wahrgenommen, um in einem zweiten aufgelöst werden zu können. Belgien soll, besonders für Deutsche13, kulturell zugänglicher gemacht werden.

Der interdisziplinäre Ansatz sowie der Einsatz von Bildmaterial in Form von Comics aus Belgien selbst spielt hierbei eine wichtige Rolle und macht die Thematik für ein breiteres Publikum anschaulich. Welche wichtige gesellschaftliche Rolle der Comic in Belgien spielt, soll in Kapitel 3.2 dargelegt werden. Dies ist auch der Grund, warum die Arbeit in die romanische Kulturwissenschaft gehört und nicht ausschließlich von einem politikwissenschaftlichen Standpunkt her argumentiert. ← 14 | 15 →

Zielsetzung dieser Studie ist es, die Daten der European Values Study14, die für diese Zwecke zur Verfügung gestellt werden, zu nutzen, um sie mit fundierten Kenntnissen zu den kulturellen Dimensionen sowie zur politischen Lage des Landes zu kombinieren. Unter Bezugnahme auf die in Comics abgebildeten fiktionalen Selbstwahrnehmungen und die Gespräche mit belgischen Zeitgenossen soll der Befund über innerbelgische Gemeinsamkeiten und Unterschiede erhärtet werden und so einen differenzierten Blick auf Belgien mit seinen innergesellschaftlichen Unterschieden ermöglichen. Gewissermaßen handelt es sich bei dieser Kombination um eine Triangulation aus einer Dokumentenanalyse bezüglich des politischen Systems und der kulturellen Dimensionen, der Nutzung der quantitativen Erhebung EVS sowie der qualitativen Methoden des Interviews sowie der Comic-Analyse.

Bisherige Forschungsansätze im Überblick

Der Großteil der Studien zum Thema innerbelgischer Unterschiede und Gemeinsamkeiten ist im Bereich der Politischen Wissenschaft entstanden. Dies erscheint auf den ersten Blick naheliegend, da es zu den Aufgaben von Politikwissenschaftlern gehört, politische Systeme zu beobachten, zu beschreiben und zu interpretieren. Der Forschungsstand zum Thema dieser Untersuchung besteht aus diesem Grund zu einem großen Teil aus Schriften, die dieser Fachrichtung entspringen und eine wichtige Grundlage für die weiteren Betrachtungen legen.

Einen aktuellen Überblick der politischen Situation des Landes einschließlich der 2011 beschlossenen Reform bietet die Monographie von Kris Deschouwer15. Der Mitbegründer der Initiative Re-Bel (Rethinking Belgium’s institutions in the European context) beleuchtet kritisch die heutige politische Situation sowie deren jüngere Geschichte und zeigt sich neuen Möglichkeiten für Belgien und seinen subnationalen Einheiten gegenüber offen, jedoch ohne separatistische ← 15 | 16 → Grundhaltung. Das erst 2011 überarbeitete Werk von Xavier Mabille16 liefert einen detaillierten Einblick über Geschichte und politisches Geschehen. Mabilles Buch bietet profunde Grundlagen seit dem Ende des Ancien Régime und erläutert den Wandel der einzelnen Fürstentümer über den Einheitsstaat hin zum Föderalstaat sowie die Entwicklungen darüber hinaus. Die Untersuchung von Claus Hecking17 legt in einer eingängigen Struktur regionalistische Bestrebungen sowie innerbelgische Trennlinien dar, beleuchtet die ersten fünf Verfassungsrevisionen und erläutert den Staatsaufbau sowie das Parteiensystem.

Zu den stärksten Beobachtern politischer Bewegungen im Land, und somit unumgänglich für die folgende Erörterung, gehören die Forschungsgruppen der Faculteit voor sociale wetenschappen an der Katholieke Universiteit Leuven18 (KUL). Insbesondere das Centrum voor politicologie sowie das Centrum voor sociologisch onderzoek mit dem universitätsübergreifenden Instituut voor sociaal en politiek opinieonderzoek, dem über die belgischen Grenzen hinaus bekannten ISPO19, verfolgen Bewegungen im politischen System Belgiens, Wählerverhalten und Reformbewegungen. Ebenfalls unter den einflussreichen Forschungsgruppen zu nennen ist das Centre de recherche et d’information socio-politiques (CRISP) in Brüssel, das einen Courrier hebdomadaire sowie in regelmäßigen Abständen Dossiers über die politischen Entscheidungen Belgiens sowie deren Mechanismen und Akteure publiziert. In seinem Rahmen wurde auch Mabilles Werk veröffentlicht. Hooghe et al.20 diskutieren „whether differences between the two communities are really that profound”21 und gehen der Frage nach, mit welchen politischen Mitteln Belgien mehr Rückhalt aus der Bevölkerung und somit eine größere föderale Stabilität gegeben werden kann. Hooghe ist ebenfalls der ← 16 | 17 → Meinung, dass Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen in der Regel nicht wesentlich sind und deshalb von gegensätzlichen Kulturen nicht gesprochen werden kann. Diese Tatsache werde jedoch nicht politisierend eingesetzt, da dies aufgrund des sprachlich getrennt agierenden Parteiensystems keine positiven, also „lohnenden“ Auswirkungen auf die Wählerstimmen habe.22 Mit Unterschieden in der politischen Kultur beschäftigt sich ein Artikel von Billiet, Maddens und Frognier.23 Die Autoren arbeiten mit Umfrageergebnissen und untersuchen die Unterschiede nach Gesichtspunkten wie Identität, Säkularisierung, Entsäulung sowie sozialem und politischem Vertrauen. Sie kommen ebenfalls zu dem Schluss, Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen seien geringer als gemeinhin angenommen. Herausgefilterte Werte werden auf ihren historisch-politischen Ursprung zurückgeführt, jedoch nicht auf ihre Auswirkungen in heutiger Politik und Gesellschaft hin untersucht. Ebenfalls an der KUL wird das Thema der nationalen und subnationalen Identität behandelt. Ein in Political Psychology erschienener Artikel von Billiet, Maddens und Beerten24 thematisiert beispielsweise die Auswirkungen von Identität auf die Haltung gegenüber Fremden.

Wilfried Swenden25 konstatiert in seinem abschließenden Beitrag zur Debatte über die Zukunft des belgischen Föderalismus in Regional and Federal Studies, dass Belgien an einem Scheidepunkt seiner Föderalismusentwicklung steht. Er stellt fest, dass die kontinuierliche Machtverlagerung vom Föderalstaat auf die Gemeinschaften und Regionen die Spannungen zwischen den beiden großen Sprachgruppen nicht hinreichend abzumildern vermag. Swenden zeigt die Gründe für diese Entwicklungen auf und wägt mögliche Lösungsansätze ab.26 ← 17 | 18 →

Kris Deschouwer von der Vakgroep politieke wetenschappen der Vrijen Universiteit Brussel beschäftigt sich mit dem Aspekt der Konkordanzdemokratie und macht deutlich, dass sich die starke konsensdemokratische Ausrichtung der belgischen Politik seit den 1970er Jahren entwickelt hat. Er beschreibt in der politikwissenschaftlichen Fachzeitschrift West European Politics den „classical belgian way, by letting the tension build up and then finally opting for compromise“27 und deutet an, dass die Auswirkungen der 1970 festgelegten Konsens-Mechanismen, die zu der simplen Gleichung „kein Konsens = keine Regierung“ führen, weitreichende Effekte auf die politische Kultur haben.28 An diesem Punkt setzen die Überlegungen dieser Arbeit an, dass nämlich gemeinsame kulturelle Werte und Praktiken zwischen Flamen und Wallonen dafür verantwortlich sind, dass Belgien als Einheit bislang weiterhin besteht.

Kulturelle Betrachtungen Belgiens finden teilweise im Rahmen der politikwissenschaftlichen Überlegungen statt29, werden jedoch häufig als „Nebenprodukt“ betrachtet. Ein Werk, das sich mit kulturellen Besonderheiten Belgiens auseinandersetzt30 ist beispielsweise das von Thomas Beaufils31, einem Straßburger Autor, der sich mit Stereotypen über die Belgier befasst, hierbei jedoch wenig auf regionale Besonderheiten eingeht. Außerdem zu nennen ist die Untersuchung von Denise van Dam32, welche flämische und wallonische Wertvorstellungen auf der Basis von Interviews mit 40 Personen aus dem kulturellen, sozialen und intellektuellen Milieu darstellt. Diese Personengruppe ist nach Aussage der Autorin eher politisch links anzusiedeln und die Aussagen und Beobachtungen werden nicht beziehungsweise kaum in den politischen Kontext gesetzt. Eine Studie von Liliane Voyé et al.33 arbeitet mit der ersten offiziellen Fassung der European Values ← 18 | 19 → Study von 198134 und stellt in einer wallonisch-flämischen Koproduktion die Ergebnisse dar. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis

„Si certaines différences distinguent les trois régions – et tout particulièrement Bruxelles – les résultats de cette enquête montrent clairement que le plus souvent, ces différences sont mineures et, en tout cas, qu’il y a, entre Wallons et Flamands une plus grande proximité que celle pouvant exister entre Wallons et Français ou entre Flamands et Néerlandais.“35

Voyé postuliert also bereits eine größere Nähe zwischen Flamen und Wallonen als gemeinhin angenommen. Hierbei handelt es sich jedoch um eine länger zurückliegende Studie aus den 90er Jahren, die Ergebnisse wurden nicht in den politischen Kontext gestellt und die politische Situation hat sich seitdem zusehends zugespitzt. Mit deutsch-belgischen Kontakten beschäftigt sich der Begleitband der Reihe Belgien im Fokus36, in deren Rahmen auch Belgien im Blick: Interkulturelle Bestandsaufnahmen37 entstand, in dem unterschiedliche Autoren das Land von geschichtlicher, sprachlicher oder kultureller Seite aus betrachten. Marinel Gerritsen von der Katholieke Universiteit Nijmegen untersucht kulturelle Unterschiede zwischen Flandern und den Niederlanden und bezieht sich dabei ebenfalls auf die Theorien von Hofstede und Hall.38

Es kann beobachtet werden, dass rein kulturelle Betrachtungen für gewöhnlich nicht auf politische Zusammenhänge hinweisen. Besonders im Falle Belgiens ← 19 | 20 → sollten Politik und Kultur jedoch nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Interdependenzen zwischen beiden Bereichen sind zu tiefgehend, wie in der vorliegenden Untersuchung gezeigt werden soll, als dass eine kulturelle Studie ohne die fundierte Betrachtung und Einbeziehung der politischen Situation möglich wäre.

Aus der Fülle politikwissenschaftlicher Betrachtungen der belgischen Situation, aber dem Defizit kultureller Überlegungen, welche die politische Situation mit in Betracht ziehen, ergibt sich die Forschungslücke, die diese Arbeit schließen möchte.

Barrera-Vidal39, Grünewald40, Peeters41, Schikowski42 sowie Lefèvre43 fundieren die Einbindung und Auswertung der Comics. Barrera-Vidal beleuchtet Selbst- und Fremdbilder im belgischen Comic und setzt einen deutlichen Bezug zur interkulturellen Kommunikation. Zudem bezeichnet er Comics als „getreues Spiegelbild der Gesellschaft“44 und befindet sie für fähig, mit den in ihnen verwendeten Klischees und Stereotypen kritisch umgehen und sie hinterfragen zu können. Grünewald spricht Comics die Rolle eines „heimlichen Erziehers“45 und eines „gesellschaftliche[n] Seismograph[en]“46 zu. Sowohl die Fähigkeit, Werte zu übermitteln als auch „gesellschaftskritische Töne“47 aufzunehmen und „Rollenfestschreibungen“48 zu öffnen, liegt laut Grünewald zumindest in der Hand der Comic-Zeichner, die sich von massenmedial produzierten Serien absetzen. Peeters, in der internationalen Comic-Forschung viel zitiert als Hergé-Spezialist, geht insbesondere auf die belgisch-frankophonen Comic-Klassiker ← 20 | 21 → und ihre Entwicklung ein. Er ist selbst Autor des hier vorgestellten Comics Brüsel der Reihe Les cités obscures, in dem er neben dem Zeichner Schuiten für die Texte verantwortlich war. Schikowski bietet umfangreiche Grundlagen von den Anfängen des Comics im 20. Jahrhundert in Form der amerikanischen Funnies bis hin zu aktuellen Zeichnern wie Brecht Evens, der sich von der ligne claire, die Hergé verfolgte, weit entfernt hat. Lefèvre stellt die flämische Comic-Tradition im Kontrast zur niederländischen und zur wallonischen dar und grenzt somit deutlich den flämischen vom niederländischen Referenzrahmen ab.

Für viele andere Länder gibt es bereits Kulturstudien, die einen Einblick in die Zusammenhänge von Politik und Kultur eröffnen. Hier können beispielhaft die Werke von Greg Nees49 für Deutschland sowie Gilles Asselin und Ruth Maston50 für Frankreich genannt werden, wobei beide einen geringen wissenschaftlichen Anspruch haben, jedoch eine sehr umfassende Beschreibung liefern. Aus diesen Gründen sollen sie an dieser Stelle, jedoch ein wenig außerhalb der übrigen Forschungsliteratur, genannt werden. Im Bereich der interkulturellen Kommunikation werden häufig die Länder genauer betrachtet, die wirtschaftlich besonders interessant sind, weshalb überdurchschnittlich viele Werke über die Kultur Chinas, Deutschlands, Frankreichs sowie der USA zu finden sind. Trotz seiner geografischen Lage im Herzen Europas ist Belgien weniger interessant für den internationalen Markt. Wird die Situation aus direkter Nachbarschaft zu Belgien betrachtet, so wird von den angrenzenden Ländern häufig außer Acht gelassen, dass geografische Nähe nicht mit kultureller Uniformität gleichzusetzen ist. So sind auch nur wenige Autoren zu nennen, die sich interkulturell mit Belgien befassen: Mandy Macdonald51 und Ute Schürings, eine interkulturelle Trainerin52. Wie vor allem der zweite Titel, Zwischen Pommes und Praline, andeutet, liegt der Fokus bei beiden Bänden auf der Kommunikation von Verhaltensregeln, die zwar zur schnellen Vorbereitung eines internationalen Geschäfts durchaus nützlich sein können, eventuelle kulturelle Unterschiede jedoch nicht zu ← 21 | 22 → ergründen suchen und so zur Verstärkung von Allgemeinplätzen führen können. Der Leser lernt im besten Fall, was er zur erfolgreichen Durchführung eines Geschäfts oder einer anderweitigen Kontaktsituation zu tun und zu lassen hat, er ist damit dem Verständnis der fremden Kultur jedoch nicht näher gekommen. Im schlimmsten Fall schürt die Beschreibung reiner Unterschiede die Abgrenzung zur eigenen Kultur, wobei doch die Aufspürung von Gemeinsamkeiten für eine gelungene Zusammenarbeit von enormer Wichtigkeit ist. Mit Belgien aus der Sicht einer Deutschen beschäftigt sich Marion Schmitz-Reiners53, die ihre persönlichen Erfahrungen mit, hauptsächlich, Flandern beschreibt. Auch hier öffnet sich die Forschungslücke: Es gibt kaum interkulturelle Studien zu Belgien und bisherige Werke sind wenig wissenschaftlich zu nennen.

Darstellung der Forschungshypothesen

Diese Arbeit wird geleitet von der Frage nach kulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Flamen und Wallonen. Wie groß sind die in den ausländischen und belgischen Medien und durch Gemeinplätze propagierten Unterschiede wirklich? Kann tatsächlich davon gesprochen werden, dass zwei völlig unterschiedliche Kulturen in Belgien existieren?

Um diese Leitfrage beantworten zu können, wurden die folgenden operationalisierbaren Hypothesen54 entwickelt. An dieser Stelle werden sie erläutert und es wird dargelegt, wie sie überprüft wurden. Im Laufe der Arbeit wird auf die verschiedenen Punkte Bezug genommen, um anschließend die Hypothesen in Kapitel 5 zu verifizieren. Es folgen drei Haupthypothesen, wovon sich die erste in weitere drei Unterhypothesen auffächert.

Hypothese A: Trotz der bestätigten Trennlinien zwischen Flamen und Wallonen sowie der Existenz von sprachlich-regionalen Identitäten verfügen beide Gruppen über mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, sodass von einer gemeinsamen Kultur gesprochen werden kann.

Die in Literatur und Medien häufig angegebenen Trennlinien – die religiöse, die wirtschaftliche und die sprachliche – lassen sich, mindestens teilweise, auch heute noch belegen, und ebenso unterschiedliche Identitätsbezugspunkte von Flamen und Wallonen. Dennoch sind die Unterschiede bei genauerer Betrachtung geringer als die Gemeinsamkeiten. Zur Verifizierung dieser Hypothese werden drei Unterhypothesen angeführt: ← 22 | 23 →

Unterhypothese A.1: Die drei Trennlinien – die religiöse, die wirtschaftliche und die sprachliche – bestehen auch heute noch. Die Identifikationsbezugspunkte für Flamen und Wallonen innerhalb des Landes sind unterschiedlich.

Die drei Trennlinien werden dargestellt und diskutiert. Finden sich Daten der EVS, die diese Trennlinien im heutigen Kontext bestätigen, sowie Comics, die sie thematisieren, so gilt A.1 als verifiziert.

Unterhypothese A.2: Die Mehrzahl der festgestellten Unterschiede ist nicht bedeutend und sie befinden sich zumeist auf ein und derselben Seite einer kulturellen Dimension.

Für 108 Fragen der EVS-Studie werden die Antworten von Flamen und Wallonen verglichen und anschließend mithilfe der kulturellen Dimensionen in ein Raster eingeordnet. Hierbei zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede besonders deutlich. A.2 wäre belegt, würde sich zeigen, dass mehr als die Hälfte der untersuchten Fragen Gemeinsamkeiten und nicht Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen ergeben.

Unterhypothese A.3: Der Grund, warum Belgien zurzeit noch ein zusammenhängender Staat ist, liegt in kulturellen Gemeinsamkeiten.

Den herausgefilterten Gemeinsamkeiten zwischen Flamen und Wallonen liegen kollektive kulturelle Werte zugrunde, die das Land Belgien fundieren. A.3 gilt als verifiziert, wenn sich die mittels der EVS-Fragen ausgemachten Gemeinsamkeiten zu gemeinsamen Grundwerten verhärten lassen und diese innerhalb der fiktionalen Selbstwahrnehmung (Comics) sowie in den Interviews bestätigt werden.

Hypothese B: Besonderheiten des belgischen Föderalstaates können auf kulturelle Merkmale zurückgeführt werden und diese Interdependenz besteht auch in die entgegengesetzte Richtung.

Durch die Verbindung der EVS-Analyse und den kulturellen Dimensionen lassen sich kulturelle Charakteristika Belgiens porträtieren. Zwischen politischen Charakteristika Belgiens, den Besonderheiten dieses Föderalstaats, und diesen kulturellen Besonderheiten sollen Verbindungen hergestellt werden. Wenn dies gelingt und die Verbindungen in den Interviews bestätigt werden können, gilt B als bestätigt. Es werden Vermutungen angestellt, ob im Einzelfall die kulturelle Orientierung die politische Struktur bedingt oder ob das politische System der Grund für eine bestimmte kulturelle Ausprägung ist.

Hypothese C: Aus den Bereichen, in denen sich Unterschiede zwischen Flamen und Wallonen ergeben, kann eine vierte Trennlinie herausgestellt werden.

Neben der religiösen, wirtschaftlichen und sprachlichen Trennlinie wird versucht, auf Basis der herausgestellten Unterschiede eine vierte Trennlinie zu ← 23 | 24 → formulieren. Um C zu verifizieren, muss die vierte Trennlinie von Interviewpartnern und durch die fiktionale Selbstwahrnehmung bekräftigt werden.

Es wird angenommen, dass Comics ein wirkungsvolles Mittel zur Vervollständigung und Erhärtung des Bildes Belgiens darstellen. Alle verwendeten Comics stammen aus belgischer Feder55, haben jedoch nicht zwangsläufig Belgien zum Thema. Der Comic-Zeichner kann jedoch Teile seiner kulturellen Orientierung in seinem Comic abbilden und offen legen.56

Details

Seiten
344
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653060591
ISBN (ePUB)
9783653949513
ISBN (MOBI)
9783653949506
ISBN (Hardcover)
9783631665831
DOI
10.3726/978-3-653-06059-1
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Januar)
Schlagworte
Flamen Identität Comic Sprachenstreit Wallonen
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 344 S., 109 s/w Abb.

Biographische Angaben

Marieke Gillessen (Autor:in)

Marieke Gillessen studierte Romanistik, Politikwissenschaft und Psychologie an der RWTH Aachen und der URCA Reims (Frankreich). Ihr besonderes Interesse gilt den interkulturellen Studien sowie den Wechselbeziehungen von Politik und Kultur.

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