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Die Commedia dell’arte im Theater des 20. Jahrhunderts

von Veit Bessenbacher (Autor:in)
©2015 Dissertation 447 Seiten

Zusammenfassung

Thema des Buches ist die Commedia dell’arte und ihre Bedeutung im 20. Jahrhundert. Veit Bessenbacher beschäftigt die Weitergabe von Harlekins Narrenpritsche an Zirkus und Slapstick-Comedy. Außerdem kommt die Wiederbelebung dieser italienischen Theaterform im europäischen Regietheater zur Sprache. Darüber hinaus widmet sich der Autor dem Einfluss der Commedia dell’arte auf das zeitgenössische deutschsprachige Drama. Dabei untersucht er zehn Dramen – vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts – hinsichtlich darin vorkommender Commedia dell’arte-Elemente. Das Buch schließt mit einem kurzen Ausblick auf die Zukunft der Commedia dell’arte.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Statt eines Vorworts
  • I. Einleitung
  • I. 1. Vom Ursprung und Wesen der Commedia dell’arte
  • I. 2. Forschungsbericht
  • I. 2. 1. Allgemeiner Überblick
  • I. 2. 2. Das Bildmaterial über die Commedia dell’arte und dessen Quellenwert
  • I. 2. 3. Forschungsbericht zu Zirkus, Slapstick-Comedy und europäischem Regietheater
  • II. Die Wiederbelebung der Commedia dell’arte im 20. Jahrhundert
  • II. 1. Die Commedia dell’arte und der Zirkus
  • II. 2. Die Commedia dell’arte und die Slapstick-Comedy
  • II. 3. Die Commedia dell’arte im europäischen Regietheater des 20. Jahrhunderts
  • II. 3. 1. Russland: Theateroktober
  • II. 3. 1. 1. Konstantin Sergejewitsch Stanislawski (1863-1938)
  • II. 3. 1. 2. Wsewolod Meyerhold (1874-1940)
  • II. 3. 1. 3. Alexander Tairow (1885-1950)
  • II. 3. 1. 4. Jewgeni Wachtangow (1883-1922)
  • II. 3. 2. England: Edward Gordon Craig (1872-1966)
  • II. 3. 3. Deutschland: Max Reinhardt (1873-1943)
  • II. 3. 4. Italien: Giorgio Strehler (1921- 1997)
  • II. 3. 5. Frankreich: Jacques Copeau (1879-1949)
  • II. 3. 5. 1. Das Théâtre du Soleil (seit 1964)
  • II. 4. Resümee: Harlekin – zwischen politischer Symbolfigur und künstlerischer Spielfreude
  • III. Commedia dell’arte-Elemente im deutschsprachigen Drama des 20. Jahrhunderts
  • III. 1. Traditioneller Umgang mit Commedia dell’arte-Material
  • Hugo von Hofmannsthal: “Ariadne auf Naxos”
  • Paul Ernst: “Pantalon und seine Söhne”
  • Fritz von Herzmanovsky-Orlando: “Die Fürstin von Cythera”
  • III. 2. Die Erneuerung des Wiener Volksstücks mit Commedia dell’arte-Elementen
  • Ödön von Horváth: “Geschichten aus dem Wiener Wald”
  • III. 3. Die Commedia dell’arte und das Absurde
  • Wolfgang Hildesheimer: “Pastorale oder die Zeit für Kakao”
  • III. 4. Abstraktion im Commedia dell’arte-Revival der 60er Jahre
  • Peter Handke: “Kaspar”
  • III. 5. Commedia dell’arte und Reflexionen über (tragisch)-komische Existenzen
  • Thomas Bernhard: “Minetti”
  • Thomas Bernhard: “Der Schein trügt”
  • III. 6. Commedia dell’arte und Farce
  • George Tabori: “Mein Kampf”
  • III. 7. Die Commedia dell’arte im Literaturbetrieb
  • Botho Strauß: “Der Narr und seine Frau heute abend in Pancomedia”
  • IV. Zusammenfassung und Ausblick
  • V. Literaturverzeichnis

← 6 | 7 → Statt eines Vorworts

“Florenz ist die Hauptstadt der Toskana; in der Toskana entstand die Kunst der Beredsamkeit; Cicero war der König der Beredsamkeit; Cicero war ein römischer Senator; Rom hatte zwölf Cäsaren; zwölf Monate hat das Jahr; das Jahr teilt man in vier Jahreszeiten; die Zahl der Elemente ist gleichfalls vier – Luft, Wasser, Erde und Feuer; die Erde wird mit Ochsen gepflügt; die Ochsen haben ein Fell; gegerbtes Fell wird zu Leder; aus Leder macht man Schuhe; Schuhe zieht man an die Füße; die Füße dienen zum Laufen; beim Laufen bin ich gestolpert, und stolpernd kam ich her, um euch zu begrüßen.”1

(Typische Rede eines Dottore) ← 7 | 8 →

__________

1 Dschiwelegow: Commedia dell’arte. Berlin: Henschel 1958, S. 140-141.

← 8 | 9 → I. Einleitung

I. 1. Vom Ursprung und Wesen der Commedia dell’arte

In der Zeit, in der die Commedia dell’arte2 ihre größte Blüte erfuhr – von ihrem Ursprung im Italien des 16. Jahrhunderts, bis zu ihrem Niedergang im gesamten Europa des 18. Jahrhunderts –, ergaben sich immer neue dramatische Konstellationen aufgrund der von den Schauspielern an den Tag gelegten Kunst der Improvisation. Jeder Schauspieler versuchte sein ganzes Leben hindurch, seine persönliche Interpretation eines feststehenden Charakters, den er immer wieder verkörperte, zu perfektionieren3. Diese Grundcharaktere repräsentierten einen Querschnitt der zeitgenössischen Gesellschaft und beleuchteten somit das ganze Spektrum menschlicher Schwächen, die gewaltigen Gegensätze der vis humanae, den klaftertiefen Unterschied zwischen aufschneiderischem Schein und demütigender Wirklichkeit (repräsentiert vor allem in der Figur des Capitano). Die meisten Charaktere wurden mit standardisierten Kostümen und Masken auf die Bühne gebracht (so Pantalone, der Dottore, die diversen Zanni, wie Arlecchino und Brighhella, um nur die wichtigsten zu nennen). Dies ermöglichte es dem Publikum, sofort die Grundposition des Charakters zu verstehen und sich auf die vom Darsteller entwickelten Schattierungen dieses Charakters zu konzentrieren4. Das schöpferische Talent der Schauspieler wurde in der Commedia dell’arte stärker beansprucht als in jeder anderen Art des Dramas der Zeit. Die ← 9 | 10 → Darsteller arbeiteten nach Szenarien (auch canovaccii oder canevas, auf deutsch “Webrahmen” genannt), die nicht mehr als ein rudimentäres Handlungsgerüst vorgaben, daher konnte nur ihre Improvisationskunst Leben in die Aufführung bringen5. Wolff betont in diesem Zusammenhang:

“Es klingt doch wenig wahrscheinlich, daß sie sich grundsätzlich nicht über den Text verständigten, sondern sich gegenseitig mit Rede und Gegenrede bei der Aufführung überraschten. Es fanden doch Proben statt, und wenn sich auf diesen ein Dialog ausbildete, so waren damit der Improvisation bei der Aufführung sehr enge Schranken gezogen, da es ausgeschlossen erscheint, daß die Schauspieler in der Öffentlichkeit etwas wesentlich anderes sagten als auf den vorhergehenden Proben.”6

Es lag an den Schauspielern, durch Worte und Gebärden dem jeweiligen Publikum, egal ob Bauern oder Adeligen, das Stück anzupassen. Um das zu Stande zu bringen, mussten sie neben dem Schauspielerischen auch vollendete Akrobaten, Mimen, Tänzer und Musiker sein. Ausführlichste Kenntnisse der Dialekte, der Persönlichkeiten und der Begebenheiten der Gegenden, in denen sie auftraten, waren von entscheidender Bedeutung, ebenso politische und soziale Einsichten und eine tiefgreifende Lebenserfahrung7. All das sind die Ingredienzien, die auch heute noch im Kabarett gefragt sind. Ich sehe das politische Kabarett als Fortsetzung der Commedia dell’arte im 20. und 21. Jahrhundert.

Die Commedia dell’arte entstand zur Renaissancezeit, einer Epoche, die eine Weltsicht vom menschlichen Standpunkt aus erschuf, die den vorangehenden Epochen unbekannt war. Was während des Mittelalters mit Fatalismus akzeptiert wurde, wurde plötzlich offen hinterfragt8. Die Zeit um 1500 gilt als Wiederbelebung der Antike, ja sogar als deren Übertrumpfung. Ich denke dabei an die bahnbrechenden Erfindungen wie den Buchdruck oder in der Malerei die Perspektive. Die Renaissancezeit ist vielleicht vergleichbar mit den vielen technischen Neuerungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise dem Film oder dem Automobil oder, an der Schwelle zum neuen Jahrtausend, dem Computer. Die Commedia dell’arte war und ist einer der Versuche, das Theater zu nutzen, um die neue Philosophie, mit dem Menschen als Mittelpunkt des Universums, auszudrücken. Der Commedia dell’arte kam von Anfang an eine wichtige Funktion zu. Das Publikum sollte “Dampf ablassen” können9.

← 10 | 11 → Dabei war die auf öffentlichen Plätzen dargebotene Commedia dell’arte ein wichtiges Ventil.

Diese Funktion wurde noch wichtiger mit der Gegenreformation der römisch-katholischen Kirche gegen das Ausbreiten des Protestantismus im späten 16. und im 17. Jahrhundert, als die Ausschweifungen der Inquisition wüteten und der Absolutismus der Herrschenden mit wachsendem Despotismus grassierte10. Der Stegreifcharakter der Commedia dell’arte erlaubte Kritik und Satire in Form von verbalen Anspielungen und eine redegewandte oder kritische Stellungnahme in einem Umfang, wie es einem Drama mit feststehendem Text nicht möglich gewesen wäre11. Einer der effektvollsten Einfälle der Commedia dell’arte war es, widersprüchliche Charaktere vorzuführen, die einander nicht verstehen und unabsichtlich unpassende Antworten geben, die zu komischen oder manchmal auch tragischen Verwicklungen führten12. Seitdem jeder Charaktertyp seinen eigenen Dialekt sprach, resultierten komische Missverständnisse oft aufgrund der Zwei- beziehungsweise Vieldeutigkeit der Worte. Öfter ergaben sie sich jedoch durch die sozialen Unterschiede, die die gesellschaftlichen Klassen voneinander trennten13. Neu und reizvoll war für das europäische Theaterpublikum auch die Tatsache, dass die Italiener Frauenrollen tatsächlich auch “von anmutigen Frauen in großartigen Roben” spielen ließen “und nicht von herausgeputzten, mehr oder weniger mädchenhaften jungen Männern”14. Da die Commedia dell’arte viele Heucheleien ihrer Zeit aufdeckte – dies geschah öfter durch die Mittel der Aktion als des Sprechens – konnte sie sich international ausbreiten und sich anderen Nationen und deren Gegebenheiten anpassen15. Als profunder Kenner der Materie räsoniert Dieter Wuttke über die Diskrepanz der Aufführungstechniken von einst und jetzt:

“Es fällt uns heute relativ leicht, uns historisch mit diesem Wandertheater zu beschäftigen und vielleicht sogar für das mimische Improvisationstalent der damaligen Spieler zu schwärmen. Würden die Truppen morgen hier bei uns leibhaftig wiedererstehen und aus ihrem Repertoire etwas zum besten geben, ich bin ziemlich sicher, wir würden uns ← 11 | 12 → erschreckt und angeekelt abwenden. Doch müssen wir bedenken, daß wir uns selbst im achtzehnten Jahrhundert noch in einer zivilisatorisch ganz anderen Welt befinden. Wir verehren in Mozart den unerreichbaren Klassiker der Musik und erschrecken, wenn wir sehen, welche Rolle körperliche Ausscheidungsvorgänge in der Sprache seiner Briefe spielen.”16

I. 2. Forschungsbericht

I. 2. 1. Allgemeiner Überblick

Diese Arbeit versucht, durch Darstellungen des Regietheaters und Interpretationen einzelner deutschsprachiger Dramen nachzuweisen, dass Elemente der Commedia dell’arte im europäischen Theaters des 20. Jahrhunderts immer noch wirksam sind. Dem ersten Teil, der sich mit dem Regietheater befasst, ist ein kurzer Abriß über den Zirkus und die amerikanische Slapstick-Comedy, die beide Commedia dell’arte-Elemente aufweisen, vorangestellt. Der zweite Teil behandelt insgesamt zehn deutschsprachige Dramen, die nach der Frage: “Wie hat sich das Alte (der Commedia dell’arte) verändert und wie wird es von den Autoren in ihren Stücken angewandt?” interpretiert werden. Es wurde bisher kein Versuch unternommen, die Tradition der Commedia dell’arte im europäischen Theater des 20. Jahrhunderts umfassend darzustellen. So gesehen ist diese Arbeit ein Desiderat der Forschung.

Die erste wissenschaftliche Arbeit über die Commedia dell’arte stammt von Maurice Sand und trägt den Titel “Masques et Bouffons”17. Er beschreibt alle gängigen Commedia dell’arte-Figuren, die zu Beginn der 1860er Jahre bekannt waren, und bringt die Geschichte dieses Theaters mit ins Spiel, indem er ausgiebig Riccoboni18 und dessen Zeitgenossen zitiert19. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfassten vor allem italienische Autoren in Sammelwerken ausführliche Kapitel über die Commedia dell’arte und gaben Szenariensammlungen heraus20. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten nichtitalienische Gelehrte auf ← 12 | 13 → den Plan, die, wie der Russe Miklashewski21 und der schwärmerische Franzose Pierre Louis Duchartre22, in nüchternem Ton die nächsten Jahrzehnte der Forschung beeinflussen und zu neuen Theorien anregen. Miklashewski schrieb sein Buch in engem Kontakt mit den führenden russischen Theaterleuten Meyerhold, Wachtangow und Tairow. Duchartre verfasste sein Werk über die “Comédie italienne” in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Zuletzt wurde es unter dem Titel “La commedia dell’arte et ses enfants”23 neu herausgegeben24. Über den Ursprung der Commedia dell’arte schloss sich Duchartre den Forschern De Amicis25 und Riccoboni an. Demnach hätten die Commedia dell’arte und ihre Figuren ihren Ursprung in der “oskischen Atellane”26. Duchartre “schrieb über die Improvisationstechnik, die Szenarien, soweit sie damals bekannt waren, die Truppen und die Weiterentwicklung. Den größten Teil seiner Arbeit aber widmete er den einzelnen Typen und ihren sogenannten Familien, d. h. er legte Stammbäume an, die jeweils auf einen Typ des antiken Mimus zurückführten, und etablierte die Familie Harlekin, die Familie Brighella, die Familien Pantalone, Dottore, Pedrolino und die Frauenfamilie“27. Diese Vorgehensweise ist insofern fragwürdig, als die Grenzen zwischen den Figuren fließend sind.

Dem gegenüber entwickelte Max J. Wolff eine völlig andere These über den Ursprung der Commedia dell’arte. Er behauptet die Commedia dell’arte sei wie die “Commedia erudita” an den Höfen entstanden und habe nichts mit einem volkstümlichen Ursprung zu tun. Er geht davon aus, gebildete Laien hätten sich und ihr Publikum in rhetorischen Frage- und Antwortspielen über bekannte Stoffe, wie sie in den Komödien des Plautus und Terenz, Ovid und Ariost vorgeprägt waren, vergnügt28.

← 13 | 14 → Der marxistische Forscher Dshiwelegow29 vertrat wie auch Paolo Toschi30 die Ansicht, dass die Buffoni, die Spaßmacher beim Karneval die Vorläufer der Berufschauspieler der Commedia dell’arte waren. Für Dshiwelegow waren die “comici dell’arte” vor allem Sozialkritiker, “die den Protest der Unterdrückten – besonders in den Gestalten der gewitzten Diener – artikulierten”31. Dieser Meinung zufolge entstand die Commedia dell’arte für das Volk aus dem Volk heraus und die Auftritte an den Höfen seien nur eine Entartung der ursprünglichen Form. Inge Krengel-Strudthoff kommentiert dies als “Seitenhieb auf die 1932 bei der Neuorganisation des sowjetischen Kulturlebens verdammten Wachtangow, Meyerhold, Evreinov und Mic (Konstantin Miklashewski)”32. Inge Krengel-Strudthoff fasst die Diskussion über den Ursprung der Commedia dell’arte wie folgt zusammen:

“Die Diskussion über den Ursprung, so wenig befriedigend ihre Ergebnisse gewesen sein mögen, hat doch dazu geführt, daß bei der Betrachtung der Commedia dell’arte immer mehr ins Detail gegangen wurde. Man fand in vielen Fällen ganz etwas anderes, als man gesucht hatte. Man fragte unentwegt, wie die Commedia dell’arte entstand, und dabei stellte man fest, was die Commedia war und was nicht. Das Wissen um Themen, Figuren, Masken, Kostüme, Spielform wurde merklich größer und konsolidierter bei immer differenzierterer Forschung nach Einzelheiten. Und damit hörte man auf zu fragen, woher die Commedia dell’arte kam, sondern man fragte, wohin sie ging. So sind die Spuren des italienischen Stegreifspiels in den Nationaltheatern ganz Europas während der letzten Jahrzehnte von verschiedenen Gelehrten verfolgt worden.”33

In dem Sammelband “Rivista di Studi Teatrali”, der 1954 erschien, finden sich einige einschlägige Aufsätze zur Commedia dell’arte. Mario Apollonio34 polemisiert darin “gegen die romantische Auffassung, daß Improvisation unbedingt Freiheit des Schauspielers bedeute”35. Vielmehr sei der Schauspieler durch den Lazzi-Stil “innerhalb der Grenzen seines Typs durchaus gebunden gewesen”36.

Eine Untersuchung von Heinz Kindermann aus dem Jahre 1938 über die Einflüsse der Commedia dell’arte auf das österreichische Volkstheater wurde in ← 14 | 15 → den Rivista di Studi Teatrali 1954 erweitert publiziert. Angeregt und unterstützt durch die ausgiebigen Forschungen von Otto Rommel37 kommt Kindermann “zu wesentlich differenzierteren Ergebnissen”38. Die Commedia dell’arte habe nämlich trotz unterschiedlicher Aufführungen an den Fürstenhöfen keinen wesentlichen Einfluß auf die deutschen Wanderbühnen ausgeübt. Das Volk hatte wenig Sinn für die hochstilisierte Kunst der Italiener; die Engländer seien dagegen in Deutschland viel populärer gewesen. Durch Rommel wurde bekannt, dass der Hanswurst Stranitzkyscher Prägung kein Nachfahre der Commedia dell’arte war. Dieser bodenständige Salzburger Volkstyp sei eher mit dem Pickelhäring als dem Harlekin verwandt39. Die Commedia dell’arte kam erst durch die Vermittlung über die Comédie italienne und Prehauser, bei dem das Spiel tatsächlich frei improvisiert gewesen sein soll, nach Wien40. Hafner vollzog dann dort den Schritt zur Literarisierung der Commedia dell’arte. Über Hafner, den deutschen Goldoni, führt “der Weg zu Raimund und Nestroy bis in die Neuzeit”41.

Von der großen Zeit der Commedia dell’arte in Frankreich, im ersten und zweiten “Théâtre Italien”, handelt Gustav Attinger. Er geht der Entwicklung des Harlekins auf der französischen Bühne nach. Ihm zufolge habe sich die Figur des Arlequin “zuerst in Frankreich in die erste Reihe gespielt”42. Mit dem Schauspieler Domenico Biancolelli, der mit der ersten Truppe des “Théâtre Italien” nach Paris kam, “wurde Arlequin zum Star und Träger der bekannten proteischen Züge (der Arlequin, der mehrere Rollen spielt, erfunden von Biancolelli)”43. Der Arlequin lebte weiter auf dem “Théâtre de la Foire” und er wurde in den Dramen von Marivaux verfeinert. Gustav Attinger44 publizierte bereits 1950 eine großangelegte Studie über die Commedia dell’arte in Frankreich, wo er im Schlusskapitel auf die Wirkung der Commedia dell’arte im modernen Theater eingeht. Attinger zeigt eine Linie auf, die vom “Théâtre des Funambules” zu George Sands Versuchen und weiter zu Copeau führt, der im “Théâtre du Vieux Colombier” mit pantomimisch geschulten Schauspielern aus dem Stegreif spielte45. Die ← 15 | 16 → Wiederbelebung der Commedia dell’arte im 20. Jahrhundert machte auch Ettore lo Gatto46 zu seinem Thema. Er befasste sich mit den Versuchen der russischen Avantgardisten, “von denen jeder jeweils eine andere Kardinaleigenschaft der Commedia dell’arte zum Mittelpunkt seiner Bestrebungen machte”47. Mit der Aktualität der Commedia dell’arte für das Hervorbringen eines anti-naturalistischen und anti-illusionistischen Theaters in neuerer Zeit befassten sich48 in den “Rivista di Studi Teatrali” Elisabeth Brock-Sulzer49 und Georges Lerminier50.

In “Masks, Mimes and Miracles”51 hat Allerdyce Nicoll “im breit angelegten Schlußkapitel sowie im Anhang einen Überblick über die bislang gesicherten Erkenntnisse zum Thema Commedia dell’arte gegeben”52. In “The World of Harlequin”53 greift er die gewonnenen Forschungsergebnisse nochmals auf. Hier geht er auch auf die “Art der Darstellung (echte und unechte Improvisation), die Entwicklung der Typen (Pantalones und Harlekins Wandlungen), sowie die Art der Komik, die lazzi, ein”54. Ein umfassendes und unverzichtbares Werk über die italienische Komödie und das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts hat Walter Hinck55 vorgelegt. Er untersucht darin die “Ausstrahlungen der Commedia dell’arte in das deutsche Lustspiel und ihre Vermittlung durch Zwischenglieder wie das “Théâtre Italien”, Molière, Marivaux, Holberg, Goldoni und Gozzi”56. Im Jahr 1968 fand ein Symposion für Theaterforschung in Wien statt, wo zahlreiche Vorträge über die Commedia dell’arte gehalten wurden. Vorwiegend wurden hier die Einwirkungen der Commedia dell’arte auf das Theater verschiedener Länder untersucht. Dort hielt Heinz Kindermann einen Vortrag über “Das Wiener Komödientheater um die Jahrhundertwende” und ← 16 | 17 → über Reinhardts Versuche, die Commedia dell’arte zu “re-aktualisieren”57. Kindermann spricht über Reinhardts Inszenierung von Gozzis “Turandot” und über das Auftreten von Commedia dell’arte-Figuren in Strauß‘ “Ariadne auf Naxos”. Dort spielte Grete Wiesenthal in der Rahmenhandlung einen Küchenjungen als reine Pantomime. Reinhardt hat auch versucht, die Improvisation wiederzubeleben. Zunächst gab er einzelnen Schauspielern, so Max Pallenberg in Raimunds “Alpenkönig und Menschenfeind”, freien “Spielraum”. Später tat er dies mit einer ganzen Schauspieltruppe, in einer regelrechten Commedia dell’arte-Aufführung des “Diener zweier Herren” von Goldoni58.

Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts schrieb Denis Bablet59 über “Copeau et le théâtre théâtral” und Gösta M. Bergman60 “vertiefte Ettore lo Gattos Studien über die russischen Avantgardisten”61. Bergman verwies vor allem auf die Quellen, die die russischen Regisseure anregten, nämlich Craigs Commedia dell’arte-Zeichnungen in seinem Magazin “The Mask” von 1911, sowie auf die Aufsätze des Deutschen Georg Fuchs, “Die Schaubühne der Zukunft” (1905) und “Revolution des Theaters” (1909)62. Ferdinando Taviani hat in seinem Aufsatz “Influenza della Commedia dell’arte”63 eine Untersuchung vorgelegt, in der er den Mythos der Commedia dell’arte in der modernen Theaterkultur von 1860 bis 1970 nachzeichnet. Beginnend bei Maurice Sands kommt er zu Ariane Mnouchkine, und handelt weiter von Meyerhold bis Eugenio Barba. Taviani betont den europäischen Charakter dieses Mythos, der in Italien lange Zeit als Phänomen der Dekadenz und als Verlust theatralischer Werte betrachtet wurde. Eine berühmte Produktion wie beispielsweise Strehlers “Arlecchino servitore di due padroni” wurde oft als Beweis für die Lebendigkeit der italienischen Tradition der Commedia dell’arte angesehen. Tatsächlich gibt es einen Reflex in Italien, ausgehend von den Interpretationen der Commedia dell’arte in anderen Ländern, bezeugt von den großen europäischen Regisseuren wie Copeau oder Reinhardt oder großen Theoretikern wie Craig in England. Im Zeitraum eines Jahrhunderts scheint der Mythos der Commedia dell’arte sich verwandelt zu ← 17 | 18 → haben, vom Mythos eines spontanen Volkstheaters hin zu einem Mythos eines unabhängigen Theaters, das in der Lage ist, eigene Formen der Organisation und Produktion zu finden.

In seinem klugen und höchst informativen Aufsatz über “Marivaux und die Commedia dell’arte”64 beginnt Rainer Warning mit dem Spielverbot für italienische Schauspieler in Paris von 1697 bis zu deren Rückkehr 1716. Man hört einiges über die Truppe von Luigi Riccoboni, die schon früh neben dem italienischen Repertoire französische Stücke in ihren Spielplan aufnahm. Delisle und vor allem Marivaux schrieben Stücke für diese Kompanie. Marivaux schätzte und favorisierte den Zusammenklang von Gestik und Mimik bei den Italienern. Ähnliches vermisste er bei den Schauspielern der Comedie francais, bei denen eine “opernhafte Rhetorik und klassizistische Statik”65 vorherrscht. Als Ergebnis der Zusammenarbeit mit den Italienern kristallisierte sich einerseits eine Abneigung der Komödie, wie Molière sie vertritt, und andererseits eine Distanzierung von den “Grundprinzipien der Commedia dell’arte”66 heraus. Mit Marivaux‘ Reform der französischen Bühne ging auch eine neue verfeinerte Vorstellung von Liebe und Leidenschaft einher. Die einzigen Masken, die in Marivaux‘ Theater Eingang fanden, sind Arlequin und Colombine. Bei Marivaux steht eine Gefühlswelt im Mittelpunkt, bei der sich alles um die Begriffe “coeur” und “raison” dreht. Marivaux konzentriert sich auch auf den Parteienkonflikt von jung und alt, der in der Commedia dell’arte als Grundstruktur vertreten ist.

Im gleichen Band hat Wolfram Krömer einen Aufsatz über Goldonis Reform der Commedia dell’arte67 im 18. Jahrhundert veröffentlicht. Anhand von Goldonis “Don Giovanni Tenorio o sia il dissoluto” aus dem Jahr 1736 erläutert Krömer, wie dieser Theaterautor Stoffe aus dem Stegreiftheater in literarische Formen giesst. “Goldoni wendet sich (…) gegen die moralische Indifferenz, die Routine, die Unwahrscheinlichkeit und Wirklichkeitsferne der Commedia dell’arte”68. In “La donna di garbo” (1743 aufgeführt, 1750 gedruckt), ein Stück, das er für das Théâtre italien schrieb, überwindet der Autor das Stegreiftheater – so Krömer -, indem er alle Dialoge schriftlich fixiert. Goldoni führt in seinen Stücken einen Realismus vor, den die Commedia dell’arte nicht kannte. Er schliesst sich “der ← 18 | 19 → (pseudoaristotelisch geprägten) Literaturtheorie an und trägt auch insofern zur Literarisierung des Theaters bei”69.

In Walter Hincks Aufsatz “Brecht und die Commedia dell’arte”70 geht es in erster Linie um die Präsentation von Brechts Volksstück “Herr Puntila und sein Knecht Matti”. Brecht wählt einen Darstellungsstil, der Elemente der alten Commedia dell’arte und Elemente der realistischen Sittenkomödie miteinander verbindet. In der Geschichte der Commedia dell’arte hat es sich gezeigt, wie sie sich in Frankreich der Comédie italien und später dem Théâtre italien angepasst hat, um sich möglicherweise mit den satirischen Anteilen einer Commedia all’improviso zu reaktivieren. Sie ist unter folgenden konstanten Gesetzmässigkeiten festzuhalten:

Einem Höchstmass an körperlicher Eloquenz; einer dynamischen Aktion, die sich ebenfalls in der Bewegung ausdrückt; und der Harmonie des Burlesken im grotesken Spiel. Über die Commedia dell’arte hinaus arbeitet Brecht auch mit dramatischen Techniken aus dem chinesischen Theater. In Brechts Theaterarbeit nimmt das Gestische einen zentralen Platz ein. Was ihn interessiert ist die “aktive” Komödie, wie es die Commedia dell’arte modellhaft repräsentiert. Gerade deshalb wurden in der Uraufführung des “Puntila” 1949 in Berlin Masken verwendet, die der Commedia dell’arte entstammen. Dieses Gefühl für die alten Masken wird von Brecht erneuert, um ein Personal vorzuführen, das aus unterschiedlichen sozialen Klassen stammt. Die Technik wird in einem elegant spielerischen Stil tradiert und führt zu einer ruckartig einsetzenden Parodie. Die Rückbesinnung auf die Commedia dell’arte setzt sich fort zu einer Sozialsatire auf höchstem ästhetischen Niveau. Das Stück “Herr Puntila und sein Knecht Matti” markiert eine Phase in Brechts Werk, das dem komischen Theater verpflichtet ist, und das poetische Elemente, sowie eine Fülle alter Spieltechniken aufgreift. Auch die Adaptation und die Inszenierung des “Hofmeisters” nach Lenz im fogenden Jahr profitiert davon. Es existieren auch Analogien zur Commedia dell’arte in der szenischen Produktion des “Kaukasischen Kreidekreises” im Jahr 1954. Auch dort funktionieren die Masken wie ein satirisches Aufleuchten. In einer eleganten Choreographie werden die Figuren geführt und beziehen sich unmittelbar auf die juristische Rhetorik. Das weitervererbte Spiel des improvisierten Szenarios wird bruchlos der Technik der Distanzschaffung anheimgestellt und unterstützt gleichzeitig die Sozialkritik. Überblickt man das ← 19 | 20 → dramatische Werk Brechts und in diesem Zusammenhang die theoretische Reflexion der Exilzeit, so lassen sich Entwicklungslinien feststellen, die direkt in die Arbeit des “Berliner Ensembles” hineinführen.

In seinem Aufsatz “Die Commedia dell’arte des Bösen. Zur Automatenvorführung in Büchners Leonce und Lena”71 definiert Theo Buck Leonce als einen Vorläufer des Playboys und “übersättigten Zyniker”72 und gibt einen kurzen Abriss über das Figurenpersonal der Commedia dell’arte. Buck äußert sich über Armin Renkers Studie “Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik”73, der folgert, dass fast alle Figuren des Stückes sich auf das Personal der Commedia dell’arte beziehen lassen. Buck ist diese Deutung jedoch zu einseitig. Er gesteht aber der Commedia dell’arte eine “systemerhaltende Wirkung”74 zu, jedoch käme bei Büchner eine unmittelbar politische Komponente hinzu. Bereits im “Hessischen Landboten” findet sich das Motto75 der französischen Revolution: “Friede den Hütten! Krieg den Palästen!” Die Bauernszene (III, 2) illustriert dieses Motto lebhaft. Für Valerio ist der Hofstaat eine “Narrenposse und elendiges Puppentheater”76. Das Böse in “Leonce und Lena” ist “im destruktiven Umgang mit dem Humanen zu suchen”77. Buck zitiert die Automatenszene (III, 3), um seiner Analyse eine feste Basis zu verleihen. In der Automatenszene findet sich eine Form des Spiel-im-Spiel-Motivs, wenn Valerio Prinzessin und Prinz als “die zwei weltberühmten Automaten”78 ankündigt. Das ironisch von Valerio angesprochene “Glücks-Paradies” wird als “kitschige Parodie der Schöpfungsgeschichte”79 entlarvt. Mit der Figur des Valerio inszeniert Büchner eine Art “Privattheater (…), eine boshaft verdrehte Commedia dell’arte”80. Buck weist in seiner Studie ← 20 | 21 → Valerio die Figur des Harlekin zu, der in seiner Dualität Tölpel/Teufel eine Affinität zum Bösen hat. Dies ist der eigentliche Kern von Bucks Arbeit.

Über den Zusammenhang von Karneval81 und Komödie schreibt Francesco Delbono82. An der Wende zum 16. Jahrhundert stehen zwei Fastnachtspiele von Giovan Giorgio Alione (1460-1521?). Sie sind in der piemontesischen Volkssprache verfaßt und haben die Titel “Farsa di Nicolo Spranga” und “Farsa de Perô e Christina”. Es wäre von großem wissenschaftlichen Interesse, wenn Delbono mehr auf die Figur des von Andrea Beolco (1500-1542) geschaffenen “Ruzante” einginge. Die Einfügung eines von Beolco verfaßten Stückes “La Pastoral” (“Das Schäferspiel”) macht dieses Manko wieder gut. Ruzantes Stücke stehen noch in der Tradition des Fastnachtspiels; was sich daran anschließen wird fällt bereits unter den Terminus der modernen Komödie.

In seinem geistreichen und ebenso wichtigen Beitrag über die Frage, was Commedia dell’arte denn sei, beschäftigt sich Wolfram Krömer83 im gleichen Sammelband. Er stellt den Versuch an, als erstes die Commedia dell’arte von dem abzusondern, was sie nicht ist. Daraufhin erklärt Krömer ihre charakteristischen Züge und bringt als Beleg dafür einige erhaltene Commedia dell’arte-Szenarien. Außerdem geht Krömer auf die schriftlich fixierten Zibaldoni ein, die die comici dell’arte besaßen und konzentriert sich des weiteren auf die Geschichte der Commedia dell’arte in Italien. Den Abschluß bildet der Versuch, aufzuzeigen, was den künstlerischen Wert der Commedia dell’arte darstellt, “um so ihr Wesen zu bestimmen”84.

Vera Stegmann85 widmet sich dem berühmten Musiker Ferruccio Busoni (1866-1924) und seiner Relation zu Brecht und Weill. Busoni ist bekannt als höchst origineller Komponist und virtuoser Pianist. Darüber hinaus ist er ein kluger Denker, Autor ästhetischer Schriften und Kompositeur von Stücken des Musiktheaters. In denn zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde er in ← 21 | 22 → der Berliner Avantgarde-Szene zu einer Schlüsselfigur. Busonis einflußreichstes theoretisches Traktat ist: “Sketch of a New Aesthetic of Music”. Dieses Werk hatte eine revolutionäre Wirkung auf seine Zeit, denn es wertete die Musik Wagners und die gesamte deutsche Romantik auf. Der Einfluß von Busonis Schrift reichte weit über die Musikwelt hinaus; viele Thesen des “Sketch” können als ein Abriß des modernen Theaters und insbesondere als eine Antizipation von Brechts Theorie des epischen Musik-Theaters gesehen werden. Dies ist nicht völlig ohne Zusammenhang, denn Kurt Weill war in den zwanziger Jahren in Berlin Meisterschüler bei Busoni. Unter Busonis musikalischen Bühnenwerken zeigt sein “Theatralisches Capriccio”: “Arlecchino” sehr klar wie Busoni die italienische Commedia dell’arte-Tradition des 17. Jahrhunderts und den deutschen Modernismus des 20. Jahrhunderts auf ergänzende Art und Brechtscher Weise zusammensetzt. “Arlecchino” kann als Vorläufer der “Dreigroschenoper” angesehen werden.

Die von Wolfgang Theile herausgegebene Aufsatzsammlung “Commedia dell’arte. Geschichte – Theorie – Praxis”86 enthält 13 Beiträge international renommierter Renaissance- und Commedia dell’arte-Forscher aus den Jahren 1930 bis 1994. Inge Krengel-Strudthoff87 bringt einen Forschungsbericht über die Verbreitung der Commedia dell’arte in Europa. Rudolf Rieks88 schreibt über den antiken Mimus im Zusammenhang mit der “fabula atellanae”, und weist nach, dass bereits im römischen Theater improvisierte Spielformen präsent waren. Wolfgang Theile89 übernimmt die Aufgabe, über das Stegreiftheater in Italien und Frankreich zu referieren. Dieter Wuttke90 wendet sich der Figur des Harlekin zu, die uns unter anderem immer wieder in der Karnevalszeit begegnet. Max J. Wolffs91 Aufsatz beschäftigt sich mit der Grundlagenforschung zur Commedia dell’arte. Über die Commedia dell’arte in Bayern äußert sich Franz Rauhut92. ← 22 | 23 → Günter Schöne93 widmet sich der Erforschung der Commedia dell’arte-Bilder der Narrentreppe auf Burg Trausnitz über Lanndshut. Walter Hinck94 ist mit einem Auszug aus seinem Werk “Das deutsche Lustspiel des 17. Und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie” vertreten. Er untersucht die Strukturzüge der Commedia dell’arte, definiert dabei den “Konzentrations-Typus” und den Typus der “Phantastischen Commedia dell’arte”. Helmut Feldmann95 zeigt in seinem Essay “Die Fiabe und die Commedia dell’arte” die Märchenstücke Carlo Gozzis und deren komödiantische Anteile. Luigi Falchi96 steuert einen Beitrag über das Verhältnis Goldonis zu seinen Schauspielern und zu Aufführungspraktiken der Commedia dell’arte bei. Herbert Dieckmann97 betrachtet die Themen der italienischen Kunst im Zusammenhang mit der Commedia dell’arte, besonders die vielen Werke Gillots als Deuter des italienischen Maskentheaters. Albert Gier98 thematisiert einen wichtigen und oft vernachlässigten Aspekt der Commedia dell’arte: Die Verbreitung von Commedia dell‘arte-Aufführungen mit Musik. Als letzter Beitrag erscheint ein Essay von Elisabeth Brock-Sulzer99. Sie untersucht den Stellenwert der Commedia dell’arte im heutigen Theater.

Bernard Dieterle100 geht auf E. T. A. Hoffmanns “Prinzessin Brambilla” und Robert Coovers “Pinocchio in Venedig” ein. Er zitiert die Grundzüge der Commedia dell’arte, die mit den beiden Erzählungen in einem Verhältnis stehen, das vor allem durch die erzählerische Improvisation gegeben ist. In einem knappen Exkurs behandelt Dieterle den Stellenwert der Improvisation auf dem Theater der Goethezeit. Nach Meinung Herders sollen die ersten Menschen spontan gedichtet haben. Folglich wäre die Improvisation “eine ursprüngliche Gabe, die ← 23 | 24 → noch in der Volksdichtung oder im Genie am Werk ist”101. Hoffmann schreibt sein Fantasiestück “Prinzessin Brambilla” wie er ausdrücklich betont in “Callots Manier”. Durch die Bezeichnung “Capriccio” für die Erzählung distanziert sich der Dichter von der ernsten, hohen Kunst. Das “Leichte, Springende, auf Phantasie und Laune basierende”, das die Commedia dell’arte mit dem Erzählvorgang verbindet, wird hervorgehoben. Robert Coover wählt als zentrale Figur “Pinocchio”, der gleichfalls der Commedia dell’arte entsprungen ist. Dieterle zitiert den Begriff der “Hypertextualität”, der auf den Vorlagecharakter bei beiden Erzählungen verweist. “Als Hypertext gilt jeder Text, der ein anderes literarisches Werk um-, über- oder weiterschreibt und somit zum Hypotext (zur Vorlage) umfunktioniert”102 – so Dieterle. Dieterle befaßt sich am Schluß seines Essays mit dem Begriff “Postmoderne”, der “bekanntlich in der Benutzung von Vorhandenem”103 besteht. Bekannte Situationen und Klischees werden “durch ihre virtuose Handhabung aufgefrischt und belebt”104. Das gelingt in der Commedia dell’arte durch vorgefertigte lazzi, die zudem als Hypertext funktionieren.

Schindler105 schildert das Verhältnis Gottscheds zur Neuberin. Er definiert die deutsche Bühne, repräsentiert durch die Neuberin, als “Teatro dell’arte”. Gottsched forderte literarische fixierte Texte und nicht bloße Handlungsschemen wie sie die comici dell’arte in ihren “canevas” hatten. Er wendet sich auch gegen die Masken, die einen großen Teil einer Commedia dell’arte-Aufführung ausmachten. Als Ganzes gesehen geht es Gottsched “um die Vertreibung aller burlesken, possenhaften, rein-komischen und komödiantischen Elemente der Bühne”106, also alles was die Commedia dell’arte in ihrem Kern darstellt. Schindler erwähnt Königs Theaterstück “Die verkehrte Welt”, das von Gottsched als “Meisterstück” und der Dichter als “teutscher Molière” bezeichnet wurde. Man hört in diesem Aufsatz viel Neues und außerordentlich Vertieftes zum Thema Neuberin und die Commedia dell’arte. Die italienische Tradition wird von der Neuberin durchaus rezipiert und weitergeführt. In ihrem Spielplan bezog sie sich ausführlich auf Gherardis “Théâtre italien”. Schindler führt eine Vielzahl der ← 24 | 25 → Figuren auf der deutschen Bühne und im Stück “Das Reich der Toten” auf das Repertoire der Commedia dell’arte zurück. Schindler erweitert seine Recherche und konzentriert sich auch auf das zeitgenössische Puppentheater. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Repertoire sich ebenfalls aus der Commedia dell’arte und dem “Théâtre italien” rekrutieren läßt. Einen neuen Blick auf die “Tiraden”, rhetorische Bravourstücke, wirft Schindler und erwähnt dabei auch, dass es für dieses Element eigens angelegte Textsammlungen und Musikstücke gab. Die “Tiraden” wurden vor allem von der Dottore-Figur dargeboten. “Der Lederhändler von Bergamo”, ein beliebtes Stück der Neuberin-Zeit, behandelt Schindler in seinen deutschen “Verwandlungen”. Wie im “Reich der Toten” ist auch hier dieser Prozeß charakteristisch für den vor-literarischen Spielplan der Wanderbühne, indem “innerhalb deren Motive oft nur Bühnensituationen, lazzi und später auch Arien ganz nach aktuellem Bedarf ausgetauscht werden”107. Am Schluß seines Essays weist Schindler darauf hin, dass Walter Hinck in seinem berühmten Buch über das deutsche Lustspiel und die italienische Komödie die “Stücke der Wanderbühne ausdrücklich ausklammert”108. Zusammenfassend läßt sich sagen, Schindler hat versucht etwas Licht in diese Theaterepoche zu projezieren, und die Commedia dell’arte, die für die Neuberin in ihrer frühen Schaffensphase ein wichtiges Repertoire bildete und für die Entwicklung ihrer künstlerischen Kreativität von nicht zu ignorierender Bedeutung war.

Fausto de Michele109 untersucht die Rezeption der Capitano-Figur im deutschsprachigen Theater des 16. und 17. Jahrhunderts. Als erstes Beispiel führt er ein Fastnachtspiel von Pamphilus Gengenbach an, als zweites behandelt er eine Komödie des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel mit dem Titel “Die Comoedie von Vincentio Ladislao”. Die “Eskalation der Kriege in Zentraleuropa”110 führte zu einer forcierten Anwendung der Capitano-Figur auf der deutschen Bühne. Das zeigen auch die Stücke von Johann Rist und Andreas Gryphius. Nach dem westfälischen Frieden von 1648 verliert der Capitano seine politische Aktualität und verkümmert zum “sterilen Stereotyp”111. Das zeigt wiederum ein Beispiel von Christian Weise: “Vom Prahlhans Don Alfonso”. In der Folge fällt die Capitano-Figur gänzlich der Vergessenheit anheim.

← 25 | 26 → Ebenso ein Beitrag jüngeren Datums ist Hartmut Steineckes Aufsatz über Hoffmanns Annäherung an die italienische Komödie112, die bisher in der Forschungsliteratur noch nicht eingehend genug gewürdigt wurde. Steinecke verweist auf die frühe Commedia dell’arte und die Gozzi-Rezeption bei den Romantikern und nennt Tiecks “Gestiefelten Kater” (1797), “Prinz Zerbino” (1799), “Die verkehrte Welt” (1799) und vor allem “Das Ungeheuer und der blaue Wald” (1800). Außerdem erwähnt der Autor Brentanos “Ponce und Leon” (1802) und “Die lustigen Musikanten” (1803). Hoffmann sah in der Commedia dell’arte eine seinem eigenen Wesen verwandte Kunst. Wahrscheinlich hat Hoffmann um 1804 die Commedia dell’arte nur in der Form gekannt, wie sie sich bei Brentano in seinem Lustspiel “Die lustigen Musikanten” ausgedrückt hat. In diesem Stück kommt ein fantastischer Humor ins Spiel, der die “ziemlich unwichtige Handlung komisch und witzig”113 durchbricht. Hoffmann war fasziniert von den Fiabe Gozzis und den Zeichnungen Jacques Callots, die beide einen wichtigen Platz in seinem poetischen Werk einnahmen. 1811 las Hoffmann August Wlhelm Schlegels “Vorlesungen über romantische Kunst und Literatur” (1808). Darin ist “die bis dahin ausführlichste Beschäftigung mit der Commedia dell’arte und Gozzi von Seiten der Romantik”114 enthalten. Ab 1813 – so hört man bei Steinecke – interessiert sich Hoffmann für die italienische Stegreifkomödie und für Gozzi “primär im Kontext der Oper oder des Universalkunstwerkes”115. Steinecke erinnert an die Figuren der Commedia dell’arte in “Prinzessin Blandina” – Hoffmanns eigenem Schauspiel -, wie Truffaldin, Pantalone, Tartaglia und Brighella, die als Elemente des Scherzhaften dem ernsten Handlungsteil116 gegenüberstehen. Hoffmann hat in diesem Stück vieles bei Tieck gelernt, in der Kritik aber wurde “Prinzessin Blandina” als “flache, schlaffe Nachäfferei des Tieckschen Humors”117 bezeichnet. Schließlich sah Hoffmann ebenfalls “Blandina” als mißglücktes Werk an und strich es aus ← 26 | 27 → der Neuauflage der “Fantasiestücke”. Hoffmann abstrahiert die “Blandina” aus den Werken seiner großen Vorbilder wie Gozzi, Tieck, Shakespeare und Calderon und thematisiert die Plagiatsvorwürfe immanent in “Prinzessin Blandina”, indem er das Spiel-im-Spiel-Verfahren anwendet und spielerisch mit der “Theatertradition, ihren Beständen, Personen und Konstellationen”118 umgeht. Hoffmann schätzte die Commedia dell’arte als typisch romantische Kunstform. Als Höhepunkt romantischer Commedia dell’arte-Rezeption nennt Steinecke noch die Erzählung “Prinzessin Brambilla”, und er schließt seine Betrachtung mit den Worten, “die Verbindung der Commedia dell’arte mit Bildern von Jacques Callot führte zu einer neuen Kunstform”, der Hoffmann den “italienischen Namen (…) “Capriccio” gab”119.

Ein weiterer Aufsatz in diesem Band, der sich dem Verhältnis Hoffmanns zur Commedia dell’arte widmet, stammt von Lothar Pikulik120. Hoffmanns Vorliebe galt dem Theater, obwohl er kein besonderes Talent für das Drama hatte. Seine Figuren und Gestalten agieren aber so, als wären sie auf eine Bühne gestellt. Wie er selbst viele Male äußert, läßt er seine Protagonisten “ins Leben treten”. Er appelliert an die Vorstellungskraft seiner Leser, beschreibt detailgenau und vermittelt den Eindruck, als würden seine Schöpfungen unmittelbar auf einer Bühne erscheinen. Hoffmann favorisierte das Theater des Barock, das bis in die Romantik hinein seine Spuren hinterläßt. Dieses barocke Theater aber wurde ihm vor allem durch die Zeichnungen Jacques Callots nahegebracht. Pikulik ist einem weiteren Phänomen auf der Spur. Bereits in der Romantik sah man “Kultur und Kunst als Zeichensprache”121 an, die sich auch in den Wissenschaften ausdrückt und in der Natur ihre Hieroglyphenschrift hinterläßt. “Der Code der idealen Schauspielkunst ist nicht nur durch die Relation von Darstellen und Bedeuten, sondern auch von Oberfläche und Tiefe bestimmt”122.

Dem gehören auch die Erscheinungen des “Abnormen”, also des Wahnsinnigen an. Was Hoffmann so sehr an den Figurenzeichnungen Jacques Callots fesselte war die Dualität von Tierischem und Menschlichem darin. Das Leben dient als Stoff, verwandelt sich in der Bühnenkunst der Commedia dell’arte, die ← 27 | 28 → sich wiederum in die Zeichenkunst Callots umformt. Nach Pikulik stellt sich die Hieroglyphenschrift der Commedia dell’arte in drei Aspekten dar, in Gebärde, Maske und Spiel. Mit der Commedia dell’arte-Rezeption in “Prinzessin Brambilla” wollte Hoffmann “diese ältere Theaterform dem neuen romantischen Denken”123 anpassen. In “Prinzessin Brambilla” versucht Hoffmann die Callotsche Bilderwelt phantasievoll zu decodieren.

In einem kleinen handlichen Reclam-Band124 untersucht Henning Mehnert die Commedia dell’arte von ihren Ursprüngen bis hinein in die jüngste Gegenwart. Er berichtet über Figuren der Commedia dell’arte, ihre Form, ihre Gattung und ihre Ausbreitung über ganz Europa. In einem Anhang finden sich zwei von über 800 erhaltenen Szenarien und die bedeutendsten Masken in farbigen Abbildungen125.

In seinem Abriß mit dem Titel: “Comici dell’arte bereisen Europa” nennt Otto G. Schindler126 den ersten capocomico Francesco de‘ Nobili, genannt Cherea, der bereits 1532 Erwähnung findet. Über “Bartholome von Venedig”, der 1559 in Nördlingen spielt und “Juan de Venetia”, der 1566 in Augsburg, Prag und Linz anzutreffen ist, geht die Linie weiter. 1584 agiert die Truppe des “Venturino Casparino Venetiano” in München bei der Hochzeit des Landgrafen Georg Ludwig von Leuchtenberg mit Maria Salome von Baden. Schindler verweist auf die Fresken der Narrentreppe auf Burg Trausnitz über Landshut als “das bedeutendste Bilddokument, das wir überhaupt von der Commedia dell’arte besitzen”127.

Man hört bei Schindler von den comici gelosi (die, auf die alle eifersüchtig sind) und den comici accesi (die lebhaft Erwarteten), sowie den fedeli (den Glückbringenden), die vom Herzog von Mantua nach Deutschland vermittelt werden und den confidenti (den Zufriedenheit Bringenden) mit Tristano Martinelli, “dem ersten Arlecchino”128, der 1584/85 nach Frankreich gezogen ist. Der Chefkomiker der accesi, Piermaria Cecchini, wurde sogar von Kaiser Matthias in den Adelstand erhoben. Der Bericht wird fortgesetzt mit dem Wanderwesen ← 28 | 29 → des 17. Jahrhunderts, und auch die Größe der einzelnen Ensembles wird mit angeführt. Zudem wird die soziale Komponente beleuchtet, denn die comici dell’arte genossen großes Ansehen bei Hofe und beim gemeinen Volk, für das sie ebenso spielten. In Paris erschaffen sich die comici dell’arte eine neue Heimat. Bis 1697 heißt die Commedia dell’arte-Bühne dort schlicht “comédie italienne”, dann werden die italienischen Schauspieler mit einem Spielverbot belegt. Nach ihrer Rückkehr, 1716, wird ihr Name mit “Nouveau Théâtre italien” angegeben. Wir hören weiter von Sebastiano di Scio, der “zwischen 1687 und 1711 bereits den gesamten deutschen Sprachraum bereist”129 hat. Als bekanntestes Commedia dell’arte-Stück der Truppe Daneses wird “Il Basilisco del Bernagasso” angeführt, das sich auch bei allen namhaften Wandertheatern in Deutschland großer Beliebtheit erfreute, und bis ins Biedermeier als “Kasperl, der Hausherr in der Narrengasse” gespielt wurde. “Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden “Operisten” und andere Musik- und Tanztheater-Ensembles die eigentliche Domäne des italienischen Wander- und Gastspieltheaters”130, so Otto Schindler.

Katritzky131 untersucht die Quacksalberrollen vom mittelalterlichen geistlichen Spiel bis zur Commedia dell’arte. Es sind die “frühesten und bekanntesten nicht-biblischen Figuren darin, und sie treten meist im Zusammenhang mit dem Bedarf der drei Marien nach Balsam am Grab Christi”132 auf. Ihre Bühnenroutinen können als “mögliche Quellen dramatischer Strategien und Rollen der frühen Commedia dell’arte identifiziert werden”133. Katritzky hebt die Rollen der Salbenkrämer-Szene heraus, nämlich den “Quacksalber, seine Frau und ihren Diener”134, die auf Archetypen der Commedia dell’arte, das Bühnentrio Herr, Diener, junge Frau, vorausweisen. Sie bieten Bühnenpossen dar, die den lazzi der Commedia dell’arte nahestehen. Sie besitzen darüber hinaus ein “charakteristisches Potential für Improvisation, Übertragung und Ausweitung”135. Der Aufsatz ist mit einem Anhang versehen, der einen chronologischen Überblick über siebzig Quacksalber-Szenen von 1100 bis 1599 bietet.

← 29 | 30 → I. 2. 2. Das Bildmaterial über die Commedia dell’arte und dessen Quellenwert136

Das am meisten vernachlässigte und potentiell wertvollste Forschungsfeld über die Commedia dell’arte ist fraglos das Überleben dieses Phänomens im visuellen Gedächtnis.

Das systematische Entschlüsseln, Datieren und die Interpretation der Drucke, Zeichnungen, Gemälde und Fresken mit dem Bezug zur Commedia dell’arte hat gerade erst begonnen.

Allardyce Nicoll hat die Notwendigkeit in einer Randbemerkung festgestellt. Illustratives Material mit Bezug zur Commedia dell’arte ist reich, jedoch hat es bisher keinen Versuch gegeben, sie zu entschlüsseln.

A. M. Nagler137 hat nachgewiesen, dass die Commedia dell’arte – entgegen weitverbreiteter Ansichten – ein Bühnenbild besaß. Zuvor hatte Bragaglia138 in seinem Buch “Pulcinella” der “Scenografia dell’Improvvisa” ein ausführliches Kapitel gewidmet. Er hatte verschiedene Abbildungen in den Corsini-Handschriften untersucht und kam dabei für die Frühzeit auf eine Winkelrahmen- und später eine Kulissenbühne139. Jedoch – so Inge Krengel-Strudthoff – gehen “Naglers Interpretationen – vor allem aber die Nachweise für den Einfluß mittelalterlicher Bühnenbilder – über Bragaglias Beschreibungen hinaus”140. Im allgemeinen ist der Quellenwert der meisten Abbildungen als gering einzustufen. Es handelt sich dabei um Bilder zum Thema Commedia dell’arte, kaum jedoch sind es solche Kunstwerke, die eine wirkliche Commedia dell’arte-Aufführung zeigen141. Für die Commedia dell’arte, “von der nicht einmal fertige Texte für einen Rekonstruktionsversuch vorliegen, sind sie geradezu unschätzbar”142. Die ältesten Bilder über die Commedia dell’arte finden sich im Freskenzyklus der sogenannten „Narrentreppe“ auf der Burg Trausnitz143 über Landshut. Man ← 30 | 31 → vermutet, dass es sich dabei um Schauspielszenen handelt, die zwischen 1568 und 1576 so oder ähnlich am Münchner Hof von Darstellern der Commedia dell’arte geboten wurden144. Um ein Gefühl für die Kunst der Commedia dell’arte zu entwickeln, ist es notwendig, die vielen Gemälde zu studieren und die Aktion der Figuren vor dem geistigen Auge ablaufen zu lassen. Reiches Bildmaterial über die italienische Stegreifbühne findet sich in den genannten Büchern von Mic, Duchartre, Apollonio, Bragaglia und Nicoll.

Nach diesem allgemeinen Überblick über die Forschung nach Ursprung und Wesen der Commedia dell’arte, bei dem die Wiederbelebung des Genres bereits angesprochen wurde, gehe ich nun zur vertieften Auseinandersetzung mit der Literatur über mein Thema “Die Commedia dell’arte im Theater des 20. Jahrhunderts” über. Der folgende Teil des Forschungsberichts orientiert sich chronologisch an der Reihenfolge der Einzelkapitel.

I. 2. 3. Forschungsbericht zu Zirkus, Slapstick-Comedy und europäischem Regietheater

Zirkus und Slapstick-Comedy

In seinem großformatigen Buch “Harlekin. Bilderbuch der Spaßmacher”145 aus dem Jahr 1959 ehrt Siegfried Melchinger die Clowns, die in den 50er Jahren in Serien harleqinesquer Art aus dem Extempore gespielt haben. Er zeigt, jeweils mit einem Bild versehen, Spaßmacher wie Marcello Moretti als Arlecchino und die Magnani Familie. Die größte Anerkennung zollt Melchinger den Clowns Grock, Toto, Popov und den Filmstars wie Chaplin oder Kaye. Melchinger legt ein sehr schönes Buch für den Liebhaber der lustigen Person vor, es ist aber vom wissenschaftlichen Aspekt her nicht sehr bedeutend.

Der Franzose Tristan Rémy hat 150 Clowns-Entrées gesammelt und aufgeschrieben. Er verstand sich dabei als Zeitzeuge einer versinkenden Kunst des Moments, die nicht für das Festhalten in Dokumentationen gedacht war. Aktion und personale Überlieferung hielt er in detailgenauen Aufzeichnungen fest. Tristan Rémys Versuch historische Clownsentrées nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, ist durchaus verdienstvoll und bietet eine gute Grundlage für weitere Forschungen. Zu der Veröffentlichung seines Buches “Clownnummern” aus dem Jahr 1982, in dem eine Auswahl von 28 Entrées mit der Gegenüberstellung von reichem Bildmaterial erstmals gezeigt wird und das auch ein einführendes ← 31 | 32 → Kapitel über die Geschichte des Zirkus enthält, schreibt im Vorwort die Herausgeberin Wanda Zacharias:

“Es gibt Fotos von Entrée-Clowns, die Tristan Rémy erwähnt, und von solchen, deren Namen unbekannt sind. Wir zeigen Dressur-Clowns und Musical-Clowns. Wir stellen Clowns an der Front neben Clowns im Ensemble des perfektionierten amerikanischen Großcircus. Wir zeigen den Clown im Waisenhaus und im Krankenhaus, allein zwischen leeren Stühlen und mitten unter den Leuten. Wir zeigen den Clown, der als Produzent, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller den Circus von der Manege über Hollywood auf die Leinwand brachte: Charlie Chaplin. Und wir zeigen den 85-jährigen Clown Charlie Rivel im Circus Krone und den jungen Clown Pello im Zirkus Roncalli, beide photographiert in München 1981.”146

Details

Seiten
447
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783653061277
ISBN (ePUB)
9783653961171
ISBN (MOBI)
9783653961164
ISBN (Hardcover)
9783631666753
DOI
10.3726/978-3-653-06127-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (September)
Schlagworte
Theatergeschichte Theatertheorie Improvisationstheater
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2015. 447 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Veit Bessenbacher (Autor:in)

Veit Alexander Bessenbacher studierte Germanistik sowie Kunstgeschichte und Denkmalpflege an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und schloss sein Studium mit der Promotion ab.

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Titel: Die Commedia dell’arte im Theater des 20. Jahrhunderts
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