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Mehrdeutigkeit übersetzen

Englische und französische Kinderliteraturklassiker der Nachkriegszeit in deutscher Übertragung

von Agnes Blümer (Autor:in)
©2016 Dissertation 434 Seiten

Zusammenfassung

Viele englisch- und französischsprachige Kinderliteraturklassiker waren an Erwachsene und Kinder zugleich gerichtet, was in den Ausgangskulturen für selbstverständlich gehalten wurde. Galt dies auch noch für ihre Übertragung ins Deutsche? Agnes Blümer unterzieht sechs Klassiker der kinderliterarischen Phantastik der Nachkriegszeit sowie ihre Übersetzungen einer eingehenden literatur- und übersetzungswissenschaftlichen Analyse: «The Borrowers», «Tom’s Midnight Garden», «Tistou les pouces verts», «A Wrinkle in Time», «Where the Wild Things Are» und «Conte numéro 1». Im vorangestellten Theorieteil legt sie den Stand der Mehrdeutigkeits- und Übersetzungsforschung dar. Einen weiteren Bezugspunkt bilden Theoriediskurse der 1950er- und 1960er-Jahre und deren Einfluss auf die damalige Übersetzungspraxis.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Dank
  • Inhalt
  • Einleitung und Fragestellung
  • All-Age-Literatur heute und ihre Vorläufer in den 1950er- und 1960er-Jahren
  • Fragestellungen und Gliederung
  • Teil I: Theorie(n)
  • 1. Kapitel: Theorien der Kinder-Erwachsenen-Literatur: Mehrfachadressiertheit, Doppelsinnigkeit und Crossover-Literatur
  • a. Kinder und Erwachsene als Leser von Kinderliteratur, Rezeptionsästhetik
  • b. Zohar Shavit: ambivalent texts
  • c. Barbara Wall: single/double/dual address
  • d. Hans-Heino Ewers: doppelsinnige und mehrfachadressierte Texte
  • e. Emer O’Sullivan: Mehrfachadressiertheit
  • f. Crossover- und All-Age-Literatur
  • g. Mehrfachadressiertheit/Doppelsinnigkeit oder Crossover
  • h. Doppelsinnigkeit und mehrfacher Schriftsinn
  • 2. Kapitel: Theorien der Phantastik. Phantastik als Kinder-Erwachsenen-Literatur
  • a. Phantastik und ihr Potenzial zur Doppelsinnigkeit
  • b. Phantastik in der Allgemeinliteratur: Definitionsversuche und historische Voraussetzungen
  • c. Tzvetan Todorovs Introduction à la littérature fantastique oder: „Le fantastique ne dure que le temps d’une hésitation …“
  • d. Renate Lachmanns Erzählte Phantastik oder: Phantastik und Kultur
  • e. Definitionsversuche zur phantastischen Kinder- und Jugendliteratur
  • f. Kinderliterarische Phantastik und ihre Funktion
  • 3. Kapitel: Theorien des kinderliterarischen Übersetzens
  • a. Allgemeine Theorien literarischen Übersetzens. Geschichte und Überblick
  • b. Polysystemtheorie und Descriptive Translation Studies
  • c. Theorien der kinderliterarischen Übersetzung. Geschichte und Überblick
  • d. Anpassung an Normen des Zielsystems: Systemic Affiliation
  • e. Anpassung an kulturelle Gegebenheiten des Zielsystems: Cultural Context Adaptation
  • f. Allgemeinliterarische und kinderliterarische Übersetzungstheorien
  • g. Äquivalenz und Shifts
  • h. Skopos-Theorie und die Übersetzung für Kinder
  • i. Modelle für die Übersetzung von Kinder-Erwachsenen-Literatur
  • j. Emer O’Sullivans „Stimmen“ der Übersetzung
  • k. Mehr-Ebenen-Modell des kinderliterarischen Übersetzens
  • Teil II: Fallstudien
  • 1. Kapitel: Einleitung zu den Fallstudien: Der kinderliteraturwissenschaftliche Diskurs der Nachkriegsjahrzehnte
  • a. Die Theorie des ‚guten Jugendbuchs‘ und die Kinder-Erwachsenen-Literatur
  • b. Die Anfänge kinderliteraturwissenschaftlicher Phantastiktheorie in Deutschland: Anna Krüger und Ruth Koch
  • c. Phantastik, Übersetzung und Doppelsinnigkeit
  • d. Mary Poppins als strittiger Text
  • e. Der Diskurs über Phantastik und Doppelsinnigkeit in Großbritannien, den USA und Frankreich
  • f. (Kinder-)Buchmarkt, kinderliterarisches Übersetzen und Nicht-Übersetzen in der Nachkriegszeit
  • g. Die zeitgenössische Übersetzungstheorie
  • h. Zum Korpus: Ausgangssprachen, Zielkultur und Schlüsseltexte
  • 2. Kapitel: Mary Norton: The Borrowers (1952). Die Blicke der Großen und die Blicke der Kleinen
  • a. Phantastik und The Borrowers
  • b. Biobibliographisches zu Mary Norton
  • c. Ausgaben und Übersetzungen
  • d. Systemic Affiliation und pädagogische Normen in der Übersetzung
  • e. Bedeutungsebenen in The Borrowers
  • f. Groß und Klein
  • g. Sehen und Gesehenwerden
  • h. Gaze
  • i. Returned Gaze
  • 3. Kapitel: Philippa Pearce: Tom’s Midnight Garden (1958). Die Zeit der Alten und die Zeit der Jungen
  • a. Tom’s Midnight Garden als Time Fantasy
  • b. Biobibliographisches zu Philippa Pearce
  • c. Ausgaben und Übersetzungen, Rezeption und Forschung im deutsch- und englischsprachigen Raum
  • d. ‚Übersetzung‘ von Illustrationen und Kapitelüberschriften als Generic Affiliation
  • e. Zeit und Wissenschaft, Doppelsinnigkeit und Übersetzung
  • f. Intertextuelles: Forschung, Kinderliteratur und die Bibel
  • g. Rereading oder Wiederlesen
  • 4. Kapitel: Maurice Druon: Tistou les pouces verts (1957). Eine religiöse und politische Bilddichtung
  • a. Phantastik eines Crosswriters
  • b. Biobibliographisches zu Maurice Druon
  • c. Ausgaben und Übersetzung
  • d. Crosswriting, Mehrfachadressierung und Der kleine Prinz
  • e. Tistou als Bilddichtung: Sentenzen und Leseranreden
  • f. Tistou als ewiges Kind
  • g. Illustrationen und Referenzen
  • h. Tistou als politische Phantastik
  • i. Tistou als Übersetzung der 1950er-Jahre?
  • 5. Kapitel: Madeleine L’Engle: A Wrinkle in Time (1962). Reflexionen des Kalten Kriegs zwischen Biblizismus und Science Fiction
  • a. Phantastik, Science Fiction oder Fantasy?
  • b. Biobibliographisches zu Madeleine L’Engle
  • c. Übersetzungen und Rezeption
  • d. Intertextuelles: Weltliteratur und die Bibel
  • e. Wissenschaft und Spiritualität
  • f. Zitate aus dem Neuen Testament
  • g. Politische Lesart
  • 6. Kapitel: Maurice Sendak: Where the Wild Things Are (1963). Der Protagonist als Autor seiner Welt
  • a. Where the Wild Things Are als phantastisches Bilderbuch
  • b. Biobibliographisches zu Maurice Sendak
  • c. Entstehung, Rezeption und Übersetzung
  • d. Bilder als Signalbereich der Doppelsinnigkeit
  • e. Where the Wild Things Are als ‚Spielwiese‘ der Literaturtheorie
  • f. Poetologische Lesart
  • g. Rhythmus und Vorlesbarkeit als Signalbereiche der poetologischen Lesart
  • h. Konventionalisierung durch Shifts
  • 7. Kapitel: Eugène Ionesco/Etienne Delessert: Conte numéro 1 (1968). Sprachphilosophie in einem Bilderbuch des Absurden
  • a. Absurdität und Phantastik
  • b. Biobibliographisches zu Eugène Ionesco und Etienne Delessert
  • c. Textfassungen, Ausgaben und Übersetzungen der Contes
  • d. Die Contes als Bilderbücher des Absurden
  • e. Kindlich-absurdes Erzählen
  • f. Doppelsinnigkeit und Intertextualität
  • g. Conte numéro 1 als Sprachreflexion
  • h. Geschichte Nummer 1 an der Schwelle zu einer neuen kinderliterarischen Epoche
  • Schluss
  • Fazit: Die Übersetzungen der 1950er- und 1960er-Jahre
  • Ausblick: Aktuelle Neuübersetzungen und Neuausgaben
  • Abbildungsverzeichnis
  • Bibliographie
  • Indizes
  • Index I: Sachen und Werke
  • Index II: Personen

| 13 →

„To be only critical, to defer the action until

the production of the utopian translator, is impractical.“

(Gayatri Chakravorty Spivak, „The Politics of Translation“, 2000)

Einleitung und Fragestellung

All-Age-Literatur heute und ihre Vorläufer in den 1950er- und 1960er-Jahren

Kinderliteratur ist zur Erwachsenenliteratur geworden. Seit dem Hype um Harry Potter Ende der 1990er-Jahre werden Kinder- und Jugendbücher vermehrt von Erwachsenen gelesen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer Crossover- oder All-Age-Literatur, die vormals scharf gezogene Grenzen zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur verschwimmen lasse. Wenn Erwachsene heute Kinderliteratur lesen, sind sie nicht mehr nur Vorlesende für ihre Kinder oder Mitlesende, die wissen wollen, was sie den Kindern in die Hand geben, vielmehr sind sie Leserinnen und Leser aus eigenem Interesse.1 Der Status der Kinderliteratur hat sich verändert.

Eine solche Kinder-Erwachsenen-Literatur2 ist jedoch kein neues Phänomen. Wohl schon seit dem Entstehen der Kinderliteratur in der Aufklärung gibt es Texte, die für mehrere Lesergruppen attraktiv sind, die vielleicht sogar von ihren verschiedenen Leserinnen und Lesern unterschiedlich gelesen werden. Viele dieser Texte sind zu internationalen Klassikern der Kinderliteratur geworden. Betrachtet man den gegenwärtigen deutschen Buchmarkt, handelt es sich bei den mehrdeutigen Werken häufig um übersetzte Texte, die der Phantastik oder der Fantasyliteratur angehören. In der Vergangenheit waren das etwa Alice im Wunderland, Peter Pan und Der kleine Prinz, heute sind es Harry Potter, Die Tribute von Panem und Biss zum Abendrot. Die Texte haben drei Dinge gemeinsam: Sie ← 13 | 14 → werden von Kindern und Erwachsenen gelesen, sie sind übersetzt und sie gehören zur phantastischen Literatur.

Diese Phänomene, die in der aktuellen Kinderliteraturkritik häufig als neue Entwicklungen diskutiert werden, haben eine Vorgeschichte. In gewisser Weise kann man davon ausgehen, dass die aktuelle Phase der All-Age-Literatur ihren Anfang nach dem Zweiten Weltkrieg genommen und sich über Umwege zur heutigen Gestalt entwickelt hat. Für zwei der drei Aspekte, die hier zusammenkommen, ist dies offensichtlich, nämlich für das nicht-realistische Genre und die Rolle der Übersetzung: In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden ungewöhnlich viele phantastische Texte publiziert.3 Diese dürften den Weg für die aktuelle Fantasyliteratur geebnet haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Übertragungen ins Deutsche besonders gefördert; die aus dem Englischen übersetzten Werke sind seitdem aus dem ‚deutschen‘ Kinderliteraturangebot nicht mehr wegzudenken. Was den dritten Aspekt, den Status der Kinder-Erwachsenen-Literatur angeht, hat allerdings ein drastischer Wandel stattgefunden. Im westdeutschen kinderliterarischen Diskurs herrschte in den Nachkriegsjahrzehnten – zumindest offiziell – eine strikte Trennung zwischen Kinder- und Allgemeinliteratur. Kindheitsautonomie und Kindgemäßheit waren die Schlagworte. Man forderte vor allem ‚kindgerechte‘ Texte, während zu komplexe, mehrdeutige Werke kritisch beäugt wurden. Dennoch wurden, besonders in Übersetzungen, viele Werke veröffentlicht, die sich über diese strikte Trennung zwischen Kinder- und Allgemeinliteratur hinwegsetzen.

Fragestellungen und Gliederung

Wenn erwachsene Leserinnen und Leser Kinderliteratur um ihrer selbst willen lesen, muss diese Elemente enthalten, die Erwachsene mindestens nicht aus-, besser aber sogar besonders mit einschließen und ihnen weitergehende Lesarten anbieten. In den Übersetzungen solcher Werke kam es daher zu Konflikten zwischen der Mehrdeutigkeit, die dem Ausgangstext eingeschrieben war, einerseits und den kinderliterarischen Normen und Konzepten der deutschen Zielkultur andererseits. Wie wurde dieser Konflikt gelöst, welche Arten von Übersetzung entstanden dabei und welchen Einfluss hatten die übersetzten Werke auf den Status der Kinderliteratur in der Zielkultur?

Diese Fragen werfen weitere auf: In welchem Umfang werden in den 1950er- und 1960er-Jahren die vieldeutigen Texte überhaupt übersetzt? Was passiert mit ← 14 | 15 → den Signalen an Erwachsene im Übersetzungsprozess? Beeinflussen Kulturspezifika oder Gegebenheiten des Buchmarkts die Vermittlung und Übersetzung von kinderliterarischen Texten? Und vor allem: Gehören auch die übersetzten Werke zur Kinder-Erwachsenen-Literatur oder werden sie zu einfach adressierten Texten? Wie verläuft ihre weitere Rezeption? Im zweiten Teil dieses Buchs sollen diese Fragen in Fallstudien zu sechs kinderliterarischen Werken, die in den Nachkriegsjahrzehnten aus dem Englischen oder Französischen ins Deutsche übersetzt worden sind, exemplarisch beantwortet werden.

Eine solche Übersetzungsanalyse birgt Gefahren: Jede Kritik aus heutiger Perspektive ergibt sich vor allem daraus, dass die Übersetzungen der 1950er- und 1960er-Jahre Produkte ihrer Zeit sind – ganz, wie auch heutige Übersetzungen einmal veraltet wirken werden. Daher sollen nicht nur die Übersetzungen, sondern auch sie flankierende Äußerungen von Übersetzenden oder in ihrem zeitlichen Kontext anzusiedelnde Überlegungen anderer Akteure des kinderliterarischen Handlungssystems in die Analyse einbezogen werden. Das Ziel dieser Rekontextualisierung ist es, der vorliegenden Arbeit eine entschieden deskriptive Ausrichtung zu geben. Die Übersetzungen der Nachkriegsjahrzehnte sollen nicht nach heutigen Maßstäben und Normen beurteilt, sondern in ihrer Zeitgebundenheit und ihrer literaturgeschichtlichen Bedeutung betrachtet werden. Denn es gilt Gayatri Spivaks (2000, 399) Diktum, dass es nicht sinnvoll sein kann, auf die ‚perfekte‘ Übersetzerin oder den ‚perfekten‘ Übersetzer zu warten. Vielmehr geben kinderliterarische Übersetzungen in ihrer Zeitgebundenheit Aufschluss über historische Kindheits- und Literaturvorstellungen, über Normen und kulturelle Kontexte und über den Umgang mit Kinderliteratur. Eine perfekte, zeit- und ortlose ‚utopische Übersetzung‘ wäre in dieser Hinsicht uninteressant, geht es doch gerade um die Verortung von Übersetzungen in ihrem historischen und kulturellen Kontext.

In den Fallstudien im zweiten Teil des Buchs wird es ausnahmslos um Werke gehen, die zwischen 1945 und 1970 erschienen sind. Dies gilt sowohl für die Ausgangstexte als auch für ihre deutschen Übersetzungen – das heißt auch, dass nur Übersetzungen behandelt werden, die relativ zeitnah angefertigt wurden.4 Viele dieser Texte werden mittlerweile als ‚Klassiker‘5 der Kinderliteratur betrachtet ← 15 | 16 → und erfahren eine anhaltende Rezeption, unter anderem durch mediale Adaptionen und Neuauflagen. Die Periodisierung 1945 bis 19706 ergibt sich aus den historischen Eckdaten vom Ende des Zweiten Weltkriegs7 und dem folgenden Wiederaufbau bis hin zur Studentenbewegung 1968. Der 1968 ausgelöste gesellschaftliche Wandel resultiert in einem Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendliteratur und beendet damit eine kinderliterarische Epoche.

Diese Epocheneinteilung ist nicht nur für den deutschen Sprachraum plausibel: Das Ende des Zweiten Weltkriegs markiert sowohl für den deutsch- als auch französischsprachigen und englischsprachigen Raum eine politische und gesellschaftliche Zäsur. Die Studentenbewegungen in Deutschland und Frankreich 1968 korrespondieren mit dem Zeitgeist der Hippie bewegung im englischsprachigen Raum mit ihrer Rebellion gegen überkommene Autoritäten, sodass diese Epoche mit ihren Anfangs- und Endpunkten für alle drei Sprachräume angenommen werden kann. Davon ausgehend, dass es schon aufgrund ← 16 | 17 → des Produktionsverlaufs einige Zeit dauert, bis die von 1968 ausgehenden Impulse auch das (veröffentlichte) Kinderbuch erreichen, wird die hier betrachtete Zeitspanne bis 1970 verlängert.

Wie heute für eine Analyse der aktuellen Crossover-Texte sicherlich die Fantasyliteratur die bestimmende Gattung8 wäre, ist die kinderliterarische Phantastik in Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren so produktiv und einflussreich, dass sie als „epochentypisch“ gelten kann (von Glasenapp 2010, 111).9 Andrea Weinmann (2011) weist auf den „Zusammenhang zwischen der Autonomisierung der Kindheit und kinderliterarischer Phantasie“ hin (ebd., 24) und führt aus, dass das Ideal der Kindheitsautonomie als „Kindheitsbild der Epoche in der kinderliterarischen Phantastik im weiteren Sinne einen wirkungsvollen Niederschlag“ (Weinmann 2011, 24) gefunden habe.

Den Übersetzungsanalysen geht ein Theorieteil in drei Kapiteln voraus, der die theoretische Grundlage zur Analyse der oben erwähnten drei Aspekte der Texte (1. das altersübergreifende Schreiben, 2. das nicht-realistische Genre und 3. die Übersetzung) bilden soll: 1. Theorien der Kinder-Erwachsenen-Literatur, 2. Theorien der Phantastik und Phantastik als Kinder-Erwachsenen-Literatur, ← 17 | 18 → 3. Theorien des kinderliterarischen Übersetzens. Die aktuelle Forschung zur Doppelsinnigkeit, zur Phantastik und zum Übersetzen von Kinderliteratur, wird hier – soweit ausschlaggebend – als Forschungsbericht kritisch präsentiert und wenn nötig ergänzt. Dort, wo zu diesen Themen auch die zeitgenössische Forschung der Nachkriegsjahrzehnte, Betrachtungen von Vermittlerinnen und Vermittlern oder der kinderliterarische (und literaturpädagogische) Theoriediskurs der Epoche aufschlussreich für die Übersetzungspraxis der Zeit sein können,10 werden diese im zweiten Teil der Arbeit als Vorbemerkungen zu den folgenden Übersetzungsanalysen aufgearbeitet.


1 In meiner Arbeit bemühe ich mich um geschlechtergerechte Sprache: Wenn es um ‚echte Menschen‘ wie Leserinnen und Leser, Übersetzerinnen und Übersetzer geht, nenne ich nach Möglichkeit beide grammatischen Formen. Bei theoretischen Konstrukten und Konzepten (wie etwa dem ‚impliziten Leser‘, dem ‚Mitleser‘ o. ä.) verwende ich hingegen lediglich das generische Maskulinum.

2 ‚Kinder-Erwachsenen-Literatur‘ benutze ich im Folgenden als Oberbegriff für mehrfachadressierte und/oder doppelsinnige Literatur (vgl. zu diesen Termini das Kapitel I.1), die sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild, ihrer Inszenierung im Paratext und/oder in verschiedenen Lesarten an Kinder und Erwachsene zugleich richtet.

3 Vgl. zur Eingrenzung der kinderliterarischen Epoche die Einleitung zu den Fallstudien im Teil II dieses Buchs (II.1).

4 Alle späteren Neuübersetzungen, die nicht mehr in der gewählten kinderliterarischen Epoche selbst angefertigt worden sind, sollen nur dem Ausblick auf weitere Entwicklungen der Praxis des kinderliterarischen Übersetzens dienen.

5 Vgl. zum ‚Klassiker‘-Begriff in der Kinderliteratur unter anderem Bettina Hurrelmann (1995), Bettina Kümmerling-Meibauer (1999) und Anita Schilcher (2012). Besonders im Kontext von Übersetzungen ist Schilchers (2012, 8) – im Gegensatz zu einigen anderen kinderliteraturwissenschaftlichen Ansätzen nicht normative – Definition von Klassikern am überzeugendsten: „Ich fasse deshalb […] als ‚Klassiker‘ der Kinder- und Jugenditeratur diejenigen Werke zusammen, die eine Kultur für Klassiker hält. Das impliziert, dass sich die Anerkennung eines Werkes als ‚Klassiker‘ von Kulturkreis zu Kulturkreis, zwischen kulturellen Gruppen und von Epoche zu Epoche wandeln kann.“ Zudem geht Schilcher (ebd.) auf die Rolle von medialen Adaptionen ein: „In einer modernen Gesellschaft manifestiert sich die Akzeptanz als ‚Klassiker‘ unter anderem in der Etablierung eines Medienverbundsystems um einen Text herum. Existieren zu einem Text Hörmedien, Filme oder auch Computerspiele wäre das für mich ein Kriterium, diesen Text zu den ‚modernen Klassiker‘ zu zählen.“

6 Die Annahme einer kinderliterarischen Epoche, die 1945 beginnt und mit dem Paradigmenwechsel um 1968 endet, ist relativ unumstritten. In der ausführlichsten Kinderliteraturgeschichte Geschichte der deutschen Kinderliteratur (Wild 2008) behandelt Steinlein diese Epoche unter der Überschrift „Neubeginn, Restauration, antiautoritäre Wende“. Ähnlich fasst Schikorsky (2012) die „Nachkriegszeit“ als von 1945 bis 1969 reichende Epoche auf. Auch Andrea Weinmann stellt in ihrem Überblick „Geschichte der Kinderliteratur der Bundesrepublik nach 1945“ (2011) einen deutlichen Bruch nach 1968 fest. Sie spricht sogar von einer „neuen Kinderliteratur“ (30) nach 1970. Zum Phänomen der deutschen Kinderliteraturgeschichtsschreibung vgl. Weinmann 2013, siehe dort (49–52) auch zum Konstruktcharakter der Literaturgeschichtsschreibung und ihrer Epocheneinteilungen.

7 Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutet nicht nur für die Kinderliteratur den Beginn einer neuen Epoche, sondern einen Wandel auch für Kinderliteraturforschung und -kritik, wie etwa Peter Hunt (1990, 3) konstatiert: „Only in the twentieth century, and, more specifically, post-1945, has criticism developed in recognizably conventional direction, and it has developed in a way which parallels academic criticism.“

8 Ebenso wie der Epochenbegriff – vgl. Fußnote 6 – mag das Konzept der Gattung problematisch sein. Beide Begriffe werden hier jedoch nicht normativ verwendet, sondern lediglich als Analyse-Instrumentarium. Ich folge damit Jean-Yves Tadié (1994, 5): „Si critiqué que soit la notion de genre littéraire […], elle a une utilité qui est toute d’application: elle permet de traiter de formes communes à plusieurs œuvres, à plusieurs auteurs, à plusieurs époques.“

9 Vgl. auch Andrea Weinmann (2011, 25): „Tatsächlich handelte es sich bei der kinderliterarischen Phantastik i.w.S. um die quantitativ fruchtbarste Gattung dieser Epoche; insofern war sie epochentypisch, was in der Kinder- und Jugendliteraturforschung lange Zeit nicht in diesem Umfang wahrgenommen wurde.“ Mit dem Paradigmenwechsel Ende der 1960er-Jahre verändert sich auch die kinderliterarische Phantastik. Auf diese Veränderung der Phantastik und den Zusammenhang zwischen jeweiligem Kindheitsbild und Ausprägung der Phantastik weist besonders Gudrun Stenzel (1995, 287) hin: „In der kinderliterarischen Phantastik nach 1970 vollzieht sich ein Paradigmenwechsel: Durch eine Annäherung an die erwachsenenliterarische Phantastik des 19. und 20. Jahrhunderts kommt es zu einer Auflösung des klassischen Modells kinderliterarischer Phantastik.“ Es soll in meiner Studie also ausdrücklich um diese phantastischen Texte im engeren Sinn, nicht um Fantasyliteratur gehen. Inwieweit auch für einige phantastische Texte der Nachkriegsliteratur im Nachhinein die Einordnung in die Gattung Fantasy sinnvoll wäre, reflektiert Ewers 2013b. Obwohl einige der ausgewählten Texte möglicherweise Fantasy-Elemente aufweisen (besonders etwa A Wrinkle in Time, vgl. Kapitel II.5), sind sie dennoch als kinderliterarische phantastische Erzählungen zu betrachten.

10 Zur Ergänzung der modernen kinderliteraturwissenschaftlichen Texte eignen sich also beispielsweise Texte von Jella Lepman, Anna Krüger, Ruth Koch und anderen.

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Teil I: Theorie(n)

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1. Kapitel: Theorien der Kinder-Erwachsenen-Literatur: Mehrfachadressiertheit, Doppelsinnigkeit und Crossover-Literatur

a. Kinder und Erwachsene als Leser von Kinderliteratur, Rezeptionsästhetik

Wenn es hier um Kinderliteratur als Literatur für Kinder und Erwachsene gehen soll, muss zunächst einmal geklärt werden, was unter Kinder- und Jugendliteratur eigentlich verstanden werden soll. Vieler anderslautender Definitionsansätze und Differenzierungsversuche zum Trotz ist die Kinderliteratur am überzeugendsten über ihre Adressaten, die Kinder, zu fassen; sie ist also Literatur für Kinder.1 Auch bei der Öffnung von Kinderliteratur für Erwachsene bleiben Kinder die primären Adressaten, es entsteht jedoch eine produktive Spannung, wenn verschiedene Rezipientengruppen integriert und ihre (vermuteten) Bedürfnisse berücksichtigt werden müssen. Auf solche Texte, die sich sowohl an Kinder als auch an Erwachsene richten, trifft man in allen Epochen der Kinderliteratur.2 Aus dieser langen Geschichte – und aus der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Kinder-Erwachsenen-Literatur – ergibt sich, dass besonders viele disparate Begriffe im Umlauf sind, teils um dasselbe Phänomen, teils um einander nur ähnelnde Konzepte zu beschreiben. Vor allem in den letzten Jahren rückte Crossover- oder All-Age-Literatur in den Mittelpunkt des kinderliteraturwissenschaftlichen Forschungsinteresses. In dieser Arbeit geht es jedoch um zeitliche Vorläufer des Crossovers, die Doppelsinnigkeit und die Mehrfachadressiertheit. ← 21 | 22 → Ein Forschungsbericht3 soll im Folgenden einen Überblick über die verschiedenen Phänomene und Begrifflichkeiten (Doppelsinnigkeit, Mehrfachadressiertheit, Crossover und All-Age) geben und zeigen, aus welchen Gründen der Fokus dieser Arbeit gerade auf die Doppelsinnigkeit gerichtet ist.

Als Beginn der systematischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen kann Zohar Shavits 1986 publizierte Studie Poetics of Children’s Literature gelten. Zuvor hatte Aidan Chambers mit seinem einflussreichen Aufsatz „The Reader in the Book“ (1985)4 das Fundament für die folgenden Theorien der Mehrfachadressiertheit und Doppelsinnigkeit gelegt, indem er erstmals rezeptionsästhetische5 Denkfiguren auf die Kinderliteratur angewendet hatte. Er forderte nachdrücklich dazu auf, das Konzept eines impliziten Lesers, das unter anderem von Wolfgang Iser geprägt wurde,6 in die Kinderliteraturwissenschaft zu übernehmen (48): ← 22 | 23 → „I am suggesting that the concept of the implied reader […] is a method which could help us determine whether a book is for children or not, what kind of book it is, and what kind of reader (or, to put it another way, what kind of reading) it demands.“ Die lesenden Kinder, die man, so Chambers (1985, 48), um die Kinderliteraturwissenschaft der allgemeinen Literaturwissenschaft anzunähern zuletzt mehr oder weniger ignoriert habe, sollen wieder in den Mittelpunkt gestellt werden: „If children’s books critics look for parity with their colleagues, they must – if for no other valuable reason – show how the concept of the implied reader relates to children as readers and to the books they read.“ Chambers nimmt hier noch keine unterscheidbaren erwachsenen und kindlichen impliziten Leser an, bereitet jedoch den Boden für die späteren Theorien der Doppelsinnigkeit, von denen sich die überzeugendsten ebenfalls auf das Konzept des impliziten Lesers beziehen.

b. Zohar Shavit: ambivalent texts

Zohar Shavit (1986, 63) beschreibt mit dem Konzept des „ambivalent status of texts“ jene Texte, die im Rahmen der Polysystemtheorie7 nicht eindeutig einem System zuzuordnen sind. Sie definiert ambivalente Texte über die Präsenz von mindestens zwei intendierten Lesergruppen (nämlich Kindern und Erwachsenen), die den Text aufgrund verschiedener Leseerwartungen und -gewohnheiten unterschiedlich realisieren. Der Begriff beinhaltet bei Shavit eine Wertung: Ambivalente Texte entstehen ihrer Meinung nach, wenn Autoren den Systemzwängen der Kinderliteratur entgehen wollen. Daher seien diese Texte weder Selbstzweck noch Ausdruck einer bestimmten Literaturauffassung, sondern eine Strategie zur Umgehung der als einschränkend empfundenen Normen der Kinder- und Jugendliteratur:

Writing for children usually means that the writer is limited in his options of text manipulation if he wants to assure acceptance of the text by the children’s system. An ambivalent text provides the writer for children with a larger range of options in manipulating the text than does an univalent text. The writer has the otherwise inconceivable option of producing a text composed of models that are in disagreement with the children’s system. (Shavit 1986, 66f.)

Shavit (71) nimmt hier bereits zwei implizite Leser und somit zwei mögliche und intendierte Lesarten des Textes an, kritisiert aber gleichzeitig dieses Werben ← 23 | 24 → um den erwachsenen Leser: „[T]he ambivalent text has two implied readers: a pseudo addressee and a real one. The child, the official reader of the text, is not meant to realize it fully and is much more an excuse for the text rather than its genuine addressee“. Während diese Bewertung in der späteren Forschung nicht unbedingt geteilt wird, wird die Vorstellung von zwei impliziten Lesern immer wieder aufgegriffen.

Zeitgleich mit Shavits Poetics of Children’s Literature wird Danuta Zadworna-Fjellestads Alice’s Adventures in Wonderland and Gravity’s Rainbow. A Study in Duplex Fiction veröffentlicht (1986). Darin entwickelt Zadworna-Fjellestad einen ähnlichen Ansatz zur Betrachtung ambivalenter Texte, der allerdings von der Kinderliteraturwissenschaft bisher wenig rezipiert wurde. Zadworna-Fjellestad (1986, 6) nimmt für einige Texte (bei ihr ‚duplex fiction‘ genannt) zwei Ebenen an: „telling a seemingly traditional story, they demonstrate at the same time their own functioning as strategies, conventions, themes, and medium“. Diesen beiden Ebenen entsprechen zwei mögliche Leser-Typen als Rezipienten der ‚duplex fiction‘: der naive und der selbst-reflexive Leser. Diese Kategorien können, müssen aber nicht mit denen des Kind- oder Erwachsenseins übereinstimmen. So schreibt Zadworna-Fjellestad (26) über den naiven Leser: „He would read the text for its obvious story and respond to the meaning of the tale emotionally […]. In practice this reader does not need to be a child; it may be an adult who responds to the text in the same way the child-reader does“.8 Shavits Betonung der Rolle des impliziten Lesers sowie Zadworna-Fjellestads Unterscheidung von naiven und selbst-reflexiven Lesern erscheinen geeignet, zu einer Erklärung des Phänomens der Kinder-Erwachsenen-Literatur beizutragen. Besonders die rezeptionsästhetische Perspektive Shavits muss als entscheidender Schritt zur theoretischen Klärung der Kinder-Erwachsenen-Literatur gewertet werden, da Shavit damit verdeutlicht, dass es weniger um die reale Rezeption, sondern vielmehr um die im Text angelegten Leserrollen geht; darum, wie der Text selbst durch verschiedene Strategien seine Rezeption präfiguriert.

c. Barbara Wall: single/double/dual address

In The Narrator’s Voice. The Dilemma of Children’s Fiction analysiert Barbara Wall 1991 anhand englischer Kinderliteratur des Victorian Age verschiedene Ausprägungen von Erzählerstimmen. Ihr Modell bezieht sich damit nicht auf die Ebene des impliziten Autors und Lesers, sondern auf die des fiktiven Erzählers ← 24 | 25 → (narrator) und des fiktiven Adressaten (narratee). Sie unterscheidet die Adressierung an Kinder („writing to children“ bzw. „single address“)9 und die Adressierung sowohl an Kinder als auch an erwachsene Leser („double address“). Die ‚double address‘ könne als offene oder verdeckte Wendung an den erwachsenen Leser auftreten:

[N]arrators will address child narratees overtly and self-consciously, and will also address adults, either overtly, as the implied author’s attention shifts away from the implied child reader to a different older audience, or covertly, as the narrator deliberately exploits the ignorance of the implied child reader and attempts to entertain an implied adult reader by making jokes which are funny primarily because children will not understand them. (Wall 1991, 35)

Details

Seiten
434
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631695357
ISBN (PDF)
9783653062847
ISBN (MOBI)
9783631695364
ISBN (Hardcover)
9783631667248
DOI
10.3726/978-3-653-06284-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Crossover-Literatur All-Age Kinder- und Jugendliteratur Übersetzungsvergleich Phantastik
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. 434 S., 33 s/w Abb.

Biographische Angaben

Agnes Blümer (Autor:in)

Agnes Blümer hat in Düsseldorf und Aberdeen Literaturübersetzen studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung (Goethe-Universität Frankfurt) und ist nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin der ALEKI (Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung) an der Universität zu Köln tätig.

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Titel: Mehrdeutigkeit übersetzen
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