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Im intertextuellen Schlangennest

Adam Mickiewicz und polnisch-russisches (anti-)imperiales Schreiben

von Heinrich Kirschbaum (Autor:in)
©2016 Habilitationsschrift 454 Seiten

Zusammenfassung

Die Monographie leistet einen Beitrag zu einer Forschungsrichtung, die man analog zur New Imperial History als Neue Imperiale Literaturgeschichte bezeichnen könnte.
Durch die Verbannung des polnischen Dichters Adam Mickiewicz nach Russland kam es in den 1820er Jahren zu einer in ihrer Intensität einmaligen Begegnung zwischen der polnischen und russischen Romantik. Paradigmatische Geltung haben vor allem die konfliktreichen Konstellationen zwischen Mickiewicz und Puškin. Im Kontext postkolonialer Ansätze zu Ostmitteleuropa untersucht das vorliegende Buch das intertextuelle Spannungsfeld, in dem die beiden Literaturen ihre (anti-)hegemonialen Schreibstrategien entwickelten und dabei kontroverse poetisch-politische Polen- und Russland-Figurationen entwarfen, die bis heute nachwirken.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • 0. Methodisch-konzeptionelle Grundlegung
  • 0.1. Einleitung. Kurzer Überblick über die Struktur der Monographie
  • 0.2. Joseph Conrad, Edward Said und die Postcolonial Studies in und über Polen
  • 0.3. Innere (und) äußere Orientalismen
  • 0.4. Geopoetik – (Prä-)Kulturosophie
  • 0.5. Antikoloniale Intertextualität: Mimikry, Parodie, Revision
  • 0.6. Metonymische Identitätsfiguren
  • 0.7. Kurze Zusammenfassung der Fragestellungen
  • 1. Genre-Kolonialismen
  • 1.1. Partialitätsschreiben. Doppelgängertum der Diskurse
  • 1.2. Gattungsvalenzen in Korrespondenz
  • 1.3. Unter dem Vorwand der Slavophilie
  • 1.4. Intertextuelle Überläufe(r)
  • 2. Im Harem des Imperiums
  • 2.1. Entführung aus dem Serail oder Salon-Orientalismen eines Provinz-Dandys
  • 2.2. Odaliskenzwiste und Eunuchen-Oden. Das Sujet imperialer Polygamie
  • 2.3. Poetik der Eifersucht und Interbiographizität
  • 2.4. Geopoetische Inversionen, Routen des Verschweigens und orientalistische Ruthenismen
  • 2.5. Sternstunden der (Selbst-)Orientalisierung
  • 2.6. Polnisch-russisches Romantik-Synallagma
  • 3. Autotextuelles (Gegen-)Gift
  • 3.1. Virulente Trugbilder der Resignation: poetica viperina
  • 3.2. Äsopisches Fehl-Schreiben
  • 3.3. Mozart und Salieri. Schlingen einer Polonaise
  • 3.4. Hypostasen des Rächers: Mazepa, Brutus, Wallenrod
  • 3.5. Im Eifer historischer Reime
  • 4. Fabula rasa und Palimpsest
  • 4.1. Suvorov, Jungfrau Russland und verschneite Berge der Freiheit
  • 4.2. Susanins Blut in den ozeanischen Steppen Sibiriens
  • 4.3. Frost und Trost. Nationalisierung der Prosaisierung
  • 4.4. Winterkarikaturen. Flucht nach Polen vor dem russischen Gott
  • 4.5. Demontage der Unendlichkeit
  • 4.6. Von der Schneeidylle zur Eishölle. Der Fluch der Hyperbel
  • 5. Epilog (oder Prolog?): Todesgenius und Finis Poloniae
  • Literaturverzeichnis
  • Personen- und Werkverzeichnis

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0. Methodisch-konzeptionelle Grundlegung

Die Sprache verspricht (sich).
Paul de Man (1979, 277)

Нам не дано предугадать,
Как слово наше отзовется

Wir vermögen es nicht vorauszuahnen,
Wie unser Wort nachhallt.1
Fedor Tjutčev (1957, 270)

Słowo stało się Ciałem,
a Wallenrod – Belwederem.

Das Wort ward Fleisch,
Und Wallenrod – Belvedere.2

0.1. Einleitung. Kurzer Überblick über die Struktur der Monographie

Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts trat die Ausformung des Selbstbewusstseins der europäischen Völker in ihre entscheidende Phase ein. In den Literaturen der jeweiligen Länder, die sich selbst als Nationalliteraturen definierten (und Dichter als Nationaldichter), erhielten Diskurse des Nationalen und Nationalstaatlichen ihre Prägung: Motive wurden zu Mythologemen, Metaphern zu Ideologemen, literarische Bilder zu kulturphilosophischen und politischen Koordinaten und umgekehrt. Dabei kam es zu paradox anmutenden Erscheinungen: Zwar wanderten diese Themen und Topoi grenzüberschreitend von Land zu Land, von einer (poetischen und politischen) Kultur in die andere; dieses transkulturelle ← 11 | 12 → und transliterarische Gemeingut wurde jedoch zur Selbstspezifizierung eingesetzt, die eine Abgrenzung von den Literaturen und Kulturen der Nachbarländer implizierte.

Während und in Folge der Ereignisse von 1812–15 erlebte die russische Gesellschaft eine patriotische Sieges- und Befreiungseuphorie, die in den darauffolgenden Jahren zum einen in die Begeisterung für die immer erfolgreicher werdende imperiale Expansionspolitik Russlands mündete und zum anderen in die regime- und gesellschaftskritischen, antiautokratischen und liberal-rebellischen Stimmungen umschlug, die im Pathos des Dekabristenaufstandes ihren Niederschlag fanden. Die Expansionspolitik Russlands geriet zunehmend ins Kreuzfeuer der Kritik. Die russische Staatsmacht suchte nach einer Rechtfertigung ihrer imperialen Eroberungen in Form einer realpolitisch tragfähigen und historiosophisch fundierten Staatsdoktrin. Neben den erfolgreichen Eroberungen im Süden (bzw. im „Orient“)3 bildete vor allem der innen- und außenpolitische Fall Polen eine besondere apologetische Herausforderung. Dieser Aufgabe stellte sich die russische Dichtung. Sie war in der hier interessierenden Epoche einerseits mit der literarischen Ästhetisierung imperialer Diktionen und Diskurse beschäftigt; andererseits prägte sie auch den Liberalismusdiskurs aktiv mit und verarbeitete poetisch – nach 1825 – das Scheitern des Dekabristenaufstandes und die darauffolgenden Repressionen.

Nicht weniger kontrovers gestalteten sich die Identifikationsprozesse in Polen, das einst eine mächtige innereuropäische „Kolonialmacht“ gewesen war, nach 1795 jedoch keine Eigenstaatlichkeit mehr besaß und zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt wurde. Jegliche Versuche, gegen die Fremdherrschaft zu rebellieren und die verlorene Eigenstaatlichkeit wieder herzustellen, die in der Teilnahme am für Polen antiimperialen und zugleich nostalgisch-revisionistischen Feldzug gegen Russland von 1812 kulminierten, scheiterten. Einen untrennbaren Teil der sich unter diesen Bedingungen vollziehenden Identitätsfindung bildete eine spezifisch polnische Kultur der Revolte und Resignation: Poetische Motive wurden als politische Programme interpretiert und in Aktion umgesetzt. In der ← 12 | 13 → polnischen Dichtung, die das Ende aller mit Napoleon verbundenen Hoffnungen auf die Wiederherstellung eines mächtigen polnischen Staates literarisch zu verkraften suchte, wurde die Erschaffung eines poetisch-politischen Konstrukts, eines Erinnerungs- und Zukunftsprojekts einer polnischen Identität anvisiert.

Die die Diskursgrenzen überschreitenden Korrelationen zwischen Dichtung und Politik, Fiktion und Ideologie gestalteten sich in den Literaturen des entterritorialisierten Polens und des immer expansiver werdenden Russlands umso komplexer, da sich die beiden Kulturen mit Verspätung und daher in beschleunigter und kondensierter Form die Errungenschaften der europäischen Romantik aneigneten. Während das Individuum der europäischen Romantik sich durch Exklusion statt Inklusion definierte, fühlten sich die jeweiligen Literaturen verpflichtet, sowohl ihre Zugehörigkeit zum europäischen Ganzen als auch die Autonomie und die elitäre Spezifik des jeweiligen Eigenen – „Nationalen“ – zu behaupten. Für zusätzliche literaturhistorische Dramatik sorgte dabei die Tatsache, dass viele zu assimilierende Ideen, Topoi und Motive aus den Literaturen der Teilungsmächte (darunter auch aus Russland) bzw. aus der Literatur des besetzten Polens (für die russische Literatur) entlehnt wurden: Bei ihrer Übernahme, beim intertextuellen Transfer zwischen den beiden Literaturen, erfuhren sie essentielle Umkodierungen. Eine Schlüsselposition kam bei diesen hier zu untersuchenden Umdeutungen den geopoetischen Themen und Motiven zu, die ins Netz aktueller geopolitischer Assoziationen und Konnotationen gerieten.

In den 1810er und vor allem in den 1820er Jahren kam es zu „natürlichen“, jedoch auch zu „erzwungenen“ Berührungen zwischen den beiden benachbarten Literaturen. Russische Literaten reisten nach Polen und leisteten dort ihren Militär- bzw. Staatsdienst (wie die für die vorliegende Untersuchung relevanten Dichter Petr Vjazemskij oder Kondratij Ryleev); auch polnische Dichter besuchten Russland oder wurden nach Russland verbannt. Zentral ist dabei Adam Mickiewicz, der wegen Mitgliedschaft im Wilnaer patriotischen Philomathenbund verhaftet wurde und für fünf Jahre (1824–29) in die Verbannung nach Russland gehen musste, wo er führende russische Literaten und Literaturkritiker (darunter auch Aleksandr Puškin) kennenlernte. Während Mickiewicz’ Aufenthalt in Russland kam es zu einer Intensivierung der bisher eher flüchtigen Relationen zwischen den beiden Literaturen, zu persönlichen und (inter-)textuellen Begegnungen, die literarische und kulturelle Interaktionen zwischen den beiden Ländern sowie die gegenseitigen Fremd- und Eigenbilder für Jahrzehnte, ja für fast zwei Jahrhunderte maßgeblich prägten.

Mit den Versen aus Mickiewicz’ in Russland entstandener verschwörerischer Verserzählung Konrad Wallenrod auf den Lippen zogen 1830 die polnischen Aufständischen in den Kampf gegen die russische Hegemonialmacht. Nach der ← 13 | 14 → Niederschlagung der Rebellion schrieb Mickiewicz im Dresdner Exil am dritten Teil seines Dramas Dziady (Die Ahnenfeier), in dem er das Werden des polnischen Widerstandsgeistes unter den russischen Repressionen der 1820er Jahre (re-)konstruierte und seine eigene Lebensgeschichte (sowie die seiner Generation) zum martyrologischen Mysterium umkodierte. An den Haupttext des Dramas wurde ein Annex angehängt – der sogenannte Ustęp (Digression): Darin nahm Mickiewicz in seiner harten Russland-Kritik viele Thesen und Diktionen des zehn Jahre später entstandenen Buches von Astolphe de Custine La Russie en 1839 (Russland im Jahre 1839) vorweg und rechnete in bissigen Invektiven mit dem russischen Imperium ab. In seinem letzten großen Werk, Pan Tadeusz, entwarf Mickiewicz schließlich ein paradigmatisches, die polnische Nation (re-)konsolidierendes Identitätsprojekt, dessen historische Grundlage der polnische Kampf gegen die russische Besatzung und für die Wiederherstellung eines erneuerten polnischen Staates bildete.4

In der vorliegenden Monographie wird versucht, den Wirkungsmechanismen des interdiskursiv-intertextuellen polnisch-russischen Spannungsfeldes, das sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts im Zeichen des immer schwieriger werdenden antiimperialen bzw. imperialen Verhältnisses zwischen den beiden Kulturen entwickelte, aus einer postkolonialen Perspektive nachzugehen. Dieses Spannungsfeld interessiert hier nicht nur komparatistisch, sondern vor allem unter seinem intertextuellen Aspekt: Es wird in erster Linie danach gefragt, wie die jeweiligen Literaturen ihre imperialen und anti- bzw. para- und re-imperialen Diktionen, Ansprüche und Identitätsstrategien in (inter-)textueller Interaktion entwickeln sowie zur Geltung bringen.

Viele Aspekte der Beziehungen polnischer und russischer Literaten der hier thematisierten Epoche im Allgemeinen – und diejenigen Mickiewicz’ im Speziellen – sind bereits erforscht. Neben bio-bibliographischen Aspekten der polnisch-russischen literarischen Beziehungen liegt der Schwerpunkt dabei auf der Beziehung von Puškin und Mickiewicz.5 Auch Kondratij Ryleevs Verhältnis zu ← 14 | 15 → Polen und zur polnischen Literatur ist zum Teil problematisiert.6 Literaturhistorische Problematisierung erfahren in neueren Studien auch andere, bisher eher kursorisch behandelte Autoren und Werke: von Joachim Lelewels Karamzin-Kritik bis zu Józef Sękowskis und Faddej Bulgarins (Tadeusz Bułharyns) interkulturellen literarischen Strategien.7 Neben den Untersuchungen zu den Schnittstellen polnischer und russischer Biographien und über die Markierung interferierender Parallelstellen hinaus liegen einzelne Interpretationen der Russland-Bilder polnischer und russischer Romantiker vor.8 Theoretisch-methodisch verbleiben diese Untersuchungen jedoch entweder bei der Zusammenstellung textueller und intertextueller Fakten oder aber im Rahmen imagologischer Fragestellungen. Eine Ausnahme bilden hier die Aufsätze von Mirja Lecke (2004 und 2009), in denen Bulgarins polnisch-russische Identitätstrategien, manifestiert in seinem Drama Dmitrij Samozvanec (Pseudodemetrius) und in seinen Vospominanija (Erinnerungen), aus spät-postkolonialer Perspektive (Hybridität, Mimikry) plausibiliert werden.9 Auch wurden isolierte Aspekte der Orientalismen Puškins und Mickiewicz’ ← 15 | 16 → bereits untersucht,10 doch die (anti-)imperiale Reziprozität der jeweiligen Polen- und Russland-Konstrukte erfährt dabei kaum eine postkolonial-intertextuelle Perspektivierung.

Im Kontext postkolonialer Ansätze in der Osteuropaforschung untersucht die vorliegende Arbeit das intertextuelle Spannungsfeld zwischen der polnischen und russischen poetischen Kultur, in dem sich die jeweiligen Literaturen um 1830 entwickeln. Dadurch erfolgt eine Rephilologisierung der primär kulturwissenschaftlich ausgerichteten postcolonial studies. Dies soll eine Neuperspektivierung der polnischen und russischen Literaturen der 1820er Jahre ermöglichen, da diese Literaturen sich nicht mehr nur auf nationale Identität stiftende patriotische Zielsetzungen bezogen, sondern in ihren verschiedenen Erscheinungsformen als Ausdruck spezifischer (anti-)imperialer Schreibstrategien lesbar werden. Die vorliegende Untersuchung knüpft somit an die Forschung zur doppelten Diktion eines antikolonialen und zugleich kolonisatorischen Sprechens an und sucht diese – übertragen auf die Zeit um 1830 – mithilfe literaturwissenschaftlicher Kategorien wie Intertextualität zu konkretisieren, indem sie der Korrelation zwischen Literatur und (anti-)imperialer Stoßrichtung für die polnische und russische Literatur der 1820er Jahre in Interaktion nachgeht. Mit diesem Vorgehen sollen sowohl die Relevanz und der Erkenntnisgewinn der postkolonialen Ansätze für die Beschreibung der polnischen und russischen Literatur und Kultur und ihrer Wechselbeziehung erforscht als auch die (anti-)imperialen Diktionen untersucht werden, die in der polnischen und russischen Literatur des genannten Zeitraums beobachtbar sind.

Ausgehend von Mickiewicz’ Werk soll durch prätextuelle Rück- und posttextuelle Ausblicke das intertextuelle (darunter auch autotextuelle) Netz konturiert werden, in dem sich die polnisch-russischen (anti-)hegemonialen Diktionen um 1830 reziprok entfalten. Dabei sollen die für das polnisch-russische (anti-)imperiale Schreiben zentralen intertextuellen Beziehungen zwischen Mickiewicz, Niemcewicz, Puškin, Ryleev und Vjazemskij neu interpretiert werden, indem sie unter anderem in einen größeren verzweigten (inter-)textuellen Kontext gestellt werden. Mögen viele andere Autoren wie etwa Kazimierz Brodziński, Faddej Bulgarin, Joachim Lelewel, Edward Odyniec, Gustaw Olizar, Nikolaj Polevoj, Bohdan Zaleski, Vasilij Žukovskij u.a. in der vorliegenden Untersuchung eher mehr oder weniger „Episoden-“ oder „Nebenrollen“ spielen, geht es hier jedoch nicht um die ← 16 | 17 → Gewichtung des Anteils der einzelnen Literaten an den polnisch-russischen Begegnungen im Vorfeld und unmittelbar nach dem Aufstand von 1830/31, sondern um punktuelle, exemplarische Proben der wechselseitigen polnisch-russischen intertextuellen Sujets, in denen sich einige spezielle und zugleich für die polnisch-russische Intertextualität ausschlaggebende Themen, Topoi und Tendenzen des synallagmatischen (anti-)imperialen Schreibens niederschlagen.

In der vorliegenden Untersuchung werden zwar unter anderem auch die bereits in der Forschung markierten intertextuellen Begegungen beider Literaturen zur Debatte stehen – Bachčisarajskij fontan (Die Fontäne von Bachčisaraj) – Sonety krymskie (Die Krimsonette), Dumy – Śpiewy historyczne (Historische Gesänge), Vojnarovskij – Poltava – Konrad Wallenrod –, diese werden allerdings in neue inter- und autotextuelle Umfelder und Zusammenhänge gestellt und in diesen Kontexten postkolonial analysiert. Auf die Polemik zwischen Puškins Mednyj Vsadnik (Der eherne Reiter) und Mickiewicz’ Ustęp, die in der Forschungsliteratur bereits herausgearbeitet wurde, wird nicht näher eingegangen. Die Parallelen und Konvergenzen zwischen den beiden Texten werden allerdings in andere Analysen einbezogen, insofern sie frühere intertextuelle Verquickungen in einem neuen interpretatorischen Lichte erscheinen lassen. Dies betrifft auch das Polen-Bild in Puškins Gedichten über die Niederschlagung des polnischen Aufstandes oder das Russland-Bild bzw. das Bild der russischen Literatur in Mickiewicz’ Pariser Vorlesungen (Prelekcje paryskie). Angesprochen und zur Interpretation herangezogen werden auch andere spätere Texte, soweit sie Rudimente und intertextuelle Echos der Polemik der 1820er Jahre aufweisen und zu deren Interpretation beitragen.

Im ersten Teil der Monographie werden die methodisch-konzeptionellen Grundlagen der Arbeit artikuliert und die aktuellen Probleme und Perspektiven der postcolonial studies in und über Ost- und Mitteleuropa thematisiert. Dabei werden sie weniger wissenschaftshistorisch skizziert, sondern vor allem auf ihre Effektivität bezüglich der hier interessierenden (anti-)imperialen polnisch-russischen Intertextualität hinterfragt (0.2.). Dabei geht es primär um die Problematik der inneren Kolonisierung und Selbstorientalisierung (0.3.) oder um die konzeptuell angrenzenden Ansätze wie etwa die geopoetologischen (0.4.). Die Problematisierung der interdiskursiven Relationen zwischen den kulturosophischen und literaturspezifischen Diktionen eröffnet das Gespräch über die spezifische (anti-)koloniale Intertextualität (0.5.). Die theoretisch-methodische Fundierung der Arbeit endet mit dem Entwurf der Dichotomie „Poetik der Subalternen“ vs. „Rhetorik der Orientalisierung“, wobei der literarischen und zugleich antiimperialen Figur der Metonymie die entscheidende Rolle zukommt (0.6.).

Die im theoretischen Teil der Untersuchung markierten Fragen der postkolonial zu interpretierenden Intertextualität werden in den darauffolgenden Kapiteln ← 17 | 18 → an literaturhistorisch konkreten Phänomenen bzw. Ausprägungen der polnisch-russischen (anti-)imperialen literarischen Wechselseitigkeit im ersten Drittel des 19. Jahrhundert weiter problematisiert. Zwar hat die vorliegende Monographie, wie oben bereits erwähnt, keinen Anspruch, eine flächendeckende postkoloniale Literaturgeschichte der Konjunktionen beider Literaturen um 1830 zu schreiben, sie verfügt jedoch über einen roten Faden, nämlich diverse (anti-)imperiale Verschränkungen von Nord- und Orientdiskursen im intertextuellen Spannungsfeld polnischer und russischer Dichtung der Epoche: Ein damit verbundenes Nebensujet stellt dabei der litauisch-ukrainische geopoetische Komplex dar.

Der Hauptteil der Arbeit knüpft unmittelbar an die theoretisch-methodischen Überlegungen zur Metonymizität an. Zunächst werden die für die vorliegende Monographie zentralen Konzepte des polnischen bzw. polnisch-russischen Partialitätsschreibens (1.1.) herausgearbeitet, prä- bzw. frühromantische Ausprägungen der gegenseitigen polnisch-russischen Vernetzung von Nord- und Orientdiskursen thematisiert und an die Problematik der multifunktionalen Genre-Valenzen und -Kompentenzen am Beispiel der duma angeknüpft. In den anschließenden Kapiteln (1.2.–1.4.) werden, ausgehend von der epistolaren und poetischen Auseinandersetzung zwischen Kondratij Ryleev und Julian Ursyn Niemcewicz und der aus/nach dieser Korrespondenz entstandenen Diskussion über die Herkunft der dumy-Gattung, diverse polnisch-russische prä-panslavistisch argumentierende „Genrekolonialismen“ und Revisionsmechanismen problematisiert.

Im zweiten Teil der Monographie werden zunächst Mickiewicz’ frühe poetische Hybridisierungen der Nord- und Orientsujets ins Visier genommen (2.1.), vor derem autotextuellen Hintergrund Mickiewicz’ in Russland verfasste (Nord-)Orient-Texte zu lesen sind. In den darauffolgenden Kapiteln wird gezeigt, wie die polnischen Spuren und Subtexte im Umfeld von Puškins südlichem Poem Bachčisarajskij fontan (2.2.) die intertextuell-biographische Folie für Mickiewicz’ Auseinandersetzung mit dem polonisierten Orient in Sonety krymskie bilden. Neue und alte modifizierte Begrifflichkeiten wie „Poetik der Eifersucht“ und „Interbiographizität“ (2.3.), „geopoetische Inversion“, „Route des Verschweigens“ und „orientalistische Ruthenismen“ (2.4. und 2.5.) sollen dabei die gegenseitigen (anti-)hegemonialen Diktionen plausibilisieren. Im den zweiten Teil abschließenden Kapitel (2.6.) wird zu zeigen sein, wie Mickiewicz und seine polnischen und russischen Kollegen in ihren nicht zuletzt (anti-)imperial motivierten Rezensionen, Rezeptionen und Revisionen rund um die Krimsonette die jeweiligen Polen- bzw. Russland-Konstrukte kreieren und dabei ihre eigenen nationalliterarisch-polemischen Ziele verfolgen, die zur gegenseitigen Etablierung der in den beiden literarischen Kulturen proklamierten romantischen Poetik beitragen sollten. ← 18 | 19 →

Die Multifunktionalität der polnischen (anti-)imperialen intertextuellen und autotextuellen Schreibstrategien um 1830 wird im dritten Teil der Arbeit zunächst anhand des für Mickiewicz’ Werk wichtigen (Leit-)Motivs der Schlange, das während seiner Verbannung in Russland antihegemoniale Konturen annimmt, exemplarisch demonstriert (3.1.–3.3.). Die ethisch-ästhetische Problematik des Verrats dominiert die zu analysierenden mehrdeutigen und multifunktionalen äsopischen Allegorien, Mimikry-Motive, Hybridisierungsfigurationen und Trugbilder der Resignation und der Revolte, die dabei entworfen werden. Wie die ethisch problematischen und politisch aktuellen Diskurse des Verrats, der Vergeltung und des Aufstands in Verbindung mit den Kosakensujets der russischen Literatur um 1825 verknüpft werden und welche Rolle dabei der polnischen Komponente zukommt, wird in den folgenden Kapiteln (3.4. und 3.5.) diskutiert, die eine thematische Brücke zu den duma-Kapiteln (1.2.–1.4.) schlagen. Es gilt dabei zunächst zu demonstrieren, wie Ryleev in den polnisch-ukrainischen Sujets seiner dumy oder in den ebenfalls die polnische Thematik implizierenden Poemen über die Geschichte der ukrainischen Rebellionen (Vojnarovskij u.a.) nach einem ethisch-poetischen Ausweg aus dem prädekabristischen (Schein-)Dilemma (Liberalismus vs. Imperialismus) sucht (3.4.). Die Schlüsselposition in der Problematik der außen- und innenpolitischen Aufstände nimmt dabei das Mazepa-Sujet ein, das erst Ryleev beschäftigte und das Puškin dann in seinem Poem Poltava weiter verarbeitete (3.5.). Die Analyse der autotextuellen Vor- und Nachgeschichte der Kosakenthematik bei Puškin soll die Ambivalenzen der damit verbundenen Schreibstrategien aufdecken. Relevant wird dabei vor allem die intertextuelle Polemik gegen Mickiewicz’ Konrad Wallenrod sein.

Neben dem „ukrainischen“ poetisch-politischen Terrain stellt auch der Norden ein weiteres umstrittenes Objekt der russisch-polnischen geopoetischen Auseinandersetzung dar. Im vierten Teil der Arbeit werden die Bilder Russlands als eines Nord- und Winterlandes im (anti-)imperialen intertextuellen Spannungsfeld zwischen Mickiewicz und seinen russischen Dichterkollegen diskutiert. Dabei wird zunächst verfolgt, wie die Nord- und Wintertopik zum metaphorisch-semantischen Feld wird, in dem die russische Dichtung der 1810–20er Jahre antinapoleonische und antipolnische Sujets verquickt (4.1.). Petr Vjazemskijs Gedicht Pervyj sneg (Erster Schnee) wird zum Ausgangstext im russischen Winterdiskurs (4.2.), an dessen Konstruktion und zugleich partieller Demontage Ryleev, Vjazemskij selbst und Puškin arbeiten (4.3. und 4.4.). Genau diese Texte werden zur intertextuellen Grundlage, von der aus Mickiewicz seine wichtigste und paradigmatischste Russland-Vision entwirft – den Ustęp zum dritten Teil seines Dramas Dziady. In Mickiewicz’ russischem Winterchronotopos werden Russlandbilder entwickelt, deren genrediskursive Diktionen von der pamphletartigen Satire bis ← 19 | 20 → zur eschatologischen Historiosophie reichen (4.5. und 4.6.). Im Mittelpunkt von Mickiewicz’ antihegemonialer Russland-Poetik steht das Trauma des missglückten Feldzuges gegen Russland von 1812, jenes historische und poetische Ereignis, das bis heute die spezifisch polnische antiimperiale und zugleich koloniale Kultur des Widerstandes und der Niederlage mitprägt (4.6. und 5.).

0.2. Joseph Conrad, Edward Said und die Postcolonial Studies in und über Polen

Zwar wurden Russlands koloniale Diskurse aus den postkolonialen Studien Edward Saids ausgeschlossen, jedoch kann genau Said als indirekter Mitbegründer der postcolonial studies zu Ost- und Mitteleuropa gelten: Der amerikanisch-arabische Forscher, der zu Joseph Conrad promovierte (1966), setzte sich bezeichnenderweise zwanzig Jahre später, d.h. bereits nach seinem für die Entwicklung der postcolonial studies paradigmatischen Buch Orientalism (1978), erneut mit dem Werk des englischsprachigen Schriftstellers polnischer Abstammung auseinander. In seinem Buch Culture and Imperialism (1994) markiert Said bei Conrad dessen narrative Distanzierung von seinen Protagonisten – und hier kommen Said seine narratologischen Analyseerfahrungen aus seiner Dissertationszeit zu Hilfe – als Zeichen für die in der spezifischen Biographie Conrads wurzelnde Ambivalenz seines kolonialen Schreibens. Conrad sei als ein aus der „polnischen Ukraine“11 stammender polnischer Schriftsteller und Sohn der vom Zarengerime verfolgten Eltern zunächst ein Opfer des (russischen) Imperialismus gewesen, der dann seine Subalternität auch in England bzw. in der englischen Literatur zu meistern suchte.

Zu indirekten „Conrad’schen Wurzeln“ der modernen postcolonial studies (nicht nur zu Osteuropa) kehren die Forscher immer wieder zurück, wovon der jüngst erschienene Tagungsband zur polnischen Komponente in Conrads Leben und Werk zeugt (vgl. Schenkel, Trepte 2010),12 in dem alte und neue Beiträge zu ← 20 | 21 → Conrads polnischem Hintergrund gesammelt wurden. Bereits 1991, d.h. noch vor dem Durchbruch in den postkolonialen Perpsektivierungen Osteuropas, wurde Conrads Verhältnis zur polnischen Romantik aus der Perspektive besprochen, die später eine postkoloniale Konzeptualisierung erfahren hat, und zwar von keiner anderen als Maria Janion (2010), die man ohne Vorbehalt als die polnische Romantikforscherin par excellence bezeichnen kann: Ihr Leben lang sucht Janion, immer wieder ihrer Zeit vorausgreifend und oft die akademischen Konventionen brechend, nach diversen alten und neuen innovativen Zugängen zur polnischen Literatur der Teilungszeit. Conrads Sprachwechsel zum Englischen bringt Janion nicht nur mit seinem inneren Bedürfnis nach Überwindung der polnischen romantischen (ideologischen) Paradigmen, sondern auch mit einigen literaturhistorischen, ja gattungsgeschichtlichen Fakten in Verbindung. Prosa zu schreiben habe Conrad bei französischen Realisten und Naturalisten gelernt, vor allem aber bei englischen Romanautoren, weil es in Polen keine entsprechende Prosa gegeben habe. Janion verbindet überzeugend literaturhistorische und narratologische Argumentationen mit der Frage nach den Identitätsstrategien Conrads und seiner Helden. Die Beziehung zur polnischen romantischen Tradition gestaltet sich bei Conrad demnach polemisch; Conrad entfliehe deren Wirkungsradius, indem er zum einen erzähltechnisch experimentiere und zum anderen die ethische Problematik der polnischen Romantik universalisiere. So wird zum Beispiel die spezifisch polnische „Kultur der heroischen Niederlage“ auf allgemein-menschliche Erfahrungen übertragen. Das Ethos bzw. Pathos der Auseinandersetzung der polnischen Romantik mit dem politischen Bösen werde in Conrads Entpolonisierung und Universalisierung von einer nationalhistorischen Frage zu einer anthropologischen. Janion attestiert Conrads Werk die Modifikation und Entautomatisierung von Begriffen und Konzepten der polnischen Romantik (der Ehre, des szlachta-Ethos u.a.). Auch hier, in der philologischen Fundierung der Fragestellungen des Sprachwechsels nimmt Janion wiederum die neusten Tendenzen in den identity studies vorweg.

Conrads Leben und Werk als Inbegriff des polnischen antiimperialen Schreibens, das zugleich nostalgische koloniale Diktionen beinhaltet, beschäftigt die Forscher immer wieder. So bescheinigt die Regisseurin Agnieszka Zawadowska (2010, 73–84), ausgehend von der Inszenierung von Under Western Eyes am Teatr Polski ← 21 | 22 → in Poznań und inspiriert von Edward Saids Überlegungen zu Conrad, dem Werk des englischschreibenden Polen im Allgemeinen und seinem Russland-Konzept im Besonderen eine typisch orientalistische Konstruktion bis hin zur Feminisierung des Ostens. Monika Majewska (2010) geht dem komplexen Verhältnis Conrads zu russischen Schriftstellern nach. Conrad habe eine Vorliebe für Turgenev, ein schwieriges, differenziertes Verhältnis zu Lev Tolstoj und ein noch problematischeres zu Fedor Dostoevskij. Die Auseinandersetzung mit Dostoevskij, der als Verkörperung des Russischen angesehen wird, vollziehe sich bei Conrad vor einer biographischen Folie: Conrads Eltern nahmen am Aufstand von 1863 teil, nach dem eine Radikalisierung von Dostoevskijs Ansichten im Allgemeinen und jener gegenüber Polen im Besonderen stattfindet. In Folge des Aufstandes wurden Conrads Eltern zu Exilanten. Im Kontext der Autokratie-Kritik und in seinen Briefen kontextualisiere Conrad Dostoevskijs russophilen Messianismus.13

Christiane Bimberg (2010) untersucht gleichfalls Conrads Haltung zu Russland. Narration vermische sich mit Essayistik, der intertextuelle Umgang mit russischen literarischen Texten schaffe einen zusätzlichen rhetorischen Raum für die Beschäftigung mit Russland und mit der westlichen Sicht auf Russland. Die Forscherin demonstriert, indem sie Conrads Erzählmodi und -perspektiven in ihrer Komplexität aufzeigt,14 wie subjektiv und zugleich unparteiisch, kritisch und doch auch zwiespältig sich Conrads Verhältnis zu Russland gestaltete. Dass Conrads Konzeptualisierungen des Westens und des Ostens in ihrer Wechselbeziehung keineswegs in binären Lösungen verhaftet sind, bezeugt Hans-Christian Trepte, der die bei Conrad geschilderte „Vergegnung“ (im Buber’schen Sinne) eines Fremdlings aus den polnisch-slowakischen Karpaten mit den Engländern untersucht: Das scheiternde Gespräch zwischen Ost und West gerate zum Antidialog (Trepte 2010, 172). Ungewöhnlich sei die negative Wertung der Engländer als Barbaren, eben jener Engländer, die in den anderen Werken Conrads als stolze Vertreter der Kolonialmacht fast durchgehend idealisiert und verklärt würden.

Die Besonderheit von Conrads Orientalismus besteht allerdings darin, dass er sich, stellvertretend für Polen, in einem dritten Raum zwischen den beiden Extremen der orientalistischen Konstellation befindet. Stephen Brodsky (2010) geht den Orientalisierungs- und Exotisierungsstrategien Conrads nach, und zwar ← 22 | 23 → beginnend bei Conrads Bekanntschaft mit den englischen Orientalisten (Brodsky 2010, 212). Somit markiert Stephen Brodsky den Orientalismus bei Conrad auch in der primären Said’schen Bedeutung der Orient-Erfindung durch die Orientalistik. Darauffolgend bringt der Forscher überzeugend Conrads Pathetik der britischen Mission mit dem szlachta-Ethos und dem sarmatischen Ideal in Verbindung. Brodsky (2010, 212–215) zieht Parallelen zwischen Conrads Erzählband Karain: a Memory und der polnischen gawęda, zwischen Mickiewicz’ Konrad Wallenrod und Conrads Almayer’s Folly und zeigt somit Konvergenzen zwischen Conrads Orientalismus und den (anti-)imperialen Diktionen der polnischen Romantik auf. Conrad entwerfe die hybriden Identitäten der exotischen Grenzgebiete nicht zuletzt in Anlehnung an die Tradition der Kresy-Literatur. An zahlreichen Beispielen zeigt Brodsky in seinem postkolonial fundierten Beitrag, wie das Exotische sowohl als das dämonisierte Andere als auch das dämonische Eigene auftritt. Die polnische (post-)romantische Ausgangssituation Conrads habe es dem Schriftsteller ermöglicht, „klassische“ orientalistische Konstellationen und Situationen in paradoxaler Diversität und Komplexität zu entwerfen (Brodsky 2010, 220f.).

Charakteristisch ist auch die Rezeptionsgeschichte Conrads in Polen,15 Tschechien16 und Deutschland.17 Auch die Verfasser des jüngsten wissenschaftshistorischen ← 23 | 24 → Rückblicks auf die Geschichte der postcolonial studies zu Osteuropa (Sproede, Lecke 2011) kehren zu Joseph Conrad als Ausgangspunkt der slavistischen Perspektivierung des Problems zurück.18 Auf den Spuren Saids spricht Clare Cavanagh in ihrem für die (mittel-)osteuropäischen postcolonial studies paradigmatischen Diskussionartikel Postkolonialna Polska: Biała plama na mapie współczesnej teorii (Postkoloniales Polen: Ein weißer Fleck auf der Karte der zeitgenössischen Theorie) den (anti-)kolonialen polnisch-russischen Hintergrund Conrads ebenfalls an (vgl. Cavanagh 2003 und 2004).19

Die Said’schen, nicht zuletzt durch die Beschäftigung mit Conrad inspirierten Kolonialismus- und Orientalismus-Konzepte fanden in den 2000er Jahren den Weg nach Mitteleuropa und wurden zum Objekt einer intensiven kritischen Reflexion. Die amerikanische Slavistin polnischer Abstammung Ewa Thompson problematisiert in ihrer bahnbrechenden Monographie Imperial Knowledge: Russian Literature and Colonialism (Thompson 2000) eine koloniale Beziehung zwischen Russland bzw. der UdSSR und den mitteleuropäischen Staaten im Allgemeinen und Polen im Besonderen. In ihrem Buch untersucht Thompson, die Saids Dichotomie mehr oder weniger eins zu eins auf die Beziehung Russland – Mitteleuropa überträgt, zahlreiche literarische Diktionen und Formate russischer imperialer Hegemonie. Polen wird dabei als ein mit den „klassischen“ ← 24 | 25 → Kolonien wie Indien oder Algerien vergleichbares postkoloniales Land postuliert. Auf Thompsons Monographie folgte eine rege, bis heute andauernde theoretisch-methodologische Diskussion (Fiut 2003, Kowalczyk-Twarowski 2004, Korek 2007, Surynt 2007a etc.), in deren Verlauf sich einige wichtige postkoloniale Ansätze als produktiv für die polnische Kulturgeschichtsschreibung herauskristallisierten. Der Streit um die Etablierung der postcolonial studies in und über Polen wurde dabei nicht selten zum Kampf gegen die konservative akademische Polenforschung in Polen20 und gegen die Marginalisierung der Polonistik in der modernen Slavistik und in den angrenzenden geschichts- und politikwissenschaftlichen Disziplinen. Clare Cavanagh (2003) und Izabela Surynt (2007a) kritisieren die Fixierung der postcolonial studies auf die sogenannte Erste und Dritte Welt und plädieren dafür, dass eine solche Perspektivierung der „Zweiten Welt“ längst überfällig sei. Dariusz Skórczewski (2006) sieht einen der Gründe für die Vernachlässigung des mitteleuropäischen Raumes in der Priviligierung der Russistik in der modernen (amerikanischen) Slavistik.21 Für Skórczewski ist Polen ein doppeltes Objekt kolonialer Marginalisierung und Provinzialisierung, sowohl aus russischer als auch aus westeuropäischer Sicht.

Die probeweise Anwendung der postkolonialen Ansätze auf Mitteleuropa (im Besonderen auf Polen) geht dabei Hand in Hand mit der metawissenschaftlichen Reflexion der Vor- und Nachteile, Gefahren und neuen Chancen, die der Theorietransfer des aus den USA stammenden Forschungsparadigmas mit sich bringt.22 Dabei warnen sowohl Kritiker als auch Befürworter dieser Perspektive vor einer unreflektierten Übertragung postkolonialer Schemata auf die Situation Ost- und Mitteleuropas und im Besonderen Polens (vgl. Skórczewski 2006, ← 25 | 26 → Bolecki 2007).23 Vor allem wird vor einer Transmission des klassischen Kolonialismus-Begriffs auf die europäische Geschichte gewarnt. Aber auch Kritiker geben zu, dass die polnischen Identitätsstrategien im Zeitalter der Teilungen oder auch im 20. Jahrhundert durch eine Adaption der entsprechenden postkolonialen Terminologie beschreibbar seien. Für die vorliegende Untersuchung ist die sich in der Forschung langsam aber sicher durchsetzende Meinung relevant (vgl. Bolecki 2007), dass bereits in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts ein (anti-)kolonialer Gestus zu verzeichnen sei, der erst im postkolonialen Prisma in aller Deutlichkeit zutage trete.24

Eine Wende erlebten die postkolonialen Auseinandersetzungen mit der polnischen Kulturgeschichte, als der nächste Schritt gemacht wurde und Polen selbstkritisch, mit den Denkschemata der Selbstviktimisierung brechend, nicht mehr nur in der Rolle des Unterworfenen zur Zeit der Teilungen, sondern auch als „Kolonisator“ thematisiert wurde. Bogusław Bakuła (2006, 2007) weist darauf hin, dass die als urpolnisch dargestellten östlichen Grenzgebiete (Kresy) ← 26 | 27 → von Polen weitgehend kolonisiert worden seien. Diese Aussage bricht mit der tradierten Beschreibung der Kresy, welche Bakuła als idealisierendes koloniales Konstrukt einstuft. Maria Delaperrière (2008, 10–16), die in Bezug auf den polnischen politischen und kulturellen Raum vom fließenden Übergang zwischen Täter und Opfer, Eigenen und Fremden, Zentrum und Peripherie spricht, betont, dass Polen zu diversen Zeiten sowohl als Objekt als auch als Subjekt des Orientalismus auftrat.25 Gerade weil in Ost- und Mitteleuropa Grenzen zwischen Herrschen und Beherschtsein, so Sproede und Lecke (2011, 33) in ihrer analytischen Übersicht der bisherigen postkolonialen Debatten in und über Polen, nicht deckungsgleich mit Trennungslinien zwischen ethnokulturellen, sozialen und ideologischen Gruppen seien, könnten Homi Bhabhas Problematisierungen des Dritten Raums und der Hybridität (vgl. Bhabha 1997 und 2000) wichtige Anregungen geben.

Details

Seiten
454
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653062625
ISBN (ePUB)
9783653953435
ISBN (MOBI)
9783653953428
ISBN (Hardcover)
9783631670507
DOI
10.3726/978-3-653-06262-5
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (März)
Schlagworte
Orientalismus Intertextualität Polnische Romantik Imperiale Literaturgeschichte
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 454 S.

Biographische Angaben

Heinrich Kirschbaum (Autor:in)

Heinrich Kirschbaum ist Juniorprofessor für westslavische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in interslavischen und west-osteuropäischen Literatur- und Kulturbeziehungen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (mit Fokus auf Russland, Polen, Belarus und Ukraine), in der Rhetorik der Interkulturalität sowie der Poetik der Autoreferenzialität.

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Titel: Im intertextuellen Schlangennest
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