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Neuorientierung einer Elite

Aristokratie, Ständewesen und Loyalität in Galizien (1772–1795)

von Miloš Řezník (Autor:in)
Monographie 561 Seiten

Zusammenfassung

Die Studie untersucht das Verständnis des Adels in der Spätphase der ständischen Gesellschaft. Dazu nutzt sie die Situation nach einem Herrschaftswechsel, in dem zwei ständische wie politische Traditionen miteinander konfrontiert wurden. Zugleich erfolgte eine zunehmende Delegitimation der Position des Adels sowie der ständischen Verfassungen in Europa. Der Geburtsaristokratie wurde die Idee einer «wahren» Aristokratie gegenübergestellt. Daraus erfolgte eine direkte Betrachtung der Prinzipien der ständischen Gesellschaft in den Kategorien der Elite. Da in Galizien diese Prozesse im Zusammenhang mit der neuen Problematik der Loyalität, Identität, Integration und Akkulturation an besonderer Dynamik gewannen, bietet es sich an, diese Perspektiven in ihrer Verflechtung zu analysieren und zu interpretieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • 1. Vorwort
  • 2. Einleitung
  • 2.1 Gegenstand der Untersuchung und Problemstellung
  • 2.2 Elite
  • 2.3 Identität, Identifikation, Identitätsbildung
  • 2.4 Forschungsstand
  • 2.5 Quellenbasis
  • 2.6 Zum chronologischen und territorialen Rahmen
  • 2.7 Anmerkungen zur Struktur der Arbeit
  • 3. Galizien: Konturen und Strukturen des neuen Kronlandes
  • 3.1 Entstehung, Legitimation und Grenzen
  • 3.2 Geographische Beschaffenheit
  • 3.3 Bevölkerungsstruktur und demographische Entwicklung
  • 3.4 Städte und Siedlungsstrukturen
  • 3.5 Territoriale Gliederung nach 1772
  • 3.6 Landesgubernium und Landesgouverneure
  • 4. Strukturelle und diskursive Kontexte der Adelsproblematik
  • 4.1 Galizische Wirtschaft und der adlige Grundbesitz
  • 4.1.1 Aristokratischer Familienbesitz nach der Teilung Polens
  • 4.1.2 Zur Wirtschaftsstruktur der adligen Güter
  • 4.2 Grundzüge und Entwicklungstendenzen der Struktur und Stellung des galizischen Adels am Anfang der habsburgischen Herrschaft
  • 4.2.1 Der begüterte Adel
  • 4.2.2 Kleinadel
  • 4.2.3 Orte des aristokratischen Lebens: Landsitz, Stadt, Kurort
  • 4.3 Zur Formierung des negativen Galizien- und Adel-Stereotypes im deutschsprachigen Diskurs der Aufklärung
  • 4.3.1 Der literarische Diskurs über den Adel und die Grundlagen der Galizien-Stereotypie
  • 4.3.2 Der polnische Adel aus der Sicht der Regierung im Vorfeld der Huldigung
  • 4.3.3 Literatur als Fortsetzung des Beamtendiskurses?
  • 4.4 Eingriffe in die urbarialen Verhältnisse als Bestandteil der Stände- und Adelspolitik
  • 4.4.1 Ansätze, Grundsätze, Interessenskonflikte
  • 4.4.2 Regulierungsmaßnahmen
  • 4.4.3 Josephinische Steuer- und Urbarialreform
  • 4.5 Konturen der Integration und Adelsrecht
  • 5. Die ersten Schritte und die Einführung der Stände
  • 5.1 Die Angliederung Galiziens und die ersten Überlegungen zur ständischen Verfassung
  • 5.2 Vorstellungen von Adel und Ständen im Kontext der Huldigungsvorbereitung
  • 5.2.1 Regierungsperspektive
  • 5.2.2 Programm und Forderungen des galizischen Adels am Anfang der österreichischen Herrschaft
  • 5.3 Die Vorbereitung der Einführung der Stände in Galizien (1774–1775)
  • 5.4 Juni-Patente von 1775: Die Einführung der ständischen Verfassung
  • 5.5 Das neue Adelsrecht und die Legitimation des Adels nach 1775
  • 5.6 Die Institutionalisierung der Stände und der erste Landtag (1782)
  • 5.7 Institutionelle Umrahmung und weitere Maßnahmen der 1780er Jahre
  • 5.8 Exkurs I: Zivildienst, polnischer Adel und die habsburgische „Personalpolitik“ in Galizien
  • 6. Ständische Oppositionsbildung und die Charta Leopoldina
  • 6.1 Josephs Nachlass: Die Krise der Monarchie und Impulse zur Oppositionsbildung
  • 6.2 Oppositionsbildung von 1790 und die österreichische Beamtenschaft
  • 6.3 Aktivierung der galizischen Stände
  • 6.4 Betrachtungen über die Verfassung von Galicien – Grundlagen der adligen Beschwerden von 1790
  • 6.5 Das Agieren der galizischen Deputation in Wien und die Denkschrift vom April 1790
  • 6.6 Gegenschritte der Behörden, Kampf um die Beamtenschaft
  • 6.7 Wiener Reaktion auf erste Forderungen: Beobachtungen
  • 6.8 Charta Leopoldina – das Verfassungsprojekt des galizischen Adels
  • 6.9 Radikal-josephinische Gegenoffensive: Kortum und seine Magna Charta
  • 6.10 Reaktionen der Wiener Regierung auf die Charta Leopoldina
  • 6.11 Zusammenhänge mit der österreichischen Polen-Politik. Brigidos Konzept
  • 6.12 Letzter Versuch
  • 6.13 Exkurs II: Orientierungskrise der Beamtenschaft nach dem Ende des Josephinismus
  • 7. Postleopoldinische Periode: Von der Charta Leopoldina zur dritten Teilung Polens (1791–1795)
  • 7.1 Militärlaufbahn als Kompromissangebot der 1790er Jahre
  • 7.2 Kościuszko-Aufstand, Galizien und der Dzieduszycki-Plan von 1794
  • 7.3 Ausblick: Dritte Teilung Polens
  • 8. Schlussbetrachtung
  • 8.1 Adel, Ständewesen und die Eingliederung Galiziens in die Habsburgermonarchie
  • 8.2 Das Ständewesen – Rückgrat der Adligkeit oder Arena der Elitenkompromisse?
  • 8.3 Legitimation und Legitimitätsvorstellungen
  • 8.4 Identität, Zugehörigkeit, Loyalität
  • 8.5 Integration, Akkulturation, Assimilation
  • 8.6 Elitenwandel
  • 8.7 Fazit
  • Anlagen
  • Galizische Landesgouverneure 1772–1848
  • Territoriale Gliederung Galiziens
  • Quellen- und Literaturverzeichnis
  • I. Ungedruckte Quellen
  • II. Gedruckte Quellen, Quelleneditionen
  • III. Literatur
  • Personenregister

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1.  Vorwort

„Wer Galizien für ein uninteressantes Land hielte, würde sich einer großen Täuschung überlassen.“1

Die vorliegende Studie untersucht das Problem der Adligkeit in der Spätphase der ständischen Gesellschaft in Polen und der Habsburgermonarchie. Um das Thema in seinen zentralen Punkten beleuchten zu können, nutzt sie dazu bewusst die Situation nach einem Herrschaftswechsel, in dem zwei ständische wie politische Traditionen miteinander konfrontiert wurden. Chronologisch handelt sich um eine Zeit, in der die Position des Adels und die ständischen Verfassungen in Europa vielfach unter Druck gerieten und im zeitgenössischen Diskurs zunehmend delegitimiert wurden. Diese Delegitimierung betraf die angeborenen und askriptiven Positionen der Angehörigen von privilegierten Gruppen, wobei beispielsweise dem Prinzip der Geburtsaristokratie die Idee einer „wahren“ Aristokratie oder Führungsschicht gegenübergestellt wurde. Das Problem der Adligkeit und der Aristokratie und die Prinzipien der ständischen Gesellschaft wurden damit direkt in den Kategorien der Elite betrachtet und kritisiert. In diesen Kategorien wurden dann auch Versuche der neuen Legitimation des Adels und des Ständewesens unternommen. Da in Galizien diese Prozesse im Zusammenhang mit dem Herrschaftswechsel und der damit verbundenen akuten Problematik der Loyalität, Identität, Integration und Akkulturation an besonderer Brisanz und Dynamik gewannen, bietet sich gerade dieses Land geradezu als ein ideales Laboratorium an, all diese Perspektiven in ihrer Verflechtung zu analysieren und zu interpretieren. Jedoch bleibt hier das Thema des Adels und seine neue Herausforderung im Kontext des Elitenwandels stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Seit den 1990er Jahren lässt sich in der Geschichtswissenschaft eine bemerkenswerte parallele Entfaltung dreier Themenbereiche beobachten, die in der vorliegenden Monographie miteinander verknüpft werden: Adel, Eliten und Galizien. Ihre bis heute anhaltende Karriere und gewisse öffentliche Popularität lassen sich auf Prozesse zurückführen, die sowohl langfristigen gesellschaftlichen Charakters als auch in konkreten politischen Umbrüchen am Ende des „kurzen“ 20. Jahrhunderts verankert sind.

Die Adelsforschung verzeichnete einen neuen, beachtenswerten Aufschwung und eine methodische und konzeptuelle Aufwertung. Spätestens seit den 1980er Jahren nahm dabei die Forschung Abkehr von geradlinigen und eindimensionalen Erklärungen für die Rolle und das Schicksal des Adels in der Moderne, womit der Weg für neue Fragestellungen und Interpretationen geebnet wurde. Nicht zuletzt geschah dies im Zusammenhang mit der Elitenforschung, die zwar im Allgemeinen vor allem die gegenwärtigen Prozesse des Elitenwandels, etwa in den postsozialistischen ← 9 | 10 → Ländern, untersuchte, aber zugleich eine beachtenswerte Historisierungswelle bis hin zu einer Modephase um 2000 durchlief. Die Historisierung der Elitenforschung war dabei von Anfang an teilweise auf die Modernisierungsperiode konzentriert und neben einer Linie, die an die frühere Bürgertumsforschung anknüpfte, zunehmend eng mit der Adelsforschung verbunden, auch wenn manche Autoren explizit auf die Eliten-Konzepte verzichten oder sich mit ihnen zumindest schwer tun.2 Mit Bezug auf Ostmitteleuropa sind zwei Feststellungen wichtig: Erstens hat die deutschsprachige und teilweise auch die internationale Historiographie in diesen Koordinaten um die Jahrtausendwende die Region definitiv in den Blick genommen, was sich in den folgenden Jahren bis heute in einer Serie von Veröffentlichungen niederschlägt.3 Zum anderen hat selbst in den ostmitteleuropäischen Historiographien – der polnischen, tschechischen, slowakischen, ungarischen oder litauischen – nicht nur die Adelsthematik nach 1989 einen Aufschwung erlebt, sondern nach einer Phase der Vorherrschaft von genealogischen und antiquarisch-deskriptiven Publikationen relativ rasch auch den Konnex Adel – Moderne – Elite aufgenommen, auch wenn dies mit unterschiedlicher Konsequenz bei der Anwendung der korrespondierenden Konzepte geschah.4

Die historische sowie literatur- und kulturgeschichtliche Beschäftigung mit dem habsburgischen Kronland Galizien hat sich ebenfalls intensiviert und in ihren Schwerpunktsetzungen teilweise sogar kanonisiert. Trotzdem wäre eine allgemeine Behauptung übertrieben, Galizien habe sich zu einem besonders prominenten Forschungsgebiet in der Historiographie entwickelt. Auch die letzten zwei Jahrzehnte sind nur teilweise gekennzeichnet von einer stärkeren Forschungsorientierung. Eine besondere Situation herrscht sicherlich in der polnischen Geschichtswissenschaft vor, die sich des galizischen Themenbereichs kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert annahm und seit den 1970er sowie erneut seit den 1990er Jahren stärker zuwendet. Dennoch wird in der polnischen Geschichtswissenschaft erst in den letzten Dekaden die Tendenz deutlich sichtbar, Galizien in die transregionale Betrachtung der polnischen Geschichte intensiver zu integrieren.5 In diesem Zusammenhang galt nämlich Galizien lange als ein gewisser Nebenzweig neben der Hauptlinie der polnischen Nationalgeschichte, die in einer Kontinuität von der polnisch-litauischen ← 10 | 11 → Adelsrepublik über das Herzogtum Warschau und das Kongresspolen bis zur modernen polnischen Republik gesehen wurde.

Die vorliegende Arbeit knüpft an die drei markanten Forschungsentwicklungen – Adel, Elite, Galizien – an und verbindet sie miteinander, wobei, wie noch näher erläutert wird, weitere zentrale Perspektiven, wie das Ständewesen, die moderne Staatswerdung der Habsburgermonarchie, der Wandel kollektiver Identitäten und die damit verbundenen Diskurse zwangsläufig in die Forschungsperspektive integriert werden. Im Mittelpunkt steht die galizische Nobilität als – nun – regionale Elite und ihre Situation in den ersten Jahrzehnten nach der Angliederung an das Habsburgerreich, die Probleme und der Wandel ihrer Loyalitäten, Zugehörigkeiten sowie sozialen Identitäten, und schließlich die diskursive Interaktion zwischen dem habsburgischen Staat und seinen Akteuren einerseits und den polnischen ständischen Eliten des neuen Kronlandes andererseits. Nur teilweise im Widerspruch zu der immer noch vorherrschenden kulturalistischen Optik wird hier der politischen Geschichte, die den Zugang zu den gewählten Hauptperspektiven ermöglicht, etwas größeres Gewicht beigemessen.

Die galizische Aristokratie und der galizische Adel gehören seit dem 18. Jahrhundert bis heute zu den festen Bestandteilen des facettenreichen, transnational wirksamen Galizien-Mythos: Neben dem Vielvölkercharakter, der Multikonfessionalität, Natur bzw. Landschaft, Armut, den Juden, Armeniern etc., neben derzeit sehr populären literarischen Mythen und Repräsentationen im Allgemeinen6 stellt der übermächtige, stolze, müßiggängerische, reiche oder aber arme, ungebildete Adel geradezu eines der bekanntesten und sich regelmäßig wiederholenden semantischen Symbole des Landes sowie der gesamten Galizien-Stereotypie dar. Wir finden sie in den ersten deutschsprachigen Beschreibungen nach der österreichischen Inbesitznahme ebenso wie in der späteren Publizistik, in der modernen Literatur und im Film. Wer dächte hier nicht an den Grafen Chojnicki aus dem Radetzkymarsch, dessen zivilisationskritischer Kommentar zur modernen Welt geradezu modelhaft ← 11 | 12 → ein jeder galizischer Aristokrat hätte sagen können und müssen, welcher dem stereotypen Bild des galizischen Hochadels entsprechen sollte.7

Zwar spielt sich die von dem gebürtigen Galizier Joseph Roth erst 1932 geschilderte Szene kurz vor dem Ersten Weltkrieg ab, doch sie repräsentiert eben jenes Bild des Stolzes und Realitätsverlustes, das man mit der galizischen Aristokratie sowohl zeitgenössisch als auch aus der späteren Perspektive „geschichtskulturell“ verband, das sich jedoch in den Grundzügen bereits seit der josephinischen Aufklärung formierte. Schließlich gehört das Stereotyp des galizischen Adels und der Aristokratie nicht nur zum Galizien-Mythos, sondern dadurch auch zum Mythos Österreich und Habsburg.8

Der galizische Adel, vor allem die Aristokratie und der wohlhabende und mittlere, gutsbesitzende Landadel, ist auch der zentrale Gegenstand dieser Untersuchung. Sie wendet sich allerdings im Unterschied zum größeren Teil der Galizien-Forschung der früheren Periode der galizischen Geschichte – den ersten Jahrzehnten der österreichischen Herrschaft im 18. Jahrhundert – zu. Damit ordnet sich die Studie gleich in mehrere thematische Zusammenhänge ein: in den Bereich der Erforschung der galizischen und der habsburgischen politischen, Sozial- und Kulturgeschichte, der Adelsgeschichte, der Problematik von Eliten und Elitenwandel sowie in den Fragenkomplex der kollektiven Identität, der Exklusion und Inklusion9 und der damit zusammenhängenden Phänomene der Integration und Akkulturation.10 Die Verknüpfung dieser Kontexte ermöglicht es, sich dem Thema der gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozesse in der Oberschicht der polnischen ständischen Gesellschaft in den an Österreich angegliederten Ländern facettenreich und multiperspektivisch anzunähern. Die Betrachtungsweise soll hier allerdings nicht von einer einseitigen Konzentrierung auf den polnischen Adel über die Folie der „Anpassung“ nach dem Herrschaftswechsel gekennzeichnet bleiben. Vielmehr wird nach dem Wandel des Verständnisses und Selbstverständnisses des Adels, der ← 12 | 13 → Aristokratie und der Adligkeit im Kontext des staatlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gefragt.

Auf der einen Seite ist dieser Übergang und dessen Bewältigung zusammen mit der Beziehung polnischer adlig-aristokratischer Eliten Galiziens zu Polen und Österreich eine der zentralen Komponenten der Problematik, die Interpretation der hier zugrunde liegenden Probleme soll aber auf der anderen Seite nicht auf diesen Kontext reduziert werden. Die tiefgreifenden Umwandlungen in Galizien hatten nicht nur in dem Herrschaftswechsel ihren Auslöser, sondern sie hingen eng mit den kulturellen, sozialen, politischen und ideologischen Entwicklungstendenzen im Allgemeinen zusammen, von denen auch die polnische Gesellschaft ebenso wie der habsburgische Staat und die Gesellschaft seiner einzelnen Länder betroffen waren. Als signifikante Beispiele können hier teilweise die neue Adels- und Ständepolitik des habsburgischen Hofes, die Zentralisierung und moderne Gesamtstaatswerdung des Habsburgerreiches oder aber die zeitgenössische Adelskritik und das umstrittene Verständnis der Standschaft gelten.11 Die Entwicklung im Königreich Polen sowohl vor als auch nach der ersten Teilung Polens ist in diesem Zusammenhang einer der entscheidenden Faktoren – ähnlich wie die innenpolitische Entwicklung Österreichs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im polnischen, österreichischen und galizischen Kontext bedeuten die sozialen und kulturellen Phänomene, mit denen wir es hier zu tun haben, an sich Variablen, die selbst während des Untersuchungszeitraums einem nicht unerheblichen historischen Wandel unterlagen.

Die vorliegende Schrift hat eine längere Entstehungsgeschichte hinter sich, weil sie, ursprünglich als das zentrale Projekt des Autors in einer vergleichenden Perspektive mit Böhmen sowie – so ist es meistens die Regel – in einem längeren chronologischen Umfang geplant, schließlich doch langsam neben anderen Arbeiten und Tätigkeiten entstehen musste. Ihre ursprüngliche Genese reicht zurück bis zu einem Projekt zum modernen Elitenwandel, welches unter der Leitung von Michael G. Müller am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig realisiert wurde. Vom GWZO wurden auch die ersten Forschungsreisen organisatorisch und finanziell (dank einer Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft) ermöglicht. Durch die berufliche Laufbahn des Autors ist jedoch der Großteil der Arbeit in einem immer loseren, aber nach wie vor bestehenden Zusammenhang mit dem Leipziger Projekt entstanden.

Auf die Entstehung der Schrift hatten daher viele Personen direkten oder indirekten Einfluss, der sich aus der Gestaltung organisatorischer Voraussetzungen, aus methodischer Inspiration, Gesprächen, Diskussionen, Kommentaren, manchmal aber auch einfach aus persönlichen Zugängen zum Nachdenken ergab. Nur einigen kann hier Dank ausgesprochen werden: dem schon erwähnten Michael ← 13 | 14 → G. Müller (Halle), der auch der ursprüngliche Ideengeber zum Thema Adel und Elitenwandel in Ostmitteleuropa war, sowie den Mitgliedern der ehemaligen Leipziger Projektgruppe: Dietlind Hüchtker (Leipzig), Mathias Mesenhöller (heute Berlin), Karsten Holste (Halle), Halina Beresnevičiūtė-Nosálová (Brno) und Peter Oliver Loew (Darmstadt), außerdem den Kollegen aus dem Prager Projekt zum böhmischen und österreichischen Adel in der Moderne, insbesondere Luboš Velek. In loser Verbindung über diese Projekte und/oder bei anderen Gelegenheiten konnte ich mich zu dem Thema gewinnbringend mit William D. Godsey, Peter Urbanitsch und Christoph Augustynowicz (alle Wien), Ralph Melville (Mainz), Victor Karády (Budapest), Tatjana Tönsmeyer (Wuppertal) und vielen anderen austauschen. Eine bleibend inspirative Erfahrung hatten für mich immer die Gespräche mit Miroslav Hroch (Prag), aber auch meine ständigen Missverständnisse zum Thema Identität mit Miloš Havelka (Prag).

Bei der Redigierung des Textes haben mich, als deutschen Nicht-Muttersprachler, Stefanie Troppmann, Ulla Baumann, Anke Bertz und Katrin Stoll nicht nur unterstützt, sondern mir auch wertvolle Hinweise zu argumentatorischen Kurzschlüssen und Uneindeutigkeiten gegeben.

Für ihre allseitige, auch moralische Unterstützung und viel Verständnis, aber auch für manchen Kommentar, gelegentliche gesunde Zweifel dort, wo ich mir am meisten im Klaren zu sein glaubte, und gute fachliche Ratschläge danke ich meiner Frau Lenka, schließlich auch dafür, dass sie immer bereit war, ihre eigenen Forschungsaktivitäten und Aufgaben mit meinen Archivreisen und Schreibzeiten abzustimmen. Und meinem Sohn Albert danke ich für die immer wiederkehrende Erinnerung daran, dass es viel wichtigere Dinge im Leben gibt, als eine Monographie über die galizischen Stände zu schreiben, und dass er es mir nicht erlaubte, wegen meiner Forschungen die schönsten Jahre seiner Kindheit zu verpassen.


1 Kohl, 1841, S. 58.

2 Als Beispiel s. Matzerath, 2006, S. 14–16; s. dort auch die entsprechende Kritik, die elitenhistorische Adelsforschung blende die nichtelitären Segmente des Adels als Formation aus.

3 Nur als Beispiele: Malinowski, 2003; Matzerath, 2006; Gerstner 2008; Holste/Hüchtker/Müller, 2009; Mesenhöller, 2009; Hofmann, 2012; Tönsmeyer, 2012; Krueger, 2009; Kučera, 2012.

4 Beispiele: Řezník/Velek, 2012; Beresnevičiūtė-Nosálová, 2001; Holec/Pál 2006. Zu den Adelsforschungen, bezogen auf das 19. Jahrhundert in Böhmen und teilweise mit Hinsicht auf das Elitenthema, s. vor allem Tönsmeyer, 2006.

5 Unter den Synthesen der polnischen Geschichte des 19. Jahrhunderts s. vor allem Chwalba, 2000.

6 Bemerkenswerterweise erfolgt die historiographische und literaturwissenschaftliche Reflexion dieser Thematik trotz der sehr breiten potentiellen Quellenbasis immer wieder auf der Grundlage eines begrenzten Kanons von Reiseberichten des 18./19. Jahrhunderts und der Werke durchaus weniger Autoren (K. Franzos, L. v. Sacher-Masoch, J. Roth u. a.) – vgl. unter verschiedenen Anthologien bspw. den entsprechenden Band in der österreichischen Serie „Europa erlesen“ (Galizien. Klagenfurt 1998) oder zuletzt eine deutsch-ukrainische zweisprachige Anthologie Paslawska/Prochasko/Vogel, 2012. Eine Impulsrolle für die Hinwendung zum Thema des literarischen bzw. kulturellen „Mythos Galizien“ spielte vermutlich Magris, 1988 (deutschsprachige Erstausgabe 1966, italienische Originalausgabe 1963 [Il mito absburgico nella letteratura austriaca moderna. Torino]). Vgl. Kłańska, 1991; dies., 1991a; Berg, 2010; Wolff, 2010; Hüchtker, 2002; Jobst, 1998; Bechtel 2004; Augustynowicz, 2012. Siehe auch Dohrn, 1993, und neulich diverse Beiträge in Purchla et al., 2014. Für die polnische Literatur s. insb. Woldan, 1996, und Weigandt, 1997; Rump, 2003.

7 „Dieses Reich muss untergehn […]. Alle Völker werden ihre dreckigen kleinen Staaten errichten […]. In Wien stinkt schon der Schweiß der Demokraten, ich kann’s auf der Ringstraße nicht mehr aushalten. Die Arbeiter haben rote Fahnen und wollen nicht mehr arbeiten. Der Bürgermeister von Wien ist ein frommer Hausmeister. Die Pfaffen gehn schon mit dem Volk, man predigt tschechisch in den Kirchen. Im Burgtheater spielt man jüdische Saustücke, und jede Woche wird ein ungarischer Klosettfabrikant Baron. Ich sag euch, meine Herren, wenn jetzt nicht geschossen wird, ist’s aus. Wir werden’s noch erleben!“ Roth, Joseph: Radetzkymarsch. Roman. Berlin 1932, S. 236–237.

8 Vgl. zum Hintergrund der Rolle der Kronländer im „habsburgischen Mythos“ – hier im Zusammenhang mit Roth – bspw. Magris, 1988, S. 260–262. S. auch Woldan, 1996, u. a. Vgl. für die Literatur und Historiographie der Zwischenkriegszeit Kożuchowski, 2009.

9 Vgl. hierzu mit Bezug auf die Situation nach den Teilungen Polens-Litauens in einzelnen Teilungsgebieten neulich Bömelburg/Gestrich/Schnabel-Schüle, 2013.

10 S. weiter unten, S. 22–26.

11 Vgl. zu diesem Kontext konzeptuell und interpretatorisch breit angelegt, allerdings mit einer starken Konzentrierung auf die ostmitteleuropäischen Gebiete an der Ostsee, Neugebauer, 1995. Hier auch zahlreiche weitere Literaturhinweise zur damaligen Diskussion über Standschaft und Ständewesen. S. im allgemeinen Krüger, 2003.

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2.  Einleitung

2.1  Gegenstand der Untersuchung und Problemstellung

Um der eingangs genannten Problematik genauer nachzugehen, wird untersucht, wie die polnische Aristokratie und der Besitzadel in Galizien auf den mit der neuen Grenzziehung von 1772 erfolgten Staats- und Herrschaftswechsel und die damit implizierten Systemänderungen und diskursiven Herausforderungen reagierten, wie sie den Wandel mental und kulturell verarbeiteten, welche Zusammenhänge diese Prozesse mit der Elitenposition der betreffenden Schichten, mit den entsprechenden Elitendiskursen sowie mit dem Adligkeitsverständnis und der Konstitution des Adels hatten. Zugleich wird analysiert, mit welchen Strategien und Zielen die Wiener Regierung das Feld der Adelsproblematik betrat. Diese breit gefächerten, voneinander kaum zu trennenden Fragen werden als Aspekte des Eliten- und Identitätenwandels im Spannungsfeld zwischen der ständischen Gesellschaft, der Staatsbildung und der Moderne betrachtet und vor allem aus diskurs-, kulturell- und politikgeschichtlicher Perspektive analysiert. Eine essentialistische Eingrenzung wird hier nicht unternommen.

Die Arbeit fügt sich insofern in diesen herrschenden Forschungsdiskurs ein, als hier die allgemein verbreitete Problemverbindung „Adel und Moderne“ als aktueller historiographischer Hintergrund durchaus angenommen wird – schließlich ist die Frequenz dieses Paares in den Titeln, Untertiteln und Problemausformulierungen zahlreicher neuerer, vor allem deutschsprachiger Publikationen zum Adel mit Bezug auf das 19. Jahrhundert bemerkenswert.1 Es scheint, dass diese leitmotivische, von einer impliziten Spannung zwischen Adel und Moderne ausgehende Akzentuierung ähnliche Apostrophierungen geradezu provoziert (ähnlich wie die frühere Frequenz der Paare Adel – Bürgertum), auch wenn gerade in den neueren Forschungen meist alles andere als eine Weiterführung linearer Vorstellungen über den Untergang des Adels in der Moderne stattfindet.

Der Themenkonnex Adel – Elitenwandel – Ständewesen stellt hier die zentrale Konstruktion dar, an der sich die gewählten Fragestellungen und Perspektiven orientieren: Dies gilt vor allem für die Themen der Identität und der Staatsbildung. Ein anderer Pol ist die konkrete Situation in Galizien, bzw. im weiteren Sinne in der Habsburgermonarchie „an der Schwelle zur Moderne“, in der spannungs- und wechselvollen Zeit zwischen der polnischen Rzeczpospolita und dem Josephinismus auf der einen und den politisch-kulturellen Rahmenbedingungen ← 15 | 16 → der postjosephinischen Ära auf der anderen Seite. Es ist eine Epoche, die in allen drei Zusammenhängen (Adel, Elite, Stände in Galizien) in vielerlei Hinsicht eine entscheidende Umbruchszeit darstellt. So erweitert sich in dieser Arbeit die Perspektive des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels noch um das Phänomen des (staatlichen) Herrschaftswechsels, der mit der ersten Teilung Polens eine tiefe Zäsur hinterließ. Zum einen wird nach Formen der adligen „Persistenz“, des Elitenwandels und der dazugehörigen Strategien und Wahrnehmungen gefragt, zum anderen sollen einige zentrale Probleme der galizischen Geschichte der Jahrzehnte vor 1800 beleuchtet werden; dabei wird auch der in der bisherigen Literatur im Vordergrund stehende Topos der Integration Galiziens in Österreich und der Anpassung seiner Gesellschaft neu betrachtet. Wie sich jedoch im Folgenden zeigt, mussten dazu selbst die „intuitiv“ so „selbstverständlichen“ Kategorien wie die Anpassung2 und Orientierungskrise teilweise von Grund auf anders gedacht werden.

Bereits aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass in der vorliegenden Arbeit eine Verflechtung von mehreren zentralen thematischen Problemen und Perspektiven vorliegt, diese aber mit gewissen Fokussierungen erkauft werden muss; eine Position, die vielversprechende Potentiale anbietet, darunter die Möglichkeit, den Untersuchungsgegenstand in einem breiten Kontext zu analysieren, aber auf der anderen Seite nur teilweise überwindbare Probleme birgt. Zu diesen gehört ein fast zwangsläufiger Verzicht auf minutiöse Analysen des seriellen Quellenmaterials genauso wie auf umfangreichere statistische und prosopographische Erhebungen, welche ja ein gängiges Modell zumindest der sozialhistorischen Erforschung von Eliten sind und zahlreiche Interpretationspotentiale bieten. Vielmehr richtet sich im Folgenden der Blick auf die Analyse des Diskurses und der mit ihm direkt zusammenhängenden Einstellungen, Handlungspraktiken und der individuell wie kollektiv gestaltbaren, dennoch nicht struktur- bzw. umfeldunabhängigen Strategien, in deren Intentionen sich Veränderung und Erhaltung nicht immer eindeutig voneinander trennen lassen.3 Das Ständische bietet sich dabei als eine Art Verdichtung an, welche für die Erforschung des Hauptthemas in der Situation, in der sich die Habsburgermonarchie, Galizien und seine Eliten nach 1772 befanden, einen besonders günstigen Ausgangspunkt bildet. Die hier umgesetzte Lösung erscheint dann insofern plausibel, als dass die Hauptperspektiven der Arbeit auf Diskurs, Identität und Elite gerichtet sind. Im Folgenden soll daher die Problemstellung umrissen und die Anwendung der „Folie“ der ständischen Verfassung als methodischer Ansatz erläutert werden.

Der Adel und vor allem die Aristokratie in Galizien waren seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zahlreichen Herausforderungen ausgesetzt, die ihre Angehörigen als Bedrohung der eigenen Machtposition verstehen konnten und die nur ← 16 | 17 → teilweise das Resultat der Ausgliederung aus der vom Adel dominierten polnisch-litauischen Rzeczpospolita und der Eingliederung in die Habsburgermonarchie waren. Denn sowohl in der Monarchie wie auch in Polen selbst wurde die Rolle des Adels und die damit zusammenhängende ständische Verfasstheit der Gesellschaft (oder zumindest des politischen Systems) zunehmend zum Gegenstand von Kritik und in den meisten Bereichen einschließlich des politischen und des urbarialen zumindest teilweise in Frage gestellt.4 Dies alles löste, wie noch zu zeigen sein wird, bei dem Adel und der Aristokratie ein Krisenbewusstsein aus. Allerdings lassen sich die Reaktionen auf die neuen Probleme bei weitem nicht auf Ablehnung und resistente Passivität reduzieren.

Vor diesem Hintergrund stellen sich zwei zentrale Fragen. Erstens: Wie ging die habsburgische, sich in einer gesamtstaatlichen Formierung befindende Monarchie das Problem des Ständewesens, des Adels und der Adligkeit im Zusammenhang mit dem Herrschaftswechsel in Galizien an? Zweitens: Wie reagierten die Aristokratie und der gutsbesitzende Adel auf welche Probleme und mit welchen Strategien versuchten sie, diese zu bewältigen? Gefragt wird dabei sowohl nach dem Bedrohungsgefühl und der Wahrnehmung der Lage und ihrer Zusammenhänge als auch nach den individuellen und – dies vor allem – gruppenspezifischen oder kollektiven Reaktionen und Handlungen, die dazu dienen sollten, die neuen Probleme zu begreifen, zu meistern, zu verhindern, zu beeinflussen, neu zu gestalten oder sie sogar zu nutzen. Dabei gilt es, aufmerksam und offen zu sein – sowohl für Abwehrreaktionen als auch für aktives Gestaltungsengagement bis hin zur Strategien der Persistenz, Verdrängung oder aber Akkommodation. Was unternahmen die Aristokratie und der begüterte Adel dafür, ihre Position unter den sich wandelnden Bedingungen zu behaupten, zu verteidigen und unter Umständen auszubauen oder aber zu modifizieren? Wie stellen sich in diesem Kontext ihre Bezüge zum politischen System, Staat, der „Nation“, dem Ständewesen und der ständischen Verfassung der Gesellschaft, den regionalen und adligen Traditionen heraus?

All diese Probleme, im Kontext des Elitenwandels betrachtet, führen letztendlich zum Fragenbereich von Identität, Loyalität und der gruppenbezogenen Kohärenz. Gefragt wird, inwieweit sich in der Situation nach der Angliederung an Österreich die galizische Aristokratie (der besitzende Adel) überhaupt als eine Elitegruppe ausmachen lässt, die sich durch ein gewisses Niveau von Kohärenz, Identität und Bewusstsein, Solidarität und Loyalität auszeichnete, und inwieweit sie sich aufgrund dieser Komponente in welchen Richtungen als spezifische und kohärente Entität profilierte – d. h. nicht nur als aristokratisch-adlige, sondern gleichzeitig auch als polnische, galizische, österreichische Elitegruppe. Dies setzt sicherlich trotz zahlreicher kritischer Ansätze eine Vorstellung von Kollektivität, kollektivem Bewusstsein, ← 17 | 18 → kollektiver Identität oder gar kollektiven, gruppenspezifischen Handlungsstrategien voraus – durchaus nicht unumstrittene, dennoch nützliche und plausible Kategorien, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen werden soll. Trotzdem sollen auch die individuellen bzw. alternativen Wahrnehmungen und Strategien nicht gänzlich aus dem Blick geraten. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv und nichtsdestotrotz die Einheit des Individuellen und des Kollektiven, des Subjektiven und des Intersubjektiven, werden im Kontext der Identitäten so häufig und schließlich meist mit ähnlichen Schlussfolgerungen diskutiert, dass diese es an dieser Stelle nicht wiederholt werden müssen.5

Wenn jedoch im Folgenden der Perspektive des Kollektiven vor jener des Individuellen, die sicherlich eine gebührende konzentrierte Forschungsaufmerksamkeit verdienen würde, Vorrang gewährt wird, weil hier die Elitenformation betrachtet wird, dann wird das Kollektive nicht essentialistisch gedacht. Vielmehr geht es darum, Positionen, Zielsetzungen und Wahrnehmungen auszuloten, die sich aus der jeweiligen Gruppenzugehörigkeit (und ihrer Reflexion, bzw. der entsprechenden Identifikation) und der historisch konkreten Situation dieser Gruppe ergaben und/oder die sich auf diese Gruppe und Gruppenzugehörigkeit bezogen, teilweise sogar explizit, reflektiert und argumentativ; dies ebenfalls im Kontext der Formen von Exklusion, Inklusion und Identität, welche sich in dem Bewusstsein einer Gruppenzugehörigkeit als Selbst- und Fremdzuordnung sowie im Diskurs über diese Zugehörigkeit sowohl performativ herstellten wie auch manifestierten.

Zwar konzentriert sich die vorliegende Arbeit auf den gutsbesitzenden Adel und die Aristokratie Galiziens, doch ist diese Gruppe hier nicht der ausschließliche Gegenstand des Interesses. Die Aufmerksamkeit wendet sich zusätzlich dem Hof, dem Staat, seinen Eliten und den Beamten als Akteuren zu, wobei besonderes Gewicht auf die Verflechtung dieser Ebenen gelegt wird. Anders als in der bisherigen Literatur wird der habsburgische Staat nicht einseitig als abstrakter Akteur betrachtet, der „von oben“ Maßnahmen trifft, und der Adel Galiziens (bzw. auch andere soziale Gruppen in der Monarchie) nicht als Zielgruppe dieser Maßnahmen angesehen, deren Angehörige mit Abwehr oder Anpassung reagieren.6 Eine solche Sicht ist prinzipiell nicht unplausibel, sie verengt aber wesentlich das Thema auf eine eindimensionale Aktions-Reaktions-Perspektive. In der vorliegenden Arbeit geht es vielmehr darum zu untersuchen, wie der Staat bzw. die Zentrale sowie ihre Repräsentanten und der Adel, die Aristokratie sowie ihre Vertreter in Galizien gegenseitig agierten und reagierten, und zwar mit Bezug auf das zu untersuchende Feld der Adligkeit und des Ständewesens. Es wird danach gefragt, wie sich dieses Agieren ← 18 | 19 → und Reagieren zusammen mit Handlungsstrategien zu einem Geflecht gestaltete, und zwar im Zusammenhang mit unterschiedlichen Problemfeldern, kulturellen Konfigurationen und politischen (darunter auch „internationalen“) Konstellationen, welche den gesellschaftlichen Status des Adels prägten. In diesem Kontext muss die bereits erwähnte Problematik und Begrifflichkeit der „Anpassung“ operationalisiert werden.

Da es sich im vorliegenden Fall um einen adelshistorischen Beitrag handelt, stehen der begüterte Adel und die Aristokratie als Subjekt und Objekt im Fokus. Vor dem Hintergrund des oben skizzierten breiteren thematischen Rahmens wird nach der Adelspolitik des österreichischen Staates in Galizien und den Positionen der adlig-aristokratischen Eliten gefragt. Es geht nicht nur um einzelne Maßnahmen, die den Adel in Galizien unter Kontrolle bringen, seine politische Macht abschaffen und ihn an die Monarchie binden sollten, sondern viel mehr einerseits um die generelle Zielsetzung und Horizonte der habsburgischen Adelspolitik, die sich in Galizien auswirkten, und andererseits um den adelspolitischen Kontext der Galizien-Politik. Mit anderen Worten: Die Galizien-Politik wird hier als Aspekt der habsburgischen Adelspolitik im Allgemeinen und die Adelspolitik andererseits als Aspekt der Galizien-Politik im Besonderen verstanden. Welche Rolle spielte die habsburgische Adelspolitik für die Integration und strukturelle sowie rechtliche Kompatibilisierung des neu akquirierten Landes in der Monarchie, und welche Rolle spielte dabei der galizische Adel, die galizische Aristokratie selbst?

Dabei wird deutlich, dass es hier sowohl aus der Sicht Wiens als auch aus der Sicht der polnischen Elite um Aspekte einer Interferenz unterschiedlicher Kulturen, Traditionen, systemischer Felder und Lebenswelten und damit letztendlich um eine Frage des kulturellen Transfers handelte. Betrachtet man – neben der ersten Orientierung oder eher Desorientierung des polnischen Adels unter der neuen Herrschaft – auch die erste Orientierungsphase Wiens in Galizien, so stellt sich heraus, dass es zunächst vor allem um die vorläufige Erkundigung und Klärung der Strukturen im neuen Land, um die Suche nach dem Verständnis der „vorgefundenen Gegebenheiten“ ging. Dies sollte erst die Grundlage weiterer Überlegungen zu einer konsequenteren Adelspolitik in Galizien werden. Die in der Forschung so stark im Vordergrund stehende Abschaffung der meisten Elemente der politischen und obrigkeitlichen Rechte des polnischen Adelsstandes bedeuteten also einen zwar wichtigen, aber dennoch eben nur einen Teilaspekt der Adelsproblematik in Galizien nach 1772, von dem am Anfang für niemanden klar stand, wie, in welcher Form und in welchem Umfang welche Schritte durchzuführen waren. Dieser Aspekt soll nicht unberücksichtigt bleiben, sondern er wird im breiteren Kontext der umfassenden Galizien-Politik und Adelspolitik betrachtet, wobei „Staat“, Zentrale und Beamtenschaft sowie der Adel und die Aristokratie mehrdimensional als gegenseitig (nicht unbedingt gegeneinander) agierende Akteure mit sich wechselseitig beeinflussenden, miteinander verflochtenen und sich gelegentlich – gezielt oder nicht – ausgleichenden Interessen, Strategien und Wahrnehmungen betrachtet werden.

Das Thema Adel und Aristokratie Galiziens in der Habsburgermonarchie kann sicherlich nicht zuletzt als ein „Integrationsthema“ angesehen werden, allerdings ← 19 | 20 → mit verschiedenen Dimensionen:7 Es geht hier um die Integration des polnischen Adels in den österreichischen Staat, um die Integration des Landes in die Monarchie, aber auch um jene der österreichischen Eliten in Galizien selbst sowie um die gegenseitige soziale, kulturelle und politische Integration der territorialen Einheiten, ihrer Strukturen, Gesellschaften, darunter auch der ständischen Eliten. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, welchen Wandel der Adel und die Aristokratie als Entität in welcher Form durchmachten, wie sie auf diesen Wandel reagierten und sich mit ihm veränderten, und welche Folgen diese Prozesse und Umstände für das Verständnis der Adligkeit, für die Legitimität des Adels und seiner Position in der Gesellschaft sowie für jene Vorstellungen hatten, die als „Elitendiskurs“ bezeichnet werden können und die sich nicht zuletzt bei den Fragen der ständischen Verfassung manifestierten. Dabei geht es nicht nur um ein elitäres Bewusstsein des Adels oder seine Legitimation als Elite (obwohl diese Begrifflichkeit im damaligen diskursiven Kontext kaum explizit vorkam), sondern auch darum, ob, inwieweit und auf welchen Wegen die Aristokratie bzw. der gutsbesitzende Adel sich unter teilweise dramatisch neuen Bedingungen überhaupt als Elite durchsetzen und etablieren konnten. So werden die Legitimation, Kohärenz der Gruppe im Sinne einer Gruppenidentität, symbolische Position und Einflussausübung als tragende Komponenten einer solchen elitenhistorischen Perspektive angesehen. Es stellt sich unter anderem die Frage, inwieweit Konflikte oder aber Kompromisse zwischen dem Staat (sowie seinen Eliten) und dem Adel/der Aristokratie möglich waren und sich bei der Gestaltung des Elitenstatus, des Adligkeitsverständnisses und des Diskurses über Legitimität des Adels auswirkten. In diesem Punkt trifft sich der Ansatz der vorliegenden Untersuchung mit neueren ständehistorischen Analysen, die bei der Kategorie der Repräsentation das Thema der Legitimation und Wahrnehmung verorten.8

Als Zugang zu diesem sicher sehr vielfältigen, aber eng zusammenhängenden Themenkomplex wird, wie bereits betont, aus methodischen und heuristischen Gründen die Frage der ständischen Verfassung benutzt. Dieses Feld wird allerdings etwas breiter gefasst – neben dem ständischen System werden auch allgemeinere Probleme der politischen und sozialen Ordnung von Galizien betrachtet. Es zeigt sich nämlich, dass die derart gewählte Perspektive der ständischen Ordnung konzentrierte Rückschlüsse über Vorstellungen, Ideen, Wahrnehmungen, aber auch politische Programme, Handlungsstrategien und Fragen der Legitimität mit Bezug auf den Adel und das Elitenthema ermöglicht.

Im breiten Kontext der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen sowie der kulturellen Aspekte wurde über die ständische Ordnung und die Adelspolitik ← 20 | 21 → am Wiener Hof bereits im Sommer 1772 intensiv nachgedacht. Nach der politischen Angliederung und weiteren Reformen folgte eine formale Einführung der ständischen Verfassung in zwei Phasen in den Jahren 1775 und 1782. Eine neue ständische Verfassung, die bis zur Revolution des „Völkerfrühlings“ gültig blieb, folgte 1817. Die Zeiten dazwischen waren von zahlreichen Reformbestrebungen und Projekten einer Änderung oder eines völlig neuen ständischen Systems erfüllt, was insbesondere für die Periode ab 1790 gilt. Die Lage nach dem Tod Josephs II. motivierte und zwang sowohl die Wiener Zentrale als auch den polnischen Adel dazu, Projekte für die weitere politische, darunter auch ständische Organisation des Landes zu entwickeln. Sie sind von beiden Seiten vorgelegt, vorbereitet und erörtert worden, sie waren Bestandteil von umfassenderen Projekten und Gegenstand von Aktivitäten verschiedener Akteure und Gruppen. Sie verkörperten nicht nur die Interessen, Ziele und Strategien, sondern zum Teil auch die Wahrnehmungen, Vorstellungen, Handlungsmuster, Identitäten, ja Lebenswelten der Akteure. Das vorhandene vielfältige Quellenmaterial ermöglicht es in einer bisher ungeahnten Weise, über das Thema der ständischen Verfassung die zentralen Themen dieser Arbeit – Adel und Elite im Herrschaftswandel – aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten: des polnisch-galizischen Adels/der Aristokratie selbst, der Wiener Zentrale sowie der österreichischen Beamtenschaft – sowohl im Zentrum als auch im Kronland.

Wie sich noch zeigen wird, zerfällt die Einheitlichkeit dieser „kollektiven Akteure“ manchmal weitgehend, was zur Dynamik der politischen und kulturellen Wandlungsprozesse in Bezug auf den galizischen Adel in Österreich beitrug. Dennoch erscheint es möglich und sinnvoll, das zentrale Thema mehrdimensional zu behandeln und sich zunächst auf die erwähnten Perspektivenebenen galizische Aristokratie/galizischer Adel – Wiener Zentrale – österreichische Landesbeamtenschaft festzulegen. Damit wird von einer eindimensionalen „Anpassungs“-, „Abwehr“- oder aber „Reform“- und „Eingliederungsgeschichte“ Abstand genommen – zugunsten einer vielschichtigen Diskursperspektive. Mit einer ähnlichen Distanz gilt es schließlich auch dem traditionellen, in der älteren Geschichtstradition vorherrschenden Bild, in dem sich der habsburgische Staat und die polnischen Eliten meistens feindlich gegenüber standen, zu begegnen: Die polnischen Eliten hätten sich je nach den historischen Gegebenheiten offen oder verborgen darum bemüht, die habsburgische „Fremdherrschaft“ zu stürzen und sich in die polnische Bewegung einzubinden, wogegen der Staat als Akteur und dessen misstrauische Repräsentanten alles dafür getan hätten, diese Bemühungen zu unterbinden. Die Aristokraten, die für ein erneuertes Polen oder für eine Befreiung aus der habsburgischen Herrschaft tatsächlich oder anscheinend keine positiven Emotionen hegten, erschienen bis unlängst vor allem, aber nicht nur im nationalen Geschichtsnarrativ als untypisch und/oder als Egoisten, Opportunisten, Verräter oder indifferente Außenseiter. Anknüpfend an neuere, diese Erzählung revidierende Forschungen9 ← 21 | 22 → nimmt die vorliegende Arbeit gegenüber diesen Deutungsmustern eine kritische Haltung ein; nicht, um sie im Sinne „mythenstürmerischer“ Manier pauschal abzulehnen, sondern vielmehr um neue Fragen zu stellen: nach den Möglichkeiten, Motiven und Grenzen der Elitenkompromisse zwischen Staat und aristokratisch-adliger Oberschicht, zwischen polnischer Tradition und österreichischer Staatsräson, zwischen ständischer, staatlicher, dynastischer, „nationaler“ und regionaler Identität und Loyalität, zwischen Eigen-, Gruppen- und Landesinteressen. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich die Strategien, Wahrnehmungen, Handlungen und Zukunftsvorstellungen aller Akteure und Akteursgruppen aufeinander bezogen verstehen und ergründen.

Dabei soll auf die schwierige, in der historischen Literatur meist essentialistisch und eher intuitiv betrachtete Kategorie der Anpassung eingegangen werden. In der Tat wurde die Adelsproblematik in den polnischen Ländern nach den Angliederungen an die Teilungsmächte nicht selten unter dieser Perspektive gesehen, d. h. als eine Art mehr oder weniger erfolgreiche oder aber gescheiterte Anpassung verstanden. Sie wird, meistens implizit, entweder normativ als eine gelungene Domestizierung von der Seite des habsburgischen Staates, oder aber als eine politische Akkommodation betrachtet. In diesem Sinne bedeutet „Anpassung“ implizit entweder eine Erfolgsgeschichte oder ein Scheitern der staatlichen Politik bzw. gesellschaftlicher Gruppen. Von diesem Forschungshintergrund ausgehend, brachte seit den 1990er Jahren die pointierte und erfolgreich etablierte Kategorie des adligen „Obenbleibens“10 wichtige Impulse zur Relativierung einseitiger Interpretationen. In der vorliegenden Untersuchung wird auf die, wenn auch kaum prägnant zu definierende, Anpassungskategorie zwar nicht verzichtet, denn sie erweist sich zweifelsohne für die lebensweltliche, sozialhistorische und kulturhistorische Perspektive als nützlich. Allerdings wird hier ein mehrdimensionales Verständnis des Begriffs Anpassung postuliert. Es wird davon ausgegangen, dass die Angliederung Galiziens an die Habsburgermonarchie genauso wie die folgenden politischen Umbrüche (Ende der josephinischen Ära, weitere Teilungen Polens) eine Anpassungs- und Orientierungsherausforderung oder gar Anpassungs- und Orientierungskrise nicht nur bei den polnischen adlig-aristokratischen Eliten, sondern auch bei anderen Akteuren einschließlich der habsburgischen Staats- und Beamteneliten auslösten. So zeigt sich beispielsweise, dass die österreichische Orientierungsphase in dem neu angeschlossenen Land keineswegs einfach, sicher und mit vorgegebenen Ergebnissen verbunden war. Vor allem aber verursachte der Tod Josephs II. und der Regierungsantritt Leopolds II., der für die Zeitgenossen eine völlig neue Epoche zu markieren schien, offensichtlich eine Orientierungskrise und Unsicherheit bei ← 22 | 23 → den österreichischen Eliten, vor allem der Beamtenschaft, sowohl in Wien als auch insbesondere in Galizien selbst.

Es ist zu fragen, auf welche Weise die Beamten, die in Galizien als Träger des politischen und gesellschaftlichen Umbaus galten (bzw. so wahrgenommen wurden und sich auch so stilisierten), auf diese Krisensituation reagierten, mit welchen Strategien und welchen Verhaltensweisen sie versuchten, die neue Lage zu meistern, und welchen Einfluss sie als Akteure auf die adlig-aristokratische und ständische Problematik in Galizien hatten, vor allem dort, wo es um die Ausarbeitung neuer Konzepte einer ständischen Verfassung oder um das Agieren der aristokratischen Vertreter im Interesse des Landes und seiner Ständegemeinde ging. Wie wurde diese Lage von Seiten der Aristokratie und des Adels wahrgenommen und eventuell in ihren Handlungen berücksichtigt?

Die Anpassung des Adels und der Aristokratie ist ebenfalls in weiteren Dimensionen zu sehen – u. a. als Anpassung an und Anpassung von. Zum einen handelt es sich um die Anpassung an die neuen Umstände, zum anderen aber – im etwas weiteren, übertragenen Sinne – um die Bemühung und eventuell die Fähigkeit, sich (d. h. den eigenen Perspektiven, Interessen und „Logiken“) die Umstände anzupassen: Es geht also um ein Anpassungsverständnis, das neben der individuellen oder gruppenbezogenen Sozialisation bzw. gesellschaftlichen Kooptation durch Annahme von Normen auch den umgekehrten Prozess zumindest idealtypisch in Betracht zieht. Dieses Spannungsverhältnis hat bereits Jerzy Jedlicki als eine der entscheidenden Komponenten der politischen, rechtlichen und sozialen Entwicklung des Herzogtums Warschau zwischen 1807 und 1814 diagnostiziert.11

Die Anpassung von Seiten des Adels und der Aristokratie unter der neuen Herrschaft und den veränderten Bedingungen setzt die Möglichkeit voraus, dass der Adel bereits durch sein Verhalten, seine Reaktionen, aber auch durch seine gezielten Aktivitäten auf die weitere Gestaltung und Entwicklung Einfluss nahm. Mit Bezug auf die Adligkeit und das Ständewesen wird also danach zu fragen sein, inwieweit, in welcher Form, zu welchen Zeiten und mit welchen Ergebnissen diese Einflussnahme geschah und welche Rolle dabei gegebenenfalls gezielte und reflektierte Strategien spielten. Unmittelbar daraus ergibt sich auch eine weitere Perspektive des Anpassungsthemas: Selbst wenn man über die Anpassung des Adels an die neuen Bedingungen und das neue Umfeld spricht, soll dieser Prozess nicht vereinfachend als Sich-Unterwerfen und Sich-mit-der-Situation-Abfinden verstanden werden. Neben diesen Komponenten geht es hier auch um weitere Ebenen und Aspekte der mentalen Verinnerlichung – nämlich diejenigen, die sich in der Fähigkeit manifestieren, sich in dem gegebenen „neuen“ System sicher zu bewegen, zu agieren, dieses System selbst im eigenen Interesse zu nutzen oder auf seine Gestaltung und Umgestaltung direkt oder indirekt Einfluss zu nehmen. Anpassung wird hier also auch als Ergebnis von Handlung und mentaler Internalisierung verstanden, wobei ← 23 | 24 → Handlung hier stets als Aushandlung und dadurch mehrdimensional anzusehen ist.12 Eine Anpassung in diesem Sinne setzt immer gewissermaßen und notwendigerweise auch eine Aneignung voraus, aber nicht unbedingt eine Akkulturation im Sinne der Identitätsfusion.13

Einer solchen Perspektive ist die Vorstellung immanent, dass sich bei den relevanten Prozessen Stabilität und Veränderung, Beharrung und Wandel gegenseitig durchdringen oder sogar als klar feststellbare Kategorien auflösen statt sich auszuschließen. In der Konsequenz kann die Frage nach dem Ausgleich zwischen Stabilität und Veränderung diskutiert werden. Schematisch könnte die Frage folgendermaßen geäußert werden: Welche systemischen Elemente werden vor dem Hintergrund welcher Interessenkonstellationen wie verändert und welche werden dadurch stabilisiert? Welche Handlungen und Aushandlungen wurden ausgetragen (hier: über das Feld der ständischen Verfassung), um auf dieser Basis einen Kompromiss oder ein modus vivendi für die polnische Aristokratie in der Habsburgermonarchie herzustellen? Dabei wird der Kompromiss nicht nur als Grundlage legitimer Herrschaft verstanden (wie das u. a. Max Weber oder Norbert Elias14 implizieren), sondern er wird konsequenter im Sinne eines Elitenkompromisses15 betrachtet, in dem sich verschiedene Eliten oder – wie im vorliegenden Fall – Herrschaft/Herrschaftseliten und andere Elitengruppen gegenseitig legitimieren.

Mit anderen Worten: Es kann die These aufgestellt werden, dass der polnische Adel bzw. seine Angehörigen über bessere Chancen zur Vertretung und eventuellen Durchsetzung ihrer Ansichten und Interessen verfügten, je mehr sie das entsprechende System und die damit verbundenen lebensweltlichen Komponenten verinnerlichten, je mehr sie sich in dem entsprechenden Referenzrahmen souverän orientierten und bewegten, je mehr sie sich mit ihren Denkkategorien sowie modi operandi diesem System fügten. Auch diese These wird mit besonderer Berücksichtigung der Krisen- bzw. Umbruchzeiten und mit Bezug auf die Trias Ständewesen – Adligkeit – Elitenwandel geprüft. Wird also auf die Kategorie „Anpassung“ rekurriert, so geschieht das – sei es wiederholt – mit jenem Verständnis, das dem Themenfeld der Integration, Assimilation und Akkulturation nahe steht, wobei hier eher auf den letzten dieser Begriffe Bezug genommen wird.16 Dies bedeutet, ← 24 | 25 → dass „Anpassung“ hier als ein handlungsrelevantes, mentales und lebensweltliches Element der Akkulturation des galizischen Adels in die Habsburgermonarchie verstanden wird, was alles andere als „Unterwerfung“ bedeutet und nur teilweise bzw. in bestimmten Aspekten als Integration beschrieben werden kann. Sicherlich ist „Anpassung“ im Sinne der Akkulturation in dem hier zur Diskussion stehenden Kontext als eine – nicht geradlinige – Annäherung an die politischen System- und Denkstrukturen, an die Lebenswelt und Kultur der habsburgischen Eliten zu verstehen. Allerdings geht es hier nicht nur um Beherrschung und „Domestizierung“, um Herrschaft und Kontrolle, und nicht nur um eine soziale Assimilation im Sinne der Integration, sondern zugleich auch um eine Arena, in der sich die „akkulturierten“ Gruppen eigene Aktionsfelder und Handlungsräume erschließen können. Es wird die These aufgestellt, dass eine solche Anpassung und Akkulturation, mit der die Annahme der galizisch-österreichischen Landes-, Staats- und Dynastieloyalität verbunden war, es den galizischen aristokratisch-adligen Eliten ermöglichte, eigenen spezifischen Interessen nachzugehen und eigene spezifische Perspektiven und Handlungen geltend zu machen. Anpassung und Akkulturation würden dann unter anderem nicht nur den Übergang in einen neuen politischen, kulturellen und rechtlichen Referenzrahmen bedeuten, sondern vor allem jene Form der Akzeptanz und Internalisierung dieses Referenzrahmens darstellen, die es ermöglichte, in ihm relativ sicher und effizient zu handeln – er bot den „gemeinsamen Nenner“, um eigene Interessen in einem System sinnvoll zu verfolgen. Dies hat allerdings eine grundsätzliche Konsequenz: Durch die Internalisierung und produktive Nutzung beteiligten sich auch die „akkulturierten Gruppen“ an der Gestaltung des Referenzrahmens, denn sie waren mehr oder weniger in der Lage, ihn zu beeinflussen, dessen ← 25 | 26 → Verständnis und Funktionieren mitzuprägen; nicht nur dann, wenn diese Gruppen die Elemente ihres Referenzrahmens zum eigenen Bedarf weiter verarbeiteten oder sogar pragmatisch-instrumental „beugten“. Möchte man das in der bourdieu’schen Systematik formulieren, so würde man in diesem Kontext vom Beitritt zum Feld sprechen, indem einerseits die dort herrschenden modi operandi und Spielregeln akzeptiert, ferner aber durch Praxisteilnahme und Strategieentwicklung weiter modifiziert werden. Vor diesem Hintergrund lassen sich dann nicht nur der Sinn, die Motivation, strukturelle Verankerung und Logik von Legitimation und Delegitimation, die in der vorliegenden Arbeit so bedeutsam sind, als zentrale Aspekte verstehen, sondern auch die historische Entwicklung interpretieren.17

2.2  Elite18

Die vorliegende Untersuchung verortet sich im Kontext der Verknüpfung der Adels- und der Elitenforschung der beginnenden Moderne. Im Folgenden werden einige konzeptionelle Überlegungen formuliert, um den elitengeschichtlichen Ansatz dieser Arbeit zu erläutern. Sie konzentrieren sich daher auf die thematische Verschränkung dieses Ansatzes mit der Adelsforschung. Es soll hier weder ein Forschungsbericht zum Thema Elitengeschichte noch eine kritische Darstellung der Elitenkonzepte vorgelegt werden.

Die Eliten sind in der Geschichtswissenschaft ähnlich wie in anderen Sozial- und Humanwissenschaften ein gängiges Wort geworden. Seine Benutzung variiert von einem eher unreflektierten Gebrauch als (vermeintliches) Synonym oder Metapher für verschiedene vorbestimmte Gruppen bis zu den Versuchen, den Begriff systematisch zu definieren oder Elitenkonzepte zu entwickeln, in denen versucht wird, Kulturformen oder Sozialformationen zu charakterisieren. So bewegt sich dieser Gebrauch zwischen der Annahme, der Ausdruck sei ausreichend explizit,19 und dem skeptischen Urteil, dass der Begriff außerhalb eines einzelnen Kontextes auf einer allgemeineren Ebene kaum konzeptualisierbar sei.

In der Tat würde man nach einem allgemein anerkannten Elitenbegriff vergeblich suchen. Auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht werden wenige Versuche unternommen, ein über den jeweiligen Forschungskontext hinausgehendes ← 26 | 27 → Elitenkonzept mit entsprechend gewagtem normativem Anspruch zu entwickeln. Man bedient sich des Wortes Elite, weil man darunter – je nach Zusammenhang – den frühneuzeitlichen oder modernen Adel, die herrschende Klasse (ruling class), die politische/administrative Elite eines Staates oder einer Gesellschaft, die patrizischen oder bürgerlichen Oberschichten einer Stadt, die Gebildeten/Intellektuellen quasi „selbstverständlich“ subsumiert und den nichtdefinierten Nicht-Eliten gegenüberstellt.20 In mehreren Fällen werden freilich Versuche unternommen, an diesen Beispielen die Funktion einer Elite zu thematisieren und konzeptionelle Überlegungen zur Elite zu formulieren oder solche Konzepte aus historiographischer Sicht zu reflektieren.21 Die Anzahl von Monographien, Sammelbänden und Tagungen, die sich mit Eliten oder verwandten Begriffen wie etwa Führungsschichten befassen und diese für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Kontext thematisieren, hat in den letzten zwei Jahrzehnten sogar bemerkenswert zugenommen. Allerdings kommunizieren solche Beiträge relativ wenig miteinander, so dass sie sich als eine komplexe thematische und methodische Ausrichtung in der Geschichtswissenschaft nur sehr begrenzt erkennen lassen. Allgemeine Fragestellungen, die die Problematik der Elitenbildung, des Elitenwandels und Elitenformationen an sich in den Mittelpunkt stellen und historisierend betrachten, bleiben eher die Ausnahmen.

Dies gilt auch für die Studien zu der historischen Epoche, von der die vorliegende Arbeit handelt. Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass – allerdings eher potentielle – Impulse in Richtung einer allgemeinen Historisierung des Elitenthemas nicht von der Geschichtswissenschaft, sondern von anderen Fächern (Soziologie, Sozialpsychologie, Politikwissenschaft, sogar Wirtschaftswissenschaft) ausgehen. Inspirierend sind etwa die Versuche von Wolfgang Zapf für die moderne deutsche Geschichte, und für die Habsburgermonarchie vor allem die konzeptionell durchdachte Forschung von Gernot Stimmer,22 obwohl sich beide auf politische und administrative Positionseliten und zum Teil auf vordefinierte Sozial- und Berufsgruppen beschränken. Dazu reihen sich in letzter Zeit weitere Einzelbeiträge ein.23

Details

Seiten
561
ISBN (PDF)
9783653069822
ISBN (ePUB)
9783653950755
ISBN (MOBI)
9783653950748
ISBN (Hardcover)
9783631671931
DOI
10.3726/978-3-653-06982-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Dezember)
Schlagworte
Polen Habsburgermonarchie Adel Aufklärung
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 561 S., 1 s/w Abb.

Biographische Angaben

Miloš Řezník (Autor:in)

Miloš Řezník ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau und Professor für Europäische Regionalgeschichte an der TU Chemnitz sowie Ko-Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Regionalität, Elitenwandel, kollektive Identität sowie die Funktionalität der Geschichte.

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Titel: Neuorientierung einer Elite
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