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Lexikon der Science Fiction-Literatur seit 1900

Mit einem Blick auf Osteuropa

von Christoph F. Lorenz (Band-Herausgeber:in)
©2017 Andere 636 Seiten

Zusammenfassung

Das Lexikon enthält Informationen über Biographie, Werkanalyse und bibliographische Angaben wichtiger Autoren der deutschsprachigen «Fantasy» und Science Fiction im 20. und 21. Jahrhundert. Überblicksartikel befassen sich darüber hinaus mit Fragen des Genres, deutscher Literatur vor und nach 1945, skandinavischen Werken seit 1900, osteuropäischen Werken und angloamerikanischer Fiktion.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Gesamteinleitung (Christoph F. Lorenz)
  • A. Überblicksartikel / Grundsätzliches
  • Vom Unmöglichen zum Vorstellbaren. Zum Unterschied zwischen dem „Phantastischen“ Genre und der „eigentlichen“ Science Fiction (Hans Esselborn)
  • Bilder aus der Zukunft und Unterhaltungsschriften à la Verne. Science Fiction, die noch nicht so hieß. Das Genre vor 1945 (Henning Franke)
  • Die Entdeckung des Unbekannten. Das phantastische Genre im geteilten Deutschland nach 1945 – Mit einem Ausblick auf magische Buchwelten und apokalyptische Motive in der Science Fiction-Literatur (Christoph F. Lorenz)
  • Skandinavische Science Fiction und Fantasy nach 1900 (Niels Penke)
  • Science Fiction in Osteuropa (Matthias Schwartz)
  • Kurze Geschichte der anglo-amerikanischen Science Fiction und Fantasy (Franz Rottensteiner)
  • B. Lexikonteil
  • a) Deutschsprachige Autoren
  • Alpers, Hans Joachim (Timo Rouget)
  • Amery, Carl (Christoph F. Lorenz)
  • Andres, Stefan (Christoph F. Lorenz)
  • Basil, Otto (Franz Rottensteiner)
  • Bialkowski, Stanislaus (Franz Rottensteiner)
  • Braun, Günter und Johanna (Erik Simon)
  • Daumann, Rudolf Heinrich (Franz Rottensteiner)
  • Del’ Antonio, Eberhardt (Karlheinz Steinmüller)
  • Döblin, Alfred (Meike Pfeiffer)
  • Dolezal, Erich (Franz Rottensteiner)
  • Dominik, Hans Joachim (Meike Pfeiffer)
  • Ernsting, Walter (Meike Pfeiffer)
  • Franke, Herbert W. (Hans Esselborn)
  • Freksa, Friedrich (Henning Franke)
  • Friedell, Egon (Franz Rottensteiner)
  • Frühauf, Klaus (Aysche Wesche)
  • Fühmann, Franz (Ulrich Blode)
  • Fuhrmann, Rainer (Karsten Kruschel)
  • Funke, Cornelia (Timo Rouget)
  • Gail, Otto Willi (Henning Franke)
  • Grunert, Carl (Julia Silberer)
  • Hahn, Ronald M. (Meike Pfeiffer)
  • Harbou, Thea von (Julia Silberer)
  • Hoffmann, Oskar (Henning Franke)
  • Hohlbein, Wolfgang (Timo Rouget)
  • Jeschke, Wolfgang (Franz Rottensteiner)
  • Jünger, Ernst (Nicolai Glasenapp)
  • Kafka, Franz (Marie-Luise Wünsche)
  • Kellermann, Bernhard (Aysche Wesche)
  • Kraft, Robert (Julia Silberer)
  • Kröger, Alexander (Hartmut Mechtel)
  • Krupkat, Günther (Franz Rottensteiner)
  • Kubin, Alfred (Martin Lowsky)
  • Laßwitz, Kurd (Henning Franke)
  • Lehr, Thomas (Timo Rouget)
  • Lorenz, Peter (Karsten Kruschel)
  • Mader, Friedrich Wilhelm (Henning Franke)
  • Müller, Paul Alfred (Heinz J. Galle)
  • Pestum, Jo (Timo Rouget)
  • Ransmayr, Christoph (Timo Rouget)
  • Rasch, Carlos (Hartmut Mechtel)
  • Rathenow, Lutz (Aysche Wesche)
  • Schätzing, Frank (Karoline Schmitt)
  • Scheer, Karl-Herbert (Ulrich Blode / Christoph F. Lorenz)
  • Scheerbart, Paul (Henning Franke)
  • Schilling, Waldemar (Henning Franke)
  • Schmidt, Arno (Martin Lowsky)
  • Sieg, Paul Eugen (Meike Pfeiffer)
  • Simon, Erik (Karlheinz Steinmüller)
  • Sjöberg, Arne (Karlheinz Steinmüller)
  • Steinmüller, Angela und Karlheinz (Karsten Kruschel)
  • Tuschel, Karl-Heinz (Karsten Kruschel)
  • Weise, Lothar (Erik Simon)
  • Weitbrecht, Wolf (Karsten Kruschel)
  • b) Osteuropäische Autoren
  • Einführung zu den osteuropäischen Autoren (Matthias Schwartz)
  • Adamow, Grigori (Matthias Schwartz)
  • Čapek, Karel (Holger Kuße)
  • Nachtrag zu Čapek, Karel (Christoph F. Lorenz)
  • Jefremow, Iwan (Erik Simon)
  • Lem, Stanisław (Jacek Rzeszotnik)
  • Martynow, Georgi (Matthias Schwartz)
  • Strugazki, Arkadi und Boris (Erik Simon)
  • C. Bibliographie
  • Bibliographie (Michael K. Iwoleit)

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Christoph F. Lorenz

Gesamteinleitung

1. Das „utopisch-phantastische“ Literaturgenre

Der aus Luxemburg gebürtige Ingenieur, Sachschriftsteller und Hobbyliterat Hugo Gernsback hätte es sich wohl nicht träumen lassen, als er im Jahre 1926 in den USA das Magazin „Amazing Stories“ begründete, dass damit der Beginn eines besonderen literarischen Phänomens eingeläutet wurde, das man heute weltweit als „Science Fiction“ bezeichnet. Die Kombination aus Science (Wissenschaft, vor allem im Sinne von „Naturwissenschaft“, heute auch „Gesellschaftswissenschaft“ – Social Sciences) und Fiction hatte allerdings Vorbilder im 19. und 20. Jahrhundert (die „Scientific Romances“ bei Edgar Allan Poe und um die Jahrhundertwende bei dem Engländer Herbert George Wells). Zur Genealogie der Science Fiction aus der Gattung der Utopie, der Sonderform der Robinsonade, des Mysterien- und Abenteuerromans des 18. bis 20. Jahrhunderts wird unter 2.) noch die Rede sein. Neu für Gernsback war, dass im Gegensatz zu früheren Magazinen, in denen er auch Horrorgeschichten veröffentlichte, Kriminal- und exotische Abenteuererzählungen, in „Amazing Stories“ allein das utopisch-technische Genre, die Vorform der ‚eigentlichen‘ Science Fiction, bedient wurde. Der Begriff hat seinen Ursprung vermutlich bereits 1851 in einem wissenschaftstheoretischen Essay des Briten William Wilson mit dem Titel „A little earnest book upon a great old subject“. Hier ging es Wilson allerdings nicht um Fiktion, um Erzählungen, sondern um populärwissenschaftliche Prosa mit auflockernden „Einsprengseln“. Gernsback, nach dem heute der bedeutende „Hugo Award“ für Verdienste auf dem Gebiet der Science Fiction und der wissenschaftlichen Phantastik bestimmt ist, war im Übrigen ein bedeutender Herausgeber und Anreger, aber kein wichtiger Autor. Sein 1911 in einem Magazin publizierter Roman „Ralph 124 C 41+“ (Buchausgabe 1925) enthält zwar die „Vorwegnahme“ mancher technischer Entwicklungen inklusive eines Menschenautomaten, kann aber eher nur als Kuriosum rezipiert werden. „Trivial“ wäre hier eine berechtigte Wertung.

Von der ‚eigentlichen‘ Science Fiction-Literatur strikt zu unterscheiden (was in der Forschung aber nicht immer so klar geschehen ist) wäre die Literatur des „Phantastischen“, die wiederum mit Märchen, Sagen und Legenden sowie mit der Geister- und Gespenstergeschichte (seit dem 18. Jahrhundert) Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede zu verzeichnen hat. Zur Nomenklatur sei darauf verwiesen, dass „Phantastik“ im osteuropäischen Sprachraum, aber auch etwa in der DDR bis zu ihrer Auflösung 1990, als weitgehend deckungsgleicher Begriff mit der Science Fiction in den USA, in England und den meisten Ländern Westeuropas verwendet wurde. Der russische Begriff dafür wäre „nautschnaja phantastika“ oder „wissenschaftliche Phantastik“.1

Von dieser besonderen Sprachregelung abgesehen, bezeichnet „phantastische Literatur“ die literarische Spielart, bei der das „Unmögliche“ in die Realität des Erzählten eindringt und sich Reales (je nach Definition) und „Phantasma“ miteinander vereinigen. ← 9 | 10 → Während das Märchen in einer „irrealen“ Wirklichkeit spielt, die aber ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und in sich konsequent ist (Magie, Tiere sprechen, Verwandlungs- und Gestaltzauber etc.) wird die phantastische Literatur von der Antike bis hin zum 21. Jahrhundert von einer „Spaltung“ zwischen empirischer Wirklichkeit und dem „Phantasma“ bestimmt, die in der phantastischen Erzählliteratur narratologisch gestaltet erscheint.2

In der Literaturwissenschaft gab und gibt es unterschiedliche Ansätze zur Definition des „Phantastischen“ in literarischen Werken. Im 19. Jahrhundert befassten sich Charles Nodier (1830) und Guy de Maupassant mit einer Definition des literarisch-phantastischen Genres, bevor Roger Caillois 1958 vom Begriff des „Ordnungskonflikts“ ausgehend sowohl den „ereignishaften Charakter des Phantastischen“ als auch (unter Umständen) subversive Züge des phantastischen Erzählens (Lyrik und Drama gelten der französischen Schule als wenig charakteristisch für das Phantastische, obwohl das absurde Theater (Ionesco, Beckett, Artaud, Hildesheimer etc.) auch phantastische Momente enthält), konstatierte.

Der in französischer Sprache schreibende bulgarische Literaturwissenschaftler und -theoretiker Tzvetan Todorov unternahm in „Introduction à la littérature fantastique“ (Paris 1970) den Versuch, die „Ordnungskonflikte“ des Phantastischen mit der Wirklichkeit näher zu definieren, indem der rezipierende Leser einbezogen wurde. Nach Todorov gibt es zwei Stufen des Phantastischen: das „Unheimliche“, das auf eine Sinnestäuschung oder eine Illusion zurückgeführt werden kann und sich im Moment der Erkenntnis relativiert, und – weitergehend – das „Wunderbare“. Beides führt in der Reaktion des Lesers zu einem „Erstaunen“ oder „Zögern“. „Das Fantastische ist eine Unschlüssigkeit, die der Mensch empfindet, der nur den Naturgesetzen verpflichtet ist und einem Ereignis gegenübertritt, das anscheinend übernatürlichen Charakters ist.“3

Die rein strukturalistisch-formalistische Betrachtungsweise Todorovs wurde etwa von dem Germanisten Peter Cersowsky relativiert.4 Cersowsky geht von Todorovs Konzept der „Unschlüssigkeit“ aus und versucht den Nachweis, das sich bei Kafka eine „Potenzierung evozierter Unschlüssigkeit als […] Gattungsmerkmal“ zeigt, d. h. als konstituierendes Moment des Phantastischen wird dieses vor allem als „narrative Struktur“ verstanden5. Von Wünsch ausgehend präzisierte der Schweizer Germanist Jan Erik Antonsen in seiner Habilitationsschrift („Poetik des Unmöglichen. Narratologische Untersuchungen zu Phantastik, Märchen und mythischer Erzählung“, 20076) die Bestimmungen des Phantastischen, indem er das „Phantasma“ erzähltheoretisch näher definierte und vom Märchen (einer in sich geschlossenen „Welt für sich“) und der mythischen Erzählung, die das „Wunderbare“ nicht abkoppelt von der irdischen Realität, sondern als supranaturalen „Überbau“ erlebbar macht, unterscheidet. Antonsen erprobt seine theoretischen Überlegungen an drei unterschiedlichen Versuchen ← 10 | 11 → des phantastischen Erzählens im 19. Jahrhundert, an Kleists Anekdote vom „Bettelweib von Locarno“, an Poes „The Facts in the case of M. Waldemar“ (1945) und an Prosper Mérimées romantischer Novelle „La Vénus d’Ille“. Antonsen demonstriert präzise und einleuchtend, wie bei Kleist das Thema der bloßen „Gespenstererscheinung“, bei Poe das Motiv des wissenschaftlichen und pseudo-wissenschaftlichen „Experiments“ (Mesmerismus) und bei Mérimée die „übernatürliche“ Erscheinung eines lebendig gewordenen Standbilds das „Unheimliche“ und Phantastische konstituieren und poetisch begleiten.

Befruchtend und wichtig für die Erforschung des Phantastischen in der Literatur waren auch die „Chronotopos“-Theorien des Russen Michail Bachtin in den 1930er Jahren. Ein „Chronotopos“ ist demnach ein zeitloser Erzähltopos, der für eine bestimmte literarische Gattung wirksam wird, in der Phantastischen Literatur etwa der Traum, das „Albtraumschloss“ oder „Gothic Castle“, auch der künstliche Mensch (oder Automat; E. T. A. Hoffmann, „Der Sandmann“, Gustav Meyrink, „Der Golem“). Dazu hat Markus May in seinem Werk „Die Zeit aus den Fugen. Chronotopen der phantastischen Literatur“ wichtige „Chronotopen“ des Phantastischen untersucht.7 In diesem Zusammenhang sei auch Michel Foucaults Theorie von der „Heterotopen“, den „realen Orten abseits der üblichen Öffentlichkeit“, den „espaces autres“ wie Friedhöfe, Irrenhäuser, geschlossene Anstalten, Bordelle erwähnt.8 Davon strikt unterschieden werden muss die Auflösung des Raum-Zeit-Kontinuums im ‚eigentlichen‘ Science Fiction-Genre.9

Nach 1949 hat sich für das phantastische Erzählgenre weitgehend der englische Begriff „Fantasy“ eingebürgert, laut „Oxford English Dictionary“ erstmals im Titel eines trivialliterarischen Magazins („Pulp Magazine“) dem „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ gebraucht. Ähnlich wie bei der ‚eigentlichen‘ Science Fiction gibt es auch „triviale“ und „paraliterarische Spielarten der Fantasy“ (s. Abschnitt 5.): Ich würde wegen des utopischen Potentials vieler „Fantasy“-Texte den Begriff „utopisch-phantastische Literatur“ für diese Variante des „Unmöglichen“ in literarischen Texten für geeignet halten.

Die „Fantasy“-Literatur ist bis heute entscheidend geprägt durch die Kombination einer „Anderswelt in mythischem Modus, die auf den globalen Sagenschatz rekurriert“10, wobei Johannes Rüster auf einen Aufsatz des Oxforder Mediävisten und Sprachforschers John R. R. Tolkien zurückgreift mit dem Titel „On Fairy Stories“ (1938, revidiert 1947). Tolkiens Buch „The Hobbit“ und die in den 1960er Jahren zum Welterfolg gewordene Trilogie „The Lord of the Rings“ erscheinen seit 1957 und gelten bis heute als Musterbeispiel für die Variante „Heroic Fantasy“ oder „High Fantasy“ des Utopisch-Phantastischen.

Tolkien hat in seinem dreibändigen Epos Märchen- und Mythenmotive miteinander vereint (von „Sagen“ würde man hier besser nicht sprechen) und eine ganze Reihe ← 11 | 12 → von Fabelwesen wie Orks und Oger (keltische Mythologie), Baummenschen (Ents, vergleichbar den Dryaden und ähnlichen Elementarwesen im keltischen Sprachbereich), Feen und Elben (im irischen Sprachbereich „sidhe“ genannt) als Repräsentanten des „Übernatürlichen“ vereint. Gandalf und Saruman sind Magier bzw. Druiden, die die gute („weiße“) und die böse („schwarze“) Magie repräsentieren. Das Motiv von den „Ringen der Macht“ gemahnt an Wagners „Ring der Nibelungen“ (trotz Tolkiens Protest), und die Kenntnisse des Oxford-Professors auf dem Gebiet der englischen und keltischen Mythologie und Märchenliteratur haben u. a. zu Runenschriften geführt, die Tolkien frei variierte nach germanischen und anglo-keltischen Vorbildern. Ohne Zweifel hat sich Tolkien auch von den Artusromanen sowie der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts inspirieren lassen. Sauron und sein Reich des Bösen spiegeln Hitler und das Dritte Reich wieder, die schmerzliche Rückkehr der Gefährten um Frodo in das „Auenland“ erinnert an den schwierigen Wiederaufbau Englands nach 1945. Ob die Tolkienische Geschichte gleichzeitig das „Ende des Zeitalters“ widerspiegelt11, mag offen bleiben. Auch ist vom Ende der Magie hier nur am Rande die Rede. Durch das Verschwinden des magischen Elements würde „middle-earth“ in seiner Kombination als Eutopie und „schwarze Utopie“ (Dystopie) seiner supranaturalen Elemente und des „Phantasmas“ beraubt werden. Immerhin stellt „Mittelerde“ nicht nur eine phantastische Welt dar, sondern auch den geschlossenen Gegenentwurf zur Realität der Jahre 1930–1965 und trägt somit die deutlichen Züge eines utopischen Weltentwurfs, anders als George R. R. Martins beliebter und für das Fernsehen („Game of Thrones“) verfilmter Zyklus „The Song of Ice and Fire“ (nach 1996), der kommerzieller angelegt ist, als die magische Phantasiewelt des Oxford-Professors.

Eine Spielart der „High Fantasy“ ist die „Heroic Fantasy“. In England wären hier die Werke des Ministerialbeamten Eric Rucker Eddison zu nennen, wie „The Worm Ouroboros“ oder die „Zimiamvia“-Trilogie, beginnend mit „Mistress of Mistresses“ (1935). Hier verknüpft Eddison eine magische Welt mit heroischen „Tjosten“ und Kämpfen um Macht und Einfluss. Zugleich schafft er eine „Parallelwelt“; sein Held Lessingham existiert sowohl in England nach 1920 als auch in der magischen-zeitlosen Welt Zimiamvias, die sich zugleich als früher literarischer „Diskurs“ lesen lässt, der sowohl von Homer und Sappho, von der französischen Poesie des 18. Jahrhunderts, aber auch von Baudelaire, dessen Gedicht „Le Balcon“ die Zeile von der „maîtresse des maîstresses“ entnommen wurde (Titel des ersten „Zimiamvia“-Bandes), beeinflusst erscheint. Vergleichbar mit Tolkien ist auch „The Well of the Unicorn“ (1938) des Amerikaners Fletcher Pratt, der altnordische Elemente mit denen des mittelalterlichen englischen Ritterromans verbindet. Als „Sword and Sorcery“ wird allgemein eine triviale Variante des „Heroic Fantasy“ benannt, die muskelbepackte Helden und „Supermänner“ mit Magie und Zauberei kombiniert (Robert E. Howards Zyklus um Conan, „The Barbarian“, mit Arnold Schwarzenegger trefflich trivial verfilmt). Fritz Leiber hat das Genre persifliert in „The First Book of Lankhmar“, als Einzelgeschichten erschienen seit 1935. Weitere Subgenres der Fantasy sind die „Dark Fantasy“, beeinflusst durch die „Gothic Novel“ des 18. und 19. Jahrhunderts und die „dystopische“ Science Fiction (Stephan R. Donaldsons Zyklus um „Thomas Covenant the Unbeliever, seit 1977). Hier spielen auch religiöse Motive eine Rolle; ist der „Covenant“ eigentlich der Bund Gottes mit dem Menschen im Alten Testament, so muss der Agnostiker Thomas Covenant ← 12 | 13 → ein verwundetes Land „heilen“. Die „Urban Fantasy“ schildert die Nachtseiten einer städtischen Zivilisation in der Nachfolge Eugène Sues und George Lippards („Die Quäkerstadt und ihre Geheimnisse“, 1844). Als „Urban Fantasy“ ist etwa Neil Gaimans Roman „Neverwhere“ (1996) zu bezeichnen. Ob die humoristisch-phantastischen Romane Terry Pratchetts in seiner „Discworld“, einem sehr heterogenen Romanzyklus, tatsächlich als „Social Fantasy“ gelten können, sei anheimgestellt. Eher handelt es sich um „Fantasy-Parodien“. Überhaupt ist zu beobachten, dass der Begriff „Fantasy“ seit etwa 1980 auch zahlreich als Werbebegriff für literarische Schöpfungen verwendet wird, die auf der Grenze zwischen utopisch-phantastischem Genre und ‚eigentlicher‘ Science Fiction angesiedelt sind, wie die märchenhaften Werke Patricia A. McKillips, der Zyklus „The Book of the New Sun“ von Gene Wolfe (um 1983) oder die zivilisationskritische „Helliconia“-Trilogie von Brian Aldiss (1982–1985), die als „Parallelwelt“ klar utopische Züge trägt sowie eutopische als auch dystopische. Leider wird bei der Vermarktung solcher Werke der Begriff „Fantasy“ leicht zum irreführenden „Werbeträger“ degradiert.

2. Utopie und Science Fiction

Das aus dem Griechischen entlehnte Wort „Utopia“ kann doppelte Bedeutung haben: ein fiktiver Ort, ein Staatswesen oder eine Gesellschaft mit „gutem“ Charakter (Eu-Topia), auch aber ein nicht existierender Ort (Ou-Topia). Frühe Utopien – etwa des nachmaligen Lordkanzlers Thomas Mores „Utopia“, der eine Insel mit aristokratischem oder obligatorischem demokratischen Staatswesen erfand (1516) – hat es viele mit ähnlichen Entwürfen unterschiedlichen Charakters gegeben: Francis Bacons (Theologe, Philosoph und Staatsmann) „Nova Atlantis“ von 1627 zeichnet eine fiktive Kolonie in der Südsee mit patriarchalischen Zügen, in der bereits bahnbrechende technische Erfindungen (wie das Unterwasserschiff) vorbereitet werden. Science Fiction war das freilich noch nicht, eher ein hermetisches „Gedankenprodukt“. Gleiches gilt für die „Civitas solis“ (1623) des Italieners Tommaso Campanella und die christliche Musterstadt von Johann Valentin Andreae „Christianopolis“. Bei Campanella hat das fiktive Staatsgebilde sozialistische Züge, bei Andreae ist es eine Art Theokratie.

Ohne Zweifel hat die Utopie die spätere Entwicklung der Science Fiction entscheidend beeinflusst. Darko Suvin, kroatischer Science Fiction-Theoretiker und langjähriger Professor für englische Literatur und Komparatistik in Montréal, hat aus der Fachliteratur über Utopie folgende Charakteristika herausgefiltert (Stand bis ca. 1970): Utopische Literatur beschreibt fiktive Staaten oder zumindest zusammengehörige Gemeinschaften, sie behandelt die Strukturen dieser fiktiven Staatsgebilde, drückt politische Theorien aus oder ist „das literarische Idealbild einer imaginären Staatsordnung“12.13

Suvin schlägt nun eine weitere, eigene Definition des Utopischen vor, nämlich: die Utopie als „verbale Konstruktion einer konkreten quasimenschlichen Gemeinschaft, in der die sozialpolitischen Einrichtungen, Normen und persönlichen Beziehungen nach einem vollkommeneren Prinzip geordnet sind als in der Gemeinschaft des Autors.“14 ← 13 | 14 → Suvin spricht hier – frei nach Brecht – von einer literarischen „Verfremdung“, „die sich aus einer alternativen historischen Hypothese ergibt“.15

Hinzuzufügen wäre den Theorien Herbrüggens und Suvins, dass der „Staatsroman“ (oder: die politische Utopie) nur eine Form utopischen Denkens und Schreibens ist. Es gibt auch soziale, ökologische, ökonomische, ja religiöse und theologische Utopien.16

Konstituierend für die Gattung der Science Fiction ist nach Suvin das „Novum“. Dieses Novum wird von Suvin als „seltsame Neuheit“ definiert17, die die Science Fiction-Dichtung von der „realistischen“ oder „naturalistischen“ Literatur unterscheidet durch „Verfremdung“, im erweiterten Sinne der Brechtschen Dramentheorie. Vom Phantastischen unterscheidet sich die Science Fiction-Literatur dadurch, dass sie „erkenntnisorientiert“ ist.18 Anders definiert: Die Science Fiction entwirft das Bild „einer Welt, die sich von der realen Gegenwart des Autors in zumindest einem Punkt fundamental unterscheidet“, wobei „solche Abweichungen u. a. technischer, naturwissenschaftlicher, medizinischer, sozialer Natur sein können“.19 Science Fiction, so gelesen, spielt entweder in einer mehr oder weniger genau definierten Zukunft oder „einer verfremdeten Gegenwart“.20 Dies reicht nicht aus, um das Phänomen Science Fiction in seiner ganzen Vielgestaltigkeit, von der „technischen“ über die „gesellschaftliche“ Variante, von den anglo-amerikanischen Formen wie „New Wave“ oder „Cyberpunk“ zu beschreiben, aber es mag eine erste Orientierung bieten. Jedenfalls ist Science Fiction keineswegs mit der negativen Utopie oder Dystopie gleichzusetzen, wie es manchmal in der Sekundärliteratur geschieht.

3. Brüche im Raum-Zeit-Kontinuum, Zeitreisen, Zeitsprung, „Alternative History“, Parallelwelten

Mit der Entdeckung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein im frühen 20. Jahrhundert haben sich unsere Vorstellungen von Zeit und Raum stark verändert. Auch in der Science Fiction-Literatur wurden Versuche unternommen, „Gegenwelten“ zu schaffen, die einen Alternativentwurf zu der bestehenden Welt darstellten. Viele solcher „Parallelwelten“ haben allegorischen Charakter, wie beispielsweise der Stern „Sitara“ in Karl Mays „Der Mir von Dschinnistan“, wobei die Zweiteilung dieser Literatur-Welt in das niedrig gelegene, kriegerische Ardistan und das friedliebende, „göttliche“ Dschinnistan gleichzeitig eine Menschheitsutopie des Verfassers widerspiegelt. In seinem Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“ schuf Robert Musil das fiktive „Kakanien“, weitaus mehr als ein „Abbild“ des „K. und K.“-Staates Österreich. Alfred Kubins Traumstadt „Perle“ ist dagegen weniger eine parallele Welt als vielmehr ein utopischer, teils dystopischer Gegenentwurf zur Realität der Jahre um 1923. Im Fantasy-Roman wird das Einbrechen einer „alternativen Welt“ in die „Hauptwelt“ der ← 14 | 15 → fiktiven Handlung manchmal als „Riss“ in der Weltfläche geschildert, wie in Raymond E. Feists „Magician“, dem ersten Teil einer Trilogie um zwei Reiche. Hier dringen im ersten Band plötzlich und unerwartet die Invasionsarmeen der zweiten Welt ein. Philipp Pullmans Trilogie „His Dark Materials“ (nach 1987) stellt mehrere solcher „Parallelwelten“ nebeneinander und verbindet die märchenhafte Handlung mit religiösen und mythischen Momenten (Erbsünde, Paradiesgeschichte des Alten Testaments).

Zeitsprünge und Zeitreisen sind ein wichtiger Motivkomplex des Science Fiction-Romans etwa ab 1940. Beliebt ist das Motiv der „alternativen Welt“, in der sich Zeitverläufe anders gestalten, als in der uns bekannten Welthistorie. Die Forschung spricht hier von „Parahistorischen Romanen“ (Jörg Helbig), in denen hypothetische Abweichungen vom faktischen Verlauf der Geschichte im Vordergrund stehen. Ebenso gebraucht wird der Terminus „Uchronie“ in Anlehnung an ein Konzept des Franzosen Charles Renouvier (1857)21, der den Begriff analog zur Utopie bildete. Ebenso wird heute gern der Terminus „Alternative History/Alternative Historie“ verwendet22.

Wie immer man die Erscheinung nennt: alternative Welten gehen davon aus, dass sich der Weltverlauf an einem bestimmten „point of divergence“ anders entwickelt hat, als uns bekannt. Ob durch eine von Leonardo da Vinci konstruierte Zeitmaschine das Schisma, die Glaubensspaltung, verhindert werden soll (Carl Amery, „Das Königsprojekt“, 1974) oder die Österreicher mit einem Süddeutschen Bund 1866 gegen Preußen siegen und sich dadurch ein ganz neues, demokratisches Staatsgebilde, die Leyermärkische Eidgenossenchaft, formiert (Carl Amery, „An den Feuern der Leyermark“), immer ist es ein Spiel mit der Historie, manchmal heiter-satirisch.

Weniger unernst sind die zahlreichen Fiktionen, in denen der Zweite Weltkrieg von Deutschland und seinen Verbündeten gewonnen wird. Besonders beeindruckend ist hier Philip K. Dicks Vision „The Man in the High Castle“, in der der Westen der USA mit Kalifornien von den Japanern besetzt und entsprechend kulturell „verändert“ wird, der Osten aber von Nazi-Deutschland, denn Theodore Roosevelt wird im Roman vor seiner zweiten Amtsperiode ermordet, und die USA können nicht in den Krieg eingreifen. In der Mitte der Vereinigten Staaten lebt ein Schriftsteller namens Hawthorne Abendsen (eine Mischung aus Nathaniel Hawthorne, dem Pionier des „Phantastischen“, und Oswald Spenglers düsterer Prophezeiung vom „Untergang des Abendlandes“), der ein Buch namens „The Grashopper Lies Heavy“ geschrieben hat, das sich dem chinesischen „I-Ging“ verpflichtet fühlt und den Sieg der Alliierten über die „Achsenmächte“ voraussagt.

Dick kombiniert mehrere komplexe Handlungsstränge miteinander und inszeniert ein Spiel wechselnder Identitäten. „The Man in the High Castle“ wurde 1963 geschrieben und reflektiert sowohl Dicks Kriegserlebnisse bei Monte Cassino als auch die Jahre nach 1960 (Kalter Krieg und Kuba-Krise) im „alternativen“ Stil.

Nicht ganz so differenziert ist der Roman „The Sound of His Horn“ (1952) des Briten John W. Wall (Pseudonym Sarban), in dem ein englischer Kriegsgefangener durch einen Wald in eine „Alternativwelt“ gerät, in der ein sadistischer deutscher Graf Menschen jagen lässt wie Wild. Satirisch-bizarr gibt sich der erste längere „Alternative History“-Roman in deutscher Sprache des Österreichers Otto Basil „Wenn das der Führer wüsste“ von 1966. Hier ist die Hauptfigur ein Nazi, der in einer von Hitlers ← 15 | 16 → Ideologie besetzten Welt lebt: Juden gibt es hier nur noch im Zoo. Eine Kombination aus „Alternativwelt“ und Detektivgeschichte schuf Len Deighton 1978: „SS-GB“ mit dem Untertitel „England unter deutscher Herrschaft 1941“. Im Wesentlichen geht es um die Mordermittlung in Gestapo-Kreisen, ähnlich wie bei Robert Harris „Fatherland“ (1991), der durch den Plot vom deutschen Sieg im Zweiten Weltkrieg Aufsehen erregte, doch nur eine ganz übliche Spionage-Thriller-Geschichte bietet, wenn auch in Science Fiction-Form.

4. Magie, Religion, Technik im Science Fiction-Genre

Die Entstehung der Literaturgattung Science Fiction hat gewiss auch mit der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts zu tun, mit der Erfindung der Dampfmaschine durch Watt, mit Eisenbahn und anderen technischen Entwicklungen. Jules Verne, der Visionär „außergewöhnlicher Reisen“ etwa nach 1860, setzte den technischen Möglichkeiten seiner Zeit noch eine Reihe berühmter Ideen an die Seite, von der Mondrakete bis zum U-Boot, von Wunderwaffen über den dampfgetriebenen „Stahlelefanten“, der eine Gruppe Europäer durch Indien kutschiert, von Roburs Luftschiff bis zu den grauenvollen Zukunftsstädten der Mission Barsac, eines nachgelassenen Romans (Blackville). War Verne erst der Apologet geographischen und technischen Fortschritts, so wandelte er sich zum Skeptiker, vor allem in seinen späten und posthumen Werken. Herbert George Wells begann als Schüler des Biologen und Evolutionsforschers T. H. Huxley und als Darwinist. In seinen utopischen und Science Fiction-Schriften sahen seine Erkenntnisse bitterer aus. „The First Men in the Moon“ (1902) beschäftigt sich weniger mit der Technik der Mondlandung oder dem erfundenen Stoff „Cavorit“, aber vielmehr mit den Unterschieden zwischen der Mondbevölkerung und dem Erdmenschen. „The War of the Worlds“ ist nicht nur ein Invasions- und Katastrophenroman, sondern auch eine Geschichte von der Begegnung verschiedener Rassen und Zivilisationen. In „The Time Machine“ (1895), einem frühen hellsichtigen Wells-Werk führt die Zeitmaschine den Forscher in unterschiedliche Zeitebenen; H. G. Wells schildert aber auch die Geschichte einer kulturellen und biologischen Devolution von den „Eloi“ über die Krebse bis zur Auflösung der Erde in der Sonnenfinsternis-Episode, kunterbunt durcheinander gemischt und einigermaßen anti-darwinistisch. Man hat besonders der modernen Science Fiction nach 1920 vorgeworfen, technikbesessen und technologieverliebt zu sein; ebenso lassen sich aber auch eine Technikverdrossenheit, Technikskepsis und pessimistische Zukunftsprophezeiungen aus dieser Literatur entnehmen (etwa bei John Brunner, „Stand on Zanzibar“, 1969, einer phantastischen Collage mit dystopischem Akzent).

Seit etwa 1945 traten die neuen Computerwissenschaften und insbesondere die von dem Mathematiker Norbert Wiener begründete Kybernetik in den Mittelpunkt des Interesses vieler Science Fiction-Autoren. Ordnung und Kontingenz, zwei grundlegende Grundformeln der Kybernetik, spielen auch in moderner Science Fiction-Literatur eine wichtige Rolle.23 Das alte Thema des künstlichen Menschen (Mary Shelley, „Frankenstein“) und des menschenähnlichen Automaten fand nach 1940 einen Widerhall in den Roboterromanen Isaac Asimovs. ← 16 | 17 →

Die Rolle der Religion in den Welten der Science Fiction ist durchaus nicht marginal; Walter M. Miller Jr.’s berühmte Chronik einer Welt nach dem atomaren „Fallout“ („A Canticle for Leibowitz“) ist die Geschichte eines fiktiven Ordens, der Mönche von St. Leibowitz, die ihrerseits aus alten Zeugnissen die Vorgänge vor der Nuklearkatastrophe rekonstruieren und neue Blütezeiten der Menschheit voraussagen. Nach drei Phasen des Aufstiegs beginnt aber eine Art kulturelle „Rückentwicklung“ frei nach Giambattista Vicos „ricorso“. Religiöse und orientalische Erkenntnisse beeinflussten auch Frank Herberts Fabel vom Wüstenplaneten „Arrakis“ („Dune“, 1963, mit zahlreichen Fortsetzungen). Eher spielerisch sollen in Carl Amerys „Das Königsprojekt“ (1974) behelfs einer Zeitmaschine die Reformation und damit die Glaubensspaltung verhindert werden.

Die Macht der Magie, der Religion weitgehend entgegengesetzt, spielt nicht nur in der Fantasy eine wichtige Rolle. Lyon Sprague de Camp und Fletcher Pratt schufen nach 1940 ihren „Harold-Shea“-Zyklus „The Mathematics of Magic“, in dem beides, Magie und Naturwissenschaft, auf humoristische Weise verbunden wird. Leider verraten die Autoren die magischen Formeln, mit deren Hilfe Harold Shea in das alte Island und an König Artus Hof reist, nicht.

5. Science Fiction, Trivialliteratur, Paraliteratur, Metaliteratur – oder bloß reaktionär?

In der neueren Sekundärliteratur (seit etwa 1970) wird immer wieder kontrovers über die Einordnung der Science Fiction im „literarischen Kanon“ diskutiert. Im Sinne des alten „Schichtenmodells“ (Hochliteratur – niedere Literatur) subsumieren manche Forscher die Science Fiction (und Fantasy) schlicht unter „Unterhaltungs“- bzw. „Trivialliteratur“. Ein typischer Vertreter dieser Meinung ist Olaf R. Spittel, der in seinem Buch „Science Fiction in der DDR. Bibliographie“ die Ansicht vertritt: „Futurologische Aspekte hat die SF nicht. […] Ihr fehlt jede Möglichkeit eines Blicks für die Zukunft. […] Kurz: Science Fiction ist eine Form der Unterhaltungsliteratur, die klassische Abenteuermuster in einem verfremdeten, phantastischen Rahmen durchspielt […]“24.

Solche Definitionen, auch wenn sie von einem renommierten Kenner der (DDR-)Science Fiction kommen (und Olaf R. Spittel hat ja auch selbst Beiträge zu dieser Gattung geliefert, die sehr interessant sind), greifen zu kurz. Kein Zweifel: in die moderne Science Fiction-Literatur sind Motive und Darstellungsweisen des Abenteuerromans, des Mysterienromans und der Robinsonade als Sonderform der utopischen Literatur eingegangen (das Dasein auf einer einsamen Insel als soziales und gesellschaftliches Experiment, mit religiösen bzw. puritanischen Zügen bei Daniel Defoe, „Robinson Crusoe“, 1719, oder mit dem Charakter eines am Picaro-Roman und am „höfischen Barockroman“ geschulten Experiments, das unterschiedliche Lebensläufe zu einem Utopie-Roman mit christlich-protestantischen Akzenten und belehrendem Charakter zusammenführt, bei Johann Gottfried Schnabel („Wunderliche Fata einiger Seefahrer […]“, Nordhausen 1731), mit drei Fortsetzungsbänden, die freilich immer „abenteuerlich-phantastischer“ werden) und zu einem neuen Erzähl-Ganzen vermischt. „Trivialliteratur“ ist das nicht, wie ohnehin das Schema einer „hohen“ Literatur (Hochliteratur) und einer „niedrigen“ ← 17 | 18 → oder „trivialen“ Literatur seine Ursprünge im 18. und 19. Jahrhundert hat und spätestens mit den sozialen und politischen Wandlungen nach 1918 „erledigt“ war.25

Unter dem Einfluss der in den 1970er Jahren hochaktuellen „Trivialliteraturforschung“ erschien 1970 bei Hanser in München ein provokatives Buch von Michael Pehlke und Norbert Lingfeld, „Roboter und Gartenlaube. Ideologie und Unterhaltung in der Science-Fiction-Literatur“. Die beiden Autoren, Wortführer einer radikal-marxistischen Germanistik in der Nachfolge der 1968er „Denkrevolution“, sahen in der Science Fiction grundsätzlich das Vehikel einer US-Ideologie, die kapitalistische Verhältnisse beschönigt und die Lösung von gesellschaftlichen Problemen in der Technisierungg, ja Technik-Anbetung sieht. „In der zeitgenössischen Science Fiction hat sich der bürgerliche Fortschrittsglaube, dem technische und gesellschaftliche Entwicklung […] noch identisch waren, vollends seiner Hoffnung entäußert.“26 Entsprechend dieser Prämisse und ihrer Absicht, dem „Trommelfeuer der Science Fiction-Ideologie“ entgegenzutreten27, wird Science Fiction bei den marxistisch „ideologiefesten“ Germanisten Pehlke/Lingfeld zum Nachfolger bürgerlicher „Beruhigungs- und Beschwichtigungsliteratur“ à la „Gartenlaube“. Dass auch in der Familienzeitschrift des 19. Jahrhunderts manchmal „fortschrittliche“ Tendenzen sichtbar wurden (etwa bei Eugenie Marlitt, die Ansätze weiblicher Emanzipation erkennen lässt), unterschlägt das Autorenduo Pehlke/Lingfeld ebenso wie die Tatsache, dass die von ihnen untersuchte amerikanische und deutsche Science Fiction im Wesentlichen dem Segment der „Massenliteratur“ zuzuordnen ist und sich auf populäre Anthologien wie „Galaxy“ und „Utopia“ stützt. „Literarisch anspruchsvolle“ Science Fiction kommt bei Pehlke und Lingfeld kaum zum Zuge; stattdessen weiden sich die beiden „Liniengetreuen“ daran, die (militaristischen und imperialistischen) Schwächen der Romane von Alfred Elton van Vogt, Poul Anderson oder Robert A. Heinlein aufzudecken. „Krawall im All“ ist aber keine wirklich dominante „Spielart“ der Science Fiction. Dystopische Entwürfe wie Samjatins’ „Wir“, Aldous Huxleys’ „Brave New World“ mit ihrer Kritik am naturwissenschaftlichen Fortschrittsglauben und besonders Orwells’ „1984“ wurden von Pehlke und Lingfeld gnadenlos denunziert als „Machwerk“ in Bezug auf Samjatins „Wir“, als „antikommunistisches Pamphlet“.28 Die Abrechnung des ehemals überzeugten Sozialisten Blair alias Orwell mit dem ideologischen Sozialismus wurde denunziert oder als „süffisanter Pessimismus“ – gemeint ist Huxleys’ brillant-satirische „Brave New World“ – abgewertet.29

Solche hilflos voreingenommenen Deutungsmuster lassen ahnen, dass die Autoren Pehlke und Lingfeld die Science Fiction tatsächlich einerseits nur als triviale Kapitalismusideologie begriffen (weil sie sich vor allem auf die Science Fiction-„mainstream“-Literatur stürzten) und dass sie andererseits bequemerweise Samjatin, Orwell und Huxley missverstanden, indem sie ihre Bücher einseitig-marxistisch (oder gar nicht) lasen. ← 18 | 19 →

Sehr viel weiter kommt man (statt mit der „Trivialliteratur“-Prämisse) damit, Science Fiction und die religiös-mythische „Fantasy“ eines Clive Staples Lewis („Ransom“-Trilogie, der Zyklus „The Children of Narnia“ aus den 1950er Jahren) als „Paraliteratur“ zu verstehen, wie es Hans-Joachim Schulz tut.30 Oder ist Science Fiction mit ihrer intrikaten Gattungsmischung vielleicht eine Art „Metaliteratur“, die andere Literaturformen in Form eines innerliterarischen Diskurses kommentiert?31

6. Der Science Fiction-Autor in seinem sozialen Umfeld, soziale und ökologische Utopien sowie Weltentstehungstheorien in der Science Fiction

Auch die Autoren von Science Fiction-Welten, ob nun zukunftsgewandt oder an der jeweiligen Gegenwartswelt orientiert, leben nicht unabhängig von den sozialen und gesellschaftlichen Gegebenheiten ihrer Zeit. Jules Verne (den man meistens als „technokratischen“ Konservativen beschreibt) wurde gegen Ende seines Lebens so technoskeptisch, dass er in Amiens für eine eher links-demokratische Bewegung kandidierte. Überhaupt vereint sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts utopisches Science Fiction-Schreiben und -Dichten mit den vorherrschenden Sozialutopien der Zeit. Der Amerikaner Edward Bellamy („Looking Backward 2000–1887“, 1888 erschienen) verknüpfte seine Utopie von einer besseren, sozialistisch-demokratischen Zukunft mit der Vision einer von Maschinen unterstützten Welt. Auch der Fabrikbesitzer, Designer, Poet, Christ und Sozialutopiker William Morris entwarf in seinem ein Beispiel setzenden Werk „News of Nowhere“ (etwa „Nachrichten aus dem Nirgendwo“ oder „Kunde vom Nirgendwo“, 1890) die Vision einer christlich-sozialistischen Utopie, in der ein technischer Materialismus durch Geistigkeit bekämpft wird. Morris schuf auch zwei Fantasy-Werke mit pazifistischen und sozialutopischen Gedanken, „The Well at the End of the World“, eine Vision von der Quelle des ewigen Friedens, sowie in seinem Todesjahr 1896 das Buch „The Sundering Flood“. Morris verwirklichte seine sozialistischen Gedankenexperimente in seiner englischen Fabrikniederlassung, wo er den Kapitalismus zu überwinden hoffte.

Überhaupt sind Science Fiction-Autoren oft nicht nur nah an den technischen Entwicklungen ihrer Zeit, sondern auch an deren gedanklichen Verirrungen. Friedrich Freksa schuf 1931 einen utopischen Roman, „Druso - die gestohlene Menschenwelt“, voller rassistischer und nahezu faschistoider „Anklänge“, wobei es u. a. um nichts Geringeres als die Vernichtung der „gelben Rasse“ und „minderwertiger“ Menschen geht. Paul Alfred Müller, wie viele Autoren seiner Zeit, ursprünglich Gewerbelehrer, schrieb in den 1930er Jahren zwei sehr erfolgreiche Heftromanserien, „Sun Koh, der Erbe von Atlantis“ und „Jan Mayen“. Geht es in „Sun Koh“ vor allem um einen Nachkommen des legendären atlantischen Reiches, der in die moderne Welt „fällt“, so will Jan Mayen mit Hilfe seines Vaters, eines erfinderischen Professors, und einer Anzahl „utopischer“ Techniken vom Fluggerät bis zu dato unbekannten Strahlen (von der „Gedankenlesemaschine“ bis zu moderner Agrikulturtechnik und einem gigantischen Sonnenspiegel), nichts Geringes als die Enteisung Grönlands in die Wege leiten, um ← 19 | 20 → das verlorengegangene „Thule“ „wiederzubeleben“ (1935–1939 beim Bergmann Verlag in Leipzig erschienen). Neben interessanten technischen Ideen sind die frühen Heftromanserien Müllers nicht ganz frei von rassistischer und „germanischer“ Ideologie. Nach dem Krieg wandte sich Müller vor allem Katastrophenromanen und der Propagierung der „Hohlwelttheorie“ des Ingenieurs Johannes Lang zu, wonach wir auf der Erde auf der Außenseite einer Hohlkugel leben, in deren Inneren die Sonne und die anderen Planeten liegen. Manfred Nagl, der 1975 die Science Fiction-Literatur ideologiekritisch betrachtete, warf der Science Fiction vor, besonders anfällig für radikale Theorien, für Faschismus und Rassismus zu sein (was denn vielleicht auch übertrieben daherkam). Nagl stellte auch fest, dass ein Großteil der Science Fiction-Leserschaft dem „begüterten“ Bürgertum angehöre; diese Ansicht hat sich längst, im Zeichen der Science-Fiction-Massenproduktion, relativiert32.

Betrachtet man die „bürgerlichen“ Berufe der Science Fiction-Autoren in DDR und BRD, so fällt auf, dass viele DDR-Autoren erst technische und naturwissenschaftliche Ausbildungen vom Textilarbeiter über den Maschinenbauer, vom „Markscheider“ im Bergbau bis zum Diplomphysiker begannen. Auch in der BRD fanden sich auffällig viele Naturwissenschaftler (wie Herbert W. Franke oder Wolfgang Jeschke) oder auch Lehrer (P. A. Müller, Gudrun Pausewang) und Journalisten bzw. Reporter wie Jo Pestum (oder der Redakteur und Anreger zahlreicher Science Fiction-Projekte, Walter Ernsting). Der gelernte Diplomphysiker Karlheinz Steinmüller, der mit seiner Frau Angela bedeutende Science Fiction in der DDR schrieb, arbeitet heute – entgegen der voreingenommenen Ansicht Olaf R. Spittels – auch als Futorologe (Zukunftsforscher).

7. Publikationsformen der Science Fiction

Seit den 1920er Jahren waren Magazine und Hefte, oft „Pulp Magazines“ genannt, ein Hauptpublikationsort für meist „triviale“ Science Fiction. Hugo Gernsback gab seit 1926 seine „Amazing Stories“ heraus; John W. Campbell Jr., einer der Hauptautoren von „Amazing Stories“, übernahm 1936 die Magazinpublikation „Astounding“ und führte sie seit 1939 zu erstaunlichen Erfolgen. In den späten 1940er Jahren ging Campbell dann zu der Pseudowissenschaft (in den USA heute als „Religion“ anerkannt) der „Dianetik“ über, die er als universale Heilmethode pries. Der „spiritus rector“ der Dianetik war L. Ron Hubbard, selbst „Astounding“-Autor, der dann die „Scientology“-Bewegung gründete.

In Deutschland wurden in den 1930er Jahren die Heftromanserien „Sun Koh“ und „Jan Mayen“ von P. A. Müller große Erfolge, trotz manchmal bedenklicher Tendenzen. Müller schrieb „Jan Mayen“ unter dem nordisch klingenden Pseudonym „Lok Myler“ (also der Ase Loki plus „Müller“ alias Myler). Seit 1961 schuf ein Team um Karl Herbert Scheer beim Moewig-Verlag die Heftromanserie „Perry Rhodan, der Erbe des Universums“, eine reichlich unwahrscheinliche Geschichte um den hochintelligenten, skrupellosen und von einem Team hochgezüchteter Mutanten mit allerhöchster Intelligenz ausgestatteten Deutsch-Amerikaner Perry Rhodan, der in der Serie bald zum universalen „Supermann“ aufstieg. Andere Serienschöpfungen wie „Atlan“ oder „Rhon Dark“ konnten an den Megaerfolg des Perry Rhodan nicht anknüpfen, auch ← 20 | 21 → nicht Scheers eigene „ZBV“-Serie um ein „Team“ intelligenter Mutanten-Agenten namens Thor Konnat und Hannibal Utan. Der „Thor“ verrät, dass auch 1957 noch „altnordisches Heldentum“ en vogue war. Dass „Perry Rhodan“ permanent unter Faschismus- und Militarismus-Verdacht stand und heute noch steht, hat nicht nur mit der Vorliebe Karl Herbert Scheers für „Geballer im All“ zu tun.33

Neben Magazinen und Heftromanen wurde Science Fiction in Deutschland vor allem in Buchform, in den 1950er Jahren auch als Leihbücher, publiziert.

In der DDR war es ähnlich. Science Fiction, die dort „wissenschaftliche Phantastik“ hieß, erschien in Spezialzeitschriften, Büchern und Romanheften sowie in von Fans hergestellten Zeitschriften, sogenannten „Fanzines“ (in den USA auch als „Fandoms“ bezeichnet), die außerdem dem Austausch von Nachrichten und Ansichten zur Science Fiction dienten.34

Seit den späten 1990er Jahren nutzten Autoren den Computer, speziell das Internet, zu neuartigen Publikationsformen von Science Fiction (und der dazugehörigen Sekundärliteratur): vom „Cyberpunk“ zur „Cyberpublikation“.

8. Ästhetik der Science Fiction

Begreift man Science Fiction im Sinne der Definition von Hans-Joachim Schulz (1986) als „Paraliteratur“, so werden die besonderen Chancen (und Risiken) einer spezifischen Ästhetik der ‚eigentlichen‘ Science Fiction deutlicher. Durch ihre Offenheit gegenüber Zukunfts- (und Gegenwarts-)Utopien, ökologischen und ökonomischen Ideen („Spieltheorie“) öffnet sich das Genre in besonderem Maße für literarische Experimente und zukunftsweisende neue Techniken. Hier sei die Collagentechnik des Science Fiction-Modells von John Brunner („Stand on Zanzibar“, 1969, „The Jagged Orbit“, 1969, u. a.), der „Cyperpunk“ eines William Gibson genauso genannt wie die formalen und inhaltlichen Experimente des amerikanischen Autorengespanns Larry Niven und Jerry Pournelle („The Mote in God’s Eye“, 1974, sowie der experimentelle Katastrophenroman „Lucifers Hammer“, 1977) und die Arbeiten von China Miéville („The City and the City“) oder William Gibsons und Bruce Sterlings „Steampunk“-Roman „The Difference Engine“ (1990). Im Kontrast zu den „Cyperpunk“- und „Steampunk“-Experimenten der 1980er- und 90er Jahre stand der „Retrofuturismus“ eines Tim Powers („The Anubis Gates“ ist eine phantastische Vision vom Einbruch der altägyptischen Mythologie – und speziell des Gottes Anubis – in die Welt des 19. Jahrhunderts in England), fokussiert um die Gestalt des romantischen Poeten Samuel Taylor Coleridge. In diesem Sinne ist auch K. W. Jeters „Infernal Devices“ zu nennen. Herrschte in der deutschen Literaturkritik der Jahre um 1970 die Vorstellung, Science Fiction sei sowohl reaktionär eingestellt als auch primitiv geschrieben, so belegen Peter Stockwells Stilanalysen von Leseproben eines Roger Zelazny, John Brunner oder Ray Bradbury etwas ganz anderes.35 Wer weiß, wo die stilistische und ästhetische Zukunft der Science Fiction liegt – vielleicht in der ← 21 | 22 → Nähe von Günter Herbergers „Die Augen des Kampfes“, obwohl keine ‚eigentliche‘ Science Fiction.

9. Deutschland und die Welt – Zur Konzeption des vorliegenden Buches

1980 erschien das zweibändige „Lexikon der Science Fiction Literatur“, von Alpers, Fuchs, Hahn und Jeschke herausgegeben bei Heyne in München (einbändige, erweiterte und aktualisierte Neuauflage in einem Band, 1988). Trotz mancher kleiner Patzer (Gisbert Haefs wird in der Ausgabe von 1988, S. 511, als „österreichischer Autor“ bezeichnet, tatsächlich wurde er in Wachtendonk am Niederrhein geboren und lebt in Bonn-Bad Godesberg) gibt das Lexikon gute Übersichten. Ein weiteres Lexikon dieser Art edierte der Niederländer Rein A. Zondergeld. 2013 erschien dann das epochale „Phantastik“-Handbuch von Hans-Richard Brittnacher und Markus May bei Metzler in Stuttgart: hier geht es aber nicht nur um die ‚eigentliche‘ Science Fiction, sondern auch um die Spielarten des „Phantastischen“ in vielen Ländern und Sprachen, von der Antike bis zur Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Der Anspruch des vorliegenden Buches ist ebenfalls interdisziplinär. Unter der Prämisse, dass die Welt Europas durch die Wiedervereinigung 1990 und die Veränderungen in Osteuropa größer geworden und enger vernetzt ist, schien es notwendig, einen Blick auf die (durchaus vielgestaltige) Science Fiction und „Wissenschaftliche Phantastik“ in Osteuropa zu werfen. Dies geschieht durch einen großen Überblickartikel von Matthias Schwartz sowie in Gestalt eines eigenen Lexikonteils zu russischen, tschechischen und polnischen Autoren der Phantastik und Science Fiction. Adamov war ein bedeutender Autor der Periode nach 1940 mit seinen auch für die Jungend bestimmten Science Fiction-Geschichten, Jefremow und Martynow repräsentierten die „Tauwetter“-Periode nach Stalins Tod 1953 mit ihren kommunistischen Utopien „Andromedanebel“ (Jefremov) und „Erbe der Phaetonen“ (Martynow). Hier wird auch der Wunsch nach Völkerverständigung und Versöhnung literarisch ausgedrückt. Die Brüder Strugazki begannen als Satiriker und vielschichtige Symboliker der Science Fiction und entwickelten diese Literatur weiter. Karel Čapek hat mit seinen Dramen und Prosawerken („W. U. R.“, „Der Krieg mit den Molchen“, „Krakatit“, „Die Sache Makropoulos“) die Entwicklung des Genres in den 1920er Jahren entscheidend gefördert und der Welt den Terminus „Roboter“ geschenkt. Stanisław Lem war ein ebenso einflussreicher Theoretiker (und Kritiker der „Phantastik“-Theorie Todorovs) wie ein satirischer, geistreicher Schriftsteller. Sein Roman „Solaris“ von 1961, in dem es um die Begegnung mit einer extraterrestrischen Lebensform, einem gallertartigen Meer, geht, gehört zu den unbestrittenen Science Fiction-Klassikern aller Zeiten. Selbstverständlich wäre das Lexikon für Osteuropa um noch mindestens 30 Artikel erweiterbar, von Brabenec, Veselý (Tschechien) über den Polen Adam Wisniewski-Snerg („Das Evangelium nach Lump“, 1974, eine Art Kontra- oder Alternativevangelium) bis hin zum Ungarn Péter Zsoldos („Die Rückkehr der Viking“, 1963) mit der Geschichte einer katastrophal missglückten Weltraumexpedition. Der Umfang eines einzelnen Lexikonbandes verbietet uns solche Erweiterungen. Auch das deutschsprachige Lexikon hat seine Grenzen gefunden. So wurden Autoren im Grenzbereich zwischen Phantastik und Science Fiction nicht behandelt: Andreas Eschbachs märchenhafter Erzählroman „Die Haarteppichknüpfer“ von 1995, die postmoderne Tetralogie „Baracuda der Wächter“ von Gisbert Haefs, 1986, mehr „Fantasy“ und postmoderne „Mysterie“ frei im Stil eines José Luis Borges, aber auch die Dystopie ← 22 | 23 → „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ des Schweizers Christian Kracht (2008), die Vision einer Schweizer Sowjetrepublik in Ostafrika (weil Lenin hiernach in der Schweiz blieb, statt im verplombten Waggon nach Russland zu fahren), die am Ende dem Untergang geweiht ist, auch dies ist mehr „phantastische Dystopie“ als „wirkliche“ Science Fiction. Die „Weltuntergangsgeschichte“ „Die Wolke“ von Gudrun Pausewang (1988), im Gefolge von Tschernobyl entstanden, musste ebenso weggelassen werden wie andere Bücher der Kinder- und Jugendliteratur mit Science Fiction-Hintergrund. Dafür enthält „unser“ Lexikon wichtige Informationen über Autoren vor 1945 wie Mader, Hoffmann, Grunert, Schilling, Gail und den noch in den 1950er Jahren vielgelesenen Paul Eugen Sieg – und füllt auch insofern eine Lücke.36

Auf eigenständige Monographien zur Science Fiction-Geschichte37, zu „Alternativwelten“ in der Literatur des späten 20. Jahrhunderts38 und zu „Science Fiction für Macher und Leser“39 sei ergänzend hingewiesen.

DANK gilt vor allem meinen Mitarbeitern. Besonders zu nennen sind hier Prof. Dr. Heiko Hartmann von der „Hochschule für Wirtschaft, Technik und Kultur“ in Leipzig, der die Konzeption des Buches – inklusive der Osteuropa-Komponente – 2005/2006 mit erarbeitete, mein älterer Kollege Prof. Dr. Hans Esselborn, Köln, Dr. Matthias Schwartz und Erik Simon (Dresden) als Kenner osteuropäischer Science Fiction sowie Aysche Wesche (Berlin), die ebenso Korrektur las wie der unermüdliche Endredakteur Christopher Dröge (Köln).

Köln, im Frühjahr 2016

Prof. Dr. Christoph Lorenz


1 Schwartz, Matthias: Die Erfindung des Kosmos, Frankfurt/M. u. a. 2003, S. 12 ff.

2 Antonsen, Jan Erik: Poetik des Unmöglichen, Paderborn 2007, S. 208 ff.

3 Todorov, Tzvetan: Introduction, S. 29 [Übersetzung von CFL].

4 Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts: Untersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen und zur Tradition der „schwarzen Romantik“ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubin und Franz Kafka, München 1994.

5 Wünsch, Marianne: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890–1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991.

6 Antonsen, Jan Erik: Poetik des Unmöglichen.

7 May, Markus: Die Zeit aus den Fugen. Chronotopen der phantastischen Literatur. In: Ruthner, Clemens u. a. (Hrsg.): Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur, Tübingen 2006, S. 173–187.

8 Brittnacher, Hans-Richard / May, Markus (Hrsg.): Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart u. a. 2013, S. 588–593.

9 Ebd., S. 285.

Details

Seiten
636
Jahr
2017
ISBN (ePUB)
9783631699157
ISBN (PDF)
9783653067798
ISBN (MOBI)
9783631699164
ISBN (Hardcover)
9783631672365
DOI
10.3726/b10682
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Januar)
Schlagworte
Autorenlexikon Literaturtheorie Ästhetik Bibliographie Fantasz Literatur
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 636 S.

Biographische Angaben

Christoph F. Lorenz (Band-Herausgeber:in)

Christoph F. Lorenz arbeitete als Professor an der Universität Düsseldorf. Er ist Germanist, Musikologe, Altphilologe, Judaist und Theologe und gilt als Experte für Abenteuerliteratur, Science Fiction und Fantasy.

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