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Der inklusive Blick

Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma

von Daniela A. Frickel (Band-Herausgeber:in) Andre Kagelmann (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 394 Seiten

Zusammenfassung

Das neue bildungspolitische Paradigma der Inklusion fordert die Literaturdidaktik heraus, ihre Theorien, Inhalte und Methoden einer Revision zu unterziehen. Es gilt, Grundlagen und Konzepte zu entwickeln, die Prozesse inklusiver Realisation fundieren und gestalten. Die Beiträge in diesem Band zielen auf einen interdisziplinären Dialog zwischen der Fachdidaktik Deutsch und der Förderpädagogik sowie zwischen der Literatur- und Sprachdidaktik und loten die Herausforderungen und Möglichkeiten einer ’inklusiv denkenden und agierenden‘ Literatur- bzw. Deutschdidaktik mehrperspektivisch und fächerübergreifend aus.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Einleitung
  • Daniela A. Frickel und Andre Kagelmann - Der inklusive Blick: Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma
  • I. Grundlagen inklusiver (Deutsch-)Didaktik
  • Gerhard Rupp - Der inklusive Blick auf das Lernen von Sprache, Literatur und den Umgang mit Medien – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Deutschdidaktik
  • Ralph Olsen - Lust, Niemandes Schlaf zu sein … Anmerkungen zur Problematik der Textauswahl im inklusiven Literaturunterricht
  • Tilman von Brand - Literarisches Lernen in inklusiven Lerngruppen – Eckpunkte einer inklusiven Literaturdidaktik
  • Kerstin Ziemen - Inklusive Didaktik – Herausforderungen und Perspektiven
  • Tobias Bernasconi und Mara Wittenhorst - Elementarisierung als didaktische Möglichkeit zur Gestaltung von inklusivem Literaturunterricht – Perspektiven aus Sicht des Förderschwerpunktes Geistige Entwicklung
  • Diana Gebele und Alexandra L. Zepter - Inklusive Brücken zwischen Literatur- und Sprachdidaktik
  • Christiane Hochstadt - „Sprache ist nicht, daß sie das Fremde abweist“ – Sprachdidaktik und Inklusion
  • II. Literatur und Medien als Gegenstand im inklusiven Literaturunterricht
  • Iris Kruse - Kinderliterarische Medienverbünde im inklusiven Literaturunterricht der Grundschule – Mediale Darstellungsvielfalt als Chance für gemeinsame literarästhetische Erfahrungen
  • Ingo Bosse - Filmbildung als Aufgabe einer sich entwickelnden inklusiven (Literatur-)Didaktik – eine Standortbestimmung
  • Cornelius Herz - Story grammars im inklusiven Deutschunterricht. Narratologische Konzeptionen am Beispiel KJL-affiner Text- und Filmformate
  • Steffen Volz - Literarisches Lernen für alle – literarästhetisch anspruchsvolle Texte im inklusiven Unterricht: eine Problemskizze
  • Kathrin Ulbricht, Lars Krüger, Stefanie Schick und Mona Bekteši - Ein Setting für inklusiven Literaturunterricht an der Oberschule
  • Peter Conrady - Lernlandschaften entwickeln und gestalten
  • Berbeli Wanning - Die ‚Teufelskinder‘. Über den Zusammenhang von Behinderung und Stigma
  • III. Inklusiver Literaturunterricht – Förderansätze und Professionalisierung
  • Petra Anders und Judith Riegert - Professionalisierung durch Kooperation am Beispiel der Leseförderung im inklusiven Deutschunterricht
  • Daniela Merklinger und Ulrike Preußer - Schreibdidaktische Konzeptionen für eine Literaturdidaktik im Kontext von Inklusion
  • Angelika Thäle - Teamteaching im inklusiven Literaturunterricht
  • Andreas Barnieske und Andreas Seidler - Potentiale und Herausforderungen kooperativer Leseförderprogramme aus inklusiver Perspektive
  • Nana Eger - Wie kann diversitätsorientierte Kulturelle Bildung in Schule gelingen?
  • Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Einleitung

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Daniela A. Frickel und Andre Kagelmann (Köln)

Der inklusive Blick: Die Literaturdidaktik und ein neues Paradigma

Abstract: This introduction discusses the change to inclusive classrooms as a chance for an ‘aesthetical (re-)turn’ to sophisticated readings of (children’s and youth) literature. It also pleads for a consolidation of teachers’ professional competence in order to enable students to handle complex aesthetical texts in inclusive settings/learners’ groups.

Wenn über die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe ein tiefer und anhaltender Streit obwaltet, so kann man füglich die Frage, ob der Staat das Recht hat, ein Kind oder einen jungen Menschen, die gerade nicht tobsüchtig sind, von seinem Erziehungssystem auszuschließen, zugleich mit in den Kauf nehmen. Gemäß jenem Vorgange wird man mir, wenn ich im späteren Leben in eine ähnliche ernstere Verwicklung gerate, bei gleichen Verhältnissen und Richtern wahrscheinlich den Kopf abschneiden; denn ein Kind von der allgemeinen Erziehung ausschließen, heißt nichts anderes, als seine innere Entwicklung, sein geistiges Leben köpfen.1

Zum jetzigen Zeitpunkt kann noch nicht gesagt werden, ob bzw. in welcher Form sich die Inklusion als Theorie der Gesellschaft systematisch in die Praxis unseres Zusammenlebens einschreiben wird, insbesondere in den Schulalltag: Nicht die Inklusion als theoretisches Konstrukt ist es, die zu emotional aufgeladenen Debatten zwischen Befürworterinnen und Gegnern führt, sondern deren Umsetzung in die Lebenswelt. In mehreren Dimensionen (Akzeptanz, Praktikabilität, Anspruch auf individuelle Unterstützung etc.) entscheidend für das Gelingen dürfte die tatsächlich realisierte schulische Inklusions- bzw. Exklusionsquote sein. Hier ist ein breites Meinungsspektrum zwischen vollkommener Inklusion und Positionen zu verzeichnen, die für den Erhalt der Sonderschulen oder von Sonderklassen plädieren (vgl. Biewer et al. 2015: 13). Überformt wird diese (unbegründete wie berechtigte) Ängste schürende Debatte in Deutschland durch die Auseinandersetzung um das – in einer ganz anderen gesellschaftlich-ökonomischen Situation entstandene – dreigliedrige Schulsystem, das mit der Idee schulischer Inklusion unvereinbar ist. ← 11 | 12 →

Die Deutsch- bzw. Literaturdidaktik aber muss sich ungeachtet solcher systemischer Fragen schon jetzt gezielt mit dem neuen inklusiven (Gesellschafts- und Schul-)Paradigma2 auseinandersetzen und Theorien, Methoden und Inhalte bereithalten, die auf Prozesse inklusiver Realisation reagieren bzw. dazu beitragen, diese Prozesse zu gestalten und deren Konkretisation zu begleiten. Insofern bildet die Inklusion für die Fachdidaktiken ein neues Paradigma, das sie dazu animiert, ihre etablierten Konzeptionen und Einstellungen, aber auch ihre spezifischen Unterrichtsgegenstände und -methoden einer Revision zu unterziehen. Die Inklusion stellt damit eine große Herausforderung dar, steht doch eine Exploration ihrer Standards durch die Fachdidaktiken bisher weitgehend aus.3 Die Frage danach, ob die Deutsch- bzw. Literaturdidaktik von Grund auf neu ‚inklusiv erfunden‘ werden muss, kann allerdings aus unserer Sicht verneint werden. Vielmehr sind wir der Auffassung, dass sie bereits über hinreichende Theorien und Methoden verfügt, die an das Paradigma der Inklusion akkommodiert werden müssen und können. Die grundlegende Herausforderung liegt darin, die ‚radikalisierte Heterogenität‘ inklusiver Settings ernst zu nehmen; daraus folgt wiederum sowohl eine fachwissenschaftliche und fachdidaktische als auch eine kreative Herausforderung hinsichtlich des Entdeckens von Differenzierungsmöglichkeiten.4 Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass das „gemeinsame Lernen am gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser 1998) an Grenzen stoßen kann, die sowohl im Spannungsverhältnis individueller Voraussetzungen als auch in der Komplexität (Hermetik) des zu behandelnden künstlerischen Artefakts liegen können.

1 Inklusion – nicht nur eine Frage von Behinderung5

Inklusion kann definiert werden als

Überwindung der sozialen Ungleichheit, der Aussonderung und Marginalisierung, indem alle Menschen in ihrer Vielfalt und Differenz, mit ihren Voraussetzungen und ← 12 | 13 → Möglichkeiten, Dispositionen und Habitualisierungen wahrgenommen, wert geschätzt und anerkannt werden (Ziemen 2012).

Somit zielt Inklusion darauf ab, das bestehende (relativ enge) gesellschaftliche Normalitätskonstrukt in Hinblick auf ein umfassendes Diversitätskonzept zu erweitern. Sie basiert auf dem in Deutschland 2009 in Kraft getretenen „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ aus dem Jahr 2006. Damit wird Inklusion zu einem zentralen Topos deutscher (Schul-)Wirklichkeit; die übliche Fokussierung auf das Thema Behinderung unterschlägt den noch viel umfassenderen, durchaus utopischen Geltungsanspruch, wie er beispielsweise in den von Kersten Reich formulierten Standards der Inklusion deutlich wird:

Neben den drei Gerechtigkeitsansprüchen in Bezug auf Ethnokulturalität, Gender und Behinderung umfasst das Inklusionskonzept also ein generelles Diversitätspostulat: Jegliche Diskriminierung, Stigmatisierung und Marginalisierung soll erkannt und beseitigt werden. Das Konzept der Inklusion überwindet zumindest theoretisch auch die Debatte um Leitkulturen etc. Inklusive Settings gehen nicht von einer Integrationsleistung eines Individuums in eine Gemeinschaft aus, sondern von Rahmenbedingungen, die auf der Basis der Menschrechte Diversität in allen Lebensbereichen ermöglichen. Eine Leistung wird also nicht mehr primär vom Individuum erwartet, sondern strukturell vom Staat bzw. der Gesellschaft. Zudem zielt die Inklusion auf eine gesamtgesellschaftliche Mentalitätsveränderung. Damit stellt das Konzept sowohl an Individuen als auch an die Gesamtgesellschaft höchste Ansprüche, die auch im Zusammenhang mit der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Debatte bzgl. der Flüchtlingskrise gesehen werden müssen, wobei Integrationsleistungen der Flüchtlinge notwendig sein werden. – Insgesamt wird deutlich, dass sich die Inklusion als neuer Gesellschaftsvertrag versteht. Bezogen auf das deutsche Schulsystem kann von dieser Entwicklung eine stärkere Umgestaltung ausgehen als durch PISA, wenn Inklusion ernstgenommen, d. h. bildungspolitisch präferiert, wissenschaftlich fokussiert und gesellschaftlich getragen wird. ← 13 | 14 →

2 Inklusion als Chance für eine Revision der Fachdidaktik

Die Konsequenzen für die schulische Praxis erscheinen angesichts der Traditionen und Handlungsroutinen, die hierfür aufgebrochen oder aufgegeben werden müssen, weitreichend: Ungeachtet des somit eigentlich notwendigen Umbaus des herrschenden segregierenden Schul- und Bildungssystems bildet Inklusion nicht nur für die Pädagogik, sondern auch für die Fachdidaktiken ein neues Paradigma, das sie dazu animiert, ihre Normen und Werte, aber auch ihre spezifischen Unterrichtsgegenstände und -methoden einer Revision zu unterziehen und eine Didaktik für alle zu konzipieren. Als für die Fachdidaktik insgesamt relevante Aufgaben sind u. a. die Entwicklung bzw. Akkomodation von pädagogischen Methoden, die der radikalisierten Heterogenität Rechnung tragen, sowie die damit im Zusammenhang stehende Frage nach fachspezifischen Lehrerkompetenzen und überhaupt einer inklusiven Lehramtsausbildung zu benennen (vgl. ebd.: 12, 20). Im Hinblick auf die Literaturdidaktik ergeben sich daraus konkret zunächst drei Fragen, die eine Revision gängiger Konzepte bzw. eine Neukonzeption anleiten können:

Abbildung 1: Revisions- und Konzeptionsdimensionen

Die Inklusion stellt sich aus unserer Sicht auch als Chance einer Revision der Literaturdidaktik nach PISA dar, die im Zeichen von Kompetenzorientierung und Empirie (vgl. Frickel/Kammler/Rupp 2011) zu einer Verschiebung von einer Input- zu einer Output-Orientierung gesorgt hat, d. h. mit dem Leistungsdenken die Frage nach dem Lernen überlagert (vgl. Naujok 2014: 23–25). So kann die Inklusion eine Trendwende in der Literaturdidaktik einläuten, die dem herrschenden exklusiven Trend – der mit dem und am „standardisierten Schüler“ (vgl. Spinner 2005) arbeitet und schlimmstenfalls eine standardisierende Praxis evoziert – entgegentritt. Denn eine inklusive Didaktik muss „den Gleichschritt und gleiche Ziel- und Rangvorstellungen auf der Basis durchschnittlicher Vergleiche von Schülerinnen und Schülern auflösen“ und „nach den diagnostisch ermittelten und reflektierten Unterschieden und Interessen der Lernenden“ fragen. (Amrhein/Reich 2011: 36) Dabei bieten die Begriffe Diagnose und Förderung, die im Zuge von PISA neben der Leistungsmessung Kernanliegen der Anstrengungen um Kompetenzmodellierung bilden, unseres Erachtens wichtige Anschlussmöglichkeiten.

2.1 Zieldimensionen eines inklusiven Literaturunterrichts

Für eine Definition der Zieldimensionen eines inklusiven Literaturunterrichts kann man zunächst auf die von Kasper H. Spinner zusammengeführten Ziele des Literaturunterrichts zurückgreifen und diese im Hinblick auf inklusive Settings diskutieren: die Förderung von Lesefreude, Texterschließungskompetenz, Selbst- und Fremdverstehen, Kreativität und Imagination, Literarische Bildung sowie die Vertiefung anthropologischer Grundfragen (Spinner 2001). Es ist augenfällig, dass einige Ziele stärker kognitive, andere dagegen eher emotionale Anforderungen implizieren. Für einen inklusiven Literaturunterricht lässt sich vorschlagen, die hier in Form einer Anforderungspyramide dargestellten Ziele folgendermaßen zu gewichten: ← 15 | 16 →

Abbildung 2: Hierarchisierung von Zieldimensionen nach Spinner im Hinblick auf inklusive Settings

Die Basis der Pyramide bilden damit Ziele, die – wie Identitätsfindung und Fremdverstehen, aber auch die Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen sowie Imagination und Kreativität – im Sinne eines Mentalitätswandels hin zu einer inklusiven Gesellschaft von besonderer Bedeutung sind. Für den Weg in eine solche Gesellschaft sind Imagination und Kreativität6 besonders wichtig. Gleiches gilt für das Selbst- und Fremdverstehen, das durch Literatur(-Unterricht) unterstützt werden kann, wenn man einen inklusiven Literaturunterricht nicht nur als bildungspolitisch gefordertes Faktum, sondern auch als zielführendes Instrument begreift (vgl. hierzu insb. Mathern 2014: 189). Insgesamt lassen sich diese Basisziele in Zusammenhang setzen mit einem angesichts der Leistungsstudien zunehmend in den Hintergrund geratenen Ziel von Literaturunterricht: der Persönlichkeitsbildung. Diese steht, wie Felix Mathern aufzeigt, im Zusammenhang mit den Zielen von Georg Feusers entwicklungslogischer Didaktik, die wiederum als eine Didaktik für alle eine Grundlage für die Konzeption eines inklusiven Unterrichts bilden kann (vgl. ebd.: 191). Da die formulierten Basisziele insbesondere die emotionale ← 16 | 17 → Seite des Erlebens fokussieren, eröffnen sich Zugänge auch für kognitiv schwächere Schülerinnen und Schüler, denn

Damit sehen wir die Chance, dass nach einer durch PISA verstärkten – aber dem Umgang mit Literatur abträglichen – Konzentration auf kognitive Prozesse ästhetische Erfahrungen in einer inklusiven Literaturdidaktik eine (konzeptschlüssige) Aufwertung erfahren können, wobei kognitive Prozesse damit wiederum im Zusammenhang stehen oder auf dieser Basis gefördert werden können. In einem anderen Zusammenhang differenziert Cornelia Rosebrock zwischen ästhetischer Erfahrung und literarischer Rezeptionskompetenz, was wir bzgl. der Frage nach einer inklusiven Literaturdidaktik für anschlussfähig halten:

Literarische Rezeptionskompetenz wird in unserer Systematik als etwas verstanden, das die basalen Ziele voraussetzt, aber in besonderer Weise kognitive Operationen verlangt, die in einem reziproken Verhältnis zu den basalen Zielen stehen. Gleiches gilt für die literarische Bildung, verstanden als Etablierung expliziten oder deklarativen Wissens, das – wenn es entsprechend aufbereitet wird – nicht nur bei leistungsstarken Schülerinnen und Schülern eine Verknüpfung mit den anderen Zielen erfahren kann.

2.2 Der inklusive Blick auf Literatur als Lernmedium und Lerngegenstand

Die Frage nach den Gegenständen – verstanden als Lernmedien und Lerngegenstände –, mit denen diese Ziele anvisiert werden können, um in leistungsheterogenen Gruppen ein gemeinsames und zugleich individuelles, differenziertes Lernen zu ermöglichen, stellt sich als zentrale inklusivdidaktische Herausforderung dar (vgl. Hölzner 2014: 47–49). Den Problemstand umreißt Felix Mathern folgendermaßen: ← 17 | 18 →

Es stellt sich also die Frage, welche Werke sich aufgrund welcher Merkmale für leistungsheterogene Gruppen eigenen, d. h. mit welchen Werken können sowohl leseschwache wie lesestarke Schülerinnen und Schüler den Umgang mit Literatur erlernen sowie eine Förderung ihrer literarischen Kompetenzen erreichen? d. h. ermöglichen leseschwachen wie lesestarken Schülerinnen und Schülern einen Umgang mit Literatur sowie eine Förderung ihrer literarischen Kompetenzen? Müssen und können die literarischen Gegenstände akkommodiert oder akkomodierbar sein, wie es der Diskurs um Leichte Sprache im Kontext der Inklusionsbewegung anzeigt7, um nicht formal exklusiv zu sein? Und welche Rolle spielen im Hinblick auf literarisches Lernen andere Medien als Texte und Bücher? Oder ist das alles vielmehr eine Frage der Methode?

Hinsichtlich der Wahl geeigneter Gegenstände zeigt eine Revision fachwissenschaftlicher Konzepte, dass eine inklusive Literaturdidaktik auf bereits bestehende Überlegungen zurückgreifen kann. Grundsätzlich sind alle literaturtheoretischen Ansätze einzubeziehen, die z. B. diskursanalytisch die Ausgeschlossenen bzw. die diesen Ausschluss organisierenden Strukturen, Muster und Regeln in der erzählten Welt fokussieren. Die Stichworte Behinderung, Interkulturalität, Antirassismus, Gender, Postkolonialismus, Krankheit oder Alter bilden bereits mehr oder weniger traditionelle literaturwissenschaftliche bzw. literaturdidaktische Kategorien.8 Das Inklusionskonzept umschließt diese Kategorien und subsumiert sie unter seinem Diversitätspostulat, das ein neues literaturwissenschaftliches und ← 18 | 19 → literaturdidaktisches Muster begründet, mit dem Texte der literarischen Tradition wie auch aktuelle Werke neu und anders gelesen werden können.

Aus konstruktivistischer Perspektive mag es näher liegen, die Frage nach dem Gegenstand an die konkreten Lerngruppen anzuschließen9, womit aber hier eine ohne jede Systematik von Lehrenden auszufüllende Leerstelle im Hinblick auf die Gegenstandsauswahl bliebe, die zugleich die Gefahr mit sich bringt, den Gegenstand Literatur aus fachlicher Perspektive loszulassen, was jedem Bildungsanspruch zuwiderläuft. Wir schlagen daher vor, Dimensionen eines inklusiven Literaturunterrichts an (komplexe) thematische und ästhetische Strukturen literarischer Texte rückzukoppeln (vgl. Frickel 2015; Frickel/Kagelmann 2016; Kagelmann 2014). Solche Gegenstände sind i.d.R. auch dadurch gekennzeichnet, dass sie Ausgangspunkte für einen differenzierenden und individualisierenden Unterricht bieten. Folgende vier Hauptaspekte kennzeichnen aus unserer Sicht geeignete Gegenstände.10

(1) Literatur als Welt- und Wertekaleidoskop

Texte, die das Thema Inklusion thematisch nicht nur (wie auch häufig in öffentlichen Debatten) auf das Thema Behinderungen verengen: Das Spektrum – in Anlehnung an Reich (s. o.) – erweitert sich damit um Themen wie ethnokulturelle Gerechtigkeit bzw. Antirassismus, Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Diversität sowie sozio-ökonomische Chancengerechtigkeit. Hier erscheinen Werke adäquat, die ein parabolischer Gehalt auszeichnet, die also das Szenario einer exklusiven bzw. die Utopie einer inklusiven Gesellschaft zeichnen und damit Angriffspunkte für die Analyse von Exklusionsmechanismen bzw. Inklusionsstrategien bieten. Eine dahingehende thematische Auswahl kann einerseits ermöglichen, ein für Schülerinnen und Schüler akutes Thema aufzugreifen und über den Weg der Enttabuisierung und Aufklärung Verständnis und Toleranz für z. B. von einer Thematik Betroffene zu erwirken. Zugleich kann über den Weg analoger Themen, die einen Transfer ermöglichen, ein didaktischer Zugang gewählt werden, der mit gegebenen Befindlichkeiten sensibel umgeht. Die dahingehende Entscheidung, explizit oder implizit zu verfahren, ist eine Aufgabe der Lehrkraft in Bezug auf eine konkrete Lerngruppe. ← 19 | 20 →

(2) Perspektive und Raum

Da Literaturunterricht unbedingt auch, aber keinesfalls nur ein Diskursraum für soziales Lernen sein muss, sondern dieses im Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung und literarischem Lernen stehen sollte, zeichnen sich Texte aus, die aufgrund besonderer Gestaltungsmittel ästhetische Komplexität aufweisen. Besonders geeignet erscheinen uns Werke, die aufgrund ihrer Perspektivenstruktur eine konstruktivistische Lesehaltung voraussetzen und von daher Anforderungen an das Selbst- und Fremdverstehen stellen. Insofern Inklusion aber nicht nur eine Frage der Perspektive, sondern auch eine des Standortes ist, erachten wir Werke, die sich aufgrund einer besonderen Akzentuierung der Raumdarstellung auszeichnen, ebenfalls sehr geeignet. Beide Parameter – Raum und Perspektive – stehen dabei im engen Zusammenhang mit den Figuren, die nicht davon losgelöst betrachtet werden sollten. Dabei sind Werke zu präferieren, die das Thema Ex- bzw. Inklusion auch symbolisch repräsentieren, d. h. z. B. poetisch starke Metaphern oder Allegorien für Ein- und Ausschluss aufweisen.

(3) Avanciertheit und Methodenvielfalt

Ästhetisch moderne bzw. komplexe Werke, die sich durch eine Form-Inhalt-Korrespondenz auszeichnen, ermöglichen methodisch vielfältige Zugänge, wie sie für einen differenzierenden und/oder individualisierenden Unterricht, der an den Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler in heterogenen Gruppen ansetzt, geboten sind.11 So kann eine inklusive Didaktik an Leitlinien einer kommunikativen und an der Entwicklung der Persönlichkeit orientierten Literaturdidaktik, die sich seit den 1970er Jahren ausprägte, anknüpfen. Diese literaturdidaktischen Konzepte gilt es hinsichtlich ihres Potentials für eine inklusive Literaturdidaktik auszuwerten, was von Seiten der Förderpädagogik – wenn auch eher pragmatisch als theoretisch – schon angegangen worden ist (vgl. dazu u. a. Bernasconi 2013; Böing/Terfloth 2013; Seitz 2003) und in den Beiträgen dieses Bandes weiter vertieft wird. Eine Paradoxie inklusiven Lernens könnte also darin bestehen, dass der Weg zurück bzw. nach vorn zu anspruchsvoller (kinder- und jugendliterarischer) Lektüre im Deutschunterricht gegangen wird. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn in einem solchen ‚avancierten Turn‘ zugleich einem anderen Paradox Rechnung getragen würde: dem des Nicht-Verstehens, der Eigengesetzlichkeit, der Widersprüchlichkeit von Literatur. Einen komplexen Gegenstand didaktisch zu transformieren heißt also nicht, seine ästhetische Struktur zu zerstören, sondern ← 20 | 21 → im Gegenteil, Möglichkeiten aufzuzeigen, sich dieser Struktur anzunähern, ohne sie unbedingt widerspruchsfrei nachvollziehen zu können (vgl. dazu Wintersteiner 2011).

(4) Multimodalität und Differenzierung

Einen weiteren Zugang zu komplexen literarischen Texten in inklusiv-heterogenen Settings bieten printbasierte multimodale Texte, die im Medienverbund angeboten werden (vgl. z. B. Josting/Maiwald 2007; Kruse 2011; 2015). Dieser methodische Zugang bildet eine gewisse Analogie zu Akkomodation und Transformation von literarischen Gegenständen, den wir nicht per se ausschließen möchten, gerade weil es sich um gängige Verfahren in der Kinder- und Jugendliteratur handelt (vgl. Ewers 2012: 167–195). Insbesondere komplexe Werke bieten im Gegensatz zu schon ‚vereinfachten‘ literarischen Texten, die z. B. in Förderschulen genutzt werden – hier aber auch unterfordern können oder thematisch nicht altersadäquat eingesetzt werden – Möglichkeiten für sicher kontrovers zu diskutierende komplexitätsreduzierende Eingriffe. Diese können sowohl von der Lehrkraft oder von Schülerinnen und Schülern selbst vorgenommen werden, z. B. angeleitet durch handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben. So kann in Entsprechung des von Feuser formulierten Postulats vom „Lernen am gemeinsamen Gegenstand“ (1998; 2010) eine Differenzierung gewährleistet werden.

Details

Seiten
394
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631696484
ISBN (PDF)
9783653068832
ISBN (MOBI)
9783631696491
ISBN (Hardcover)
9783631674420
DOI
10.3726/978-3-653-06883-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 396 S., 6 s/w Abb.

Biographische Angaben

Daniela A. Frickel (Band-Herausgeber:in) Andre Kagelmann (Band-Herausgeber:in)

Dr. Daniela A. Frickel ist Akademische Rätin am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Dr. Andre Kagelmann ist Kustos der Arbeitsstelle für Kinder- und Jugendmedienforschung (ALEKI) am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln.

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Titel: Der inklusive Blick
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