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Sprache und Gesellschaft im Wandel

Eine diskursiv basierte Semantik der ‚Familie‘ im Gegenwartsfranzösischen am Beispiel der Presse

von Daniela Pietrini (Autor:in)
Habilitationsschrift 548 Seiten

Zusammenfassung

Dieses Buch beschreibt aus diskurslinguistischer Perspektive die aktuellen Entwicklungen im gesellschaftlichen Diskussionsfeld Familie am Beispiel Frankreichs. Die Autorin zeigt die Vorgänge der sprachlichen Wirklichkeitskonstruktion durch die systematische Untersuchung vom Sprachgebrauch in der französischen Presse auf, um auf dieser Basis semantischen Wandel zu rekonstruieren. Das semantische Feld um Familienbeziehungen scheint relativ geschlossen und überschaubar zu sein. Dennoch lässt gerade dieses lexikalische Feld in den letzten Jahren eine sehr hohe Anzahl an Neologismen verzeichnen, die mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung stehen. Das Buch zielt darauf ab zu beschreiben, wie die Diskursakteure neue Sachverhalte begrifflich festhalten beziehungsweise neue Einstellungen zum Ausdruck bringen und überholte Modelle als solche sprachlich markieren.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autoren-/Herausgeberangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • 1. Einleitung
  • 1.1. Einführende Bemerkungen zur Familie und Sprache
  • 1.2. Untersuchungsdesign und Forschungsmethodik
  • 1.2.1. Über soziohistorische Zusammenhänge, prägende Wirkung der Sprache und mentalité
  • 1.2.2. Über Sprachgebrauch, Bedeutung und Diskurssemantik
  • 1.2.3. Der Diskurs-Begriff
  • 1.2.4. Probleme der Korpuserstellung in diskurslinguistischen Zusammenhängen
  • 1.2.5. Korpuserstellung und Untersuchungsmethoden
  • 1.2.6. Für eine „diskursiv basierte Semantik“ gesellschaftlicher und sprachlicher Dynamiken
  • 2. Zur Familie der Gegenwart
  • 2.1. Der Begriff der ‚Familie‘
  • 2.2. Der strukturelle Wandel der Familie in den letzten Jahrzehnten
  • 2.3. Der aktuelle Familiendiskurs Frankreichs: Ereignisse, Eckdaten und Interpretationsansätze
  • 3. Les mille visages de la vie en solo
  • 3.1. Einführende Bemerkungen zum Pressediskurs über das Singledasein
  • 3.2. Le célibat est mort, vive le célibat: über einen Begriff im Wandel
  • 3.2.1. Kurze Geschichte der Ehelosigkeit
  • 3.2.2. Die Bezeichnung célibataire
  • 3.2.3. Die lexikographische Abhandlung des célibat
  • 3.2.4. Zwischen Lebensstil und Personenstand: Célibataires vrais et faux
  • 3.2.5. Durch das Ledigsein definiert werden: der Fall mademoiselle
  • 3.2.6. Konnotationen und Klischees: der discours d’antan
  • 3.2.7. Célibataires, solitaires, solos: Kollektivbezeichnungen im zeitgenössischen Singlediskurs
  • 3.2.8. Mini-, mono-, individuel: euphemistische Sprachstrategien um das Singledasein
  • 3.2.9. Célibattant, céliberté, célivacances: die (lexikologische) Produktivität des célibataire
  • 3.2.10. De jeunes célibataires urbains et branchés: die syntagmatische Ebene
  • 3.2.11. Nouveaux célibataires und vie en solo: die Formel der neuen Diskursivität
  • 4. Die vielfältige Welt der Paarbeziehungen
  • 4.1. Einführungsbemerkungen über Zweierbeziehungen im Familiendiskurs
  • 4.2. Das lexikal-syntaktische Geflecht um die Ehe
  • 4.2.1. Concubinage, union libre, divorce: die Ehe und ihre Gegensätze
  • 4.2.2. Le mariage n’est plus…: diskursive Ausdrucksschemata im Ehediskurs
  • 4.2.3. Heiraten und „ent-heiraten“ im französischen Ehediskurs: le démariage
  • 4.3. Entre célibataires et couples im Übergangsbereich zwischen Syntax und Lexik
  • 5. Tausendundeine Mutter im zeitgenössischen Familiendiskurs
  • 5.1. Mater semper certa est…
  • 5.2. Die Einelternfamilie zwischen metasprachlicher Reflexion und Bezeichnungskonkurrenzen
  • 5.2.1. Fille-mère: von der Stigmatisierung zur Normalität
  • 5.2.2. Quand l’habit fait le moine: neue Ausdrücke zur Bezeichnung alleinerziehender Mütter
  • 5.2.3. Wie viele Elternteile braucht eine Familie? Die Diskursformel famille monoparentale
  • 5.3. Ein neuer Begriff im Familiendiskurs: die parentalité
  • 5.3.1. Von der parenté zur parentalité
  • 5.3.2. Das Kaleidoskop der modernen Elternschaft
  • 5.4. C’est l’enfant qui fait la famille: Ein Diskursslogan als Zeichen interdiskursiver Dialogizität
  • 6. Der Name des Anderen…
  • 6.1. Lexikalische Lücken und kommunikativer Bedarf
  • 6.2. Von der méchante marâtre zum statut du beau-parent: Die diskurssemantische Konstruktion der modernen Stiefelternschaft
  • 6.3. Des beaux-, des ex-, des demi-, des quasi-: Neue Rollen in der modernen Familie
  • 6.4. Famille recomposée: aus dem Fachdiskurs in den Alltag
  • 7. Die neue Familie: Bilanz und Perspektiven
  • 7.1. Gesellschafts-, Mentalitäts- und Sprachwandel und zeittypische Lexik
  • 7.2. Weiterführende Bemerkungen
  • 8. Literaturverzeichnis
  • 8.1. Monographien, Sammelbände und Aufsätze
  • 8.2. Internetseiten
  • 8.3. Verzeichnis der zitierten Lieder
  • 9. Anhänge
  • 9.1. Abbildungsverzeichnis
  • 9.2. Tabellenverzeichnis
  • 9.3. Abkürzungsverzeichnis
  • 9.3.1. Zeitungen und Zeitschriften
  • 9.3.2. Wörterbücher
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Über einen Tennisspieler, einen Schuhhersteller und die sprachliche Konstruktion der Familie der Gegenwart

Yannick Noah zählt nach wie vor zu den beliebtesten Persönlichkeiten Frankreichs.1 Bekannt durch sein sensationelles Angriffstennis, seine phantastischen Trickschläge, seine Streiche sowie seine großen sportlichen Leistungen (1983 gewann er als erster Franzose nach 37 Jahren die French Open) galt er in seiner Glanzzeit als eine der schillerndsten und erfolgreichsten Figuren der internationalen Tennisszene.2 Nicht weniger bemerkenswert erscheint seine Familie: nach zwei mittlerweile erwachsenen Kindern von seiner ersten Ehefrau bekam er auch von seiner zweiten Ehefrau Nachwuchs, und zwar zwei Töchter, die nach der Scheidung ihrer Eltern bei ihm wohnen blieben. Während seine zweite Ex-Frau im Rahmen einer neuen Ehe noch einen Sohn auf die Welt brachte, ist 2004 auch Yannick durch seine neue Partnerin wieder Vater geworden. Fazit: Zwei Scheidungen, drei Frauen, fünf Kinder zwischen 28 und 8 Jahren, von denen zwei noch einen Halbbruder auf mütterlicher Seite haben.

Immer wieder stößt man auf Zeitschriftencovern auf alte und neue Bilder solcher glücklichen Tribus3 und man fragt sich: Sind diese Kinder tatsächlich Geschwister? Wie viele Großeltern haben sie denn? Und was ist die jeweils neue Partnerin ihres Vaters für sie? Ihre Stiefmutter „1. Grades“, „2. Grades“ usw.? Und werden sie selbst zu Stiefkindern „aus erster Ehe“, „aus zweiter Ehe“, womöglich sogar „aus dritter“? Verzählt sich keiner dabei? Oder ist das Ganze für ← 9 | 10 → sie gar nicht so kompliziert, wie es scheint? Schließlich liegt die grundlegendste Frage auf der Zunge: Ist eine derartige Konstellation noch eine Familie?

Jedenfalls nicht so, wie sie im Buche steht. Familien, so wie wir sie im traditionellen westlichen Kulturkreis kennen, sind Lebensgemeinschaften, die aus einer Mutter, einem Vater und deren leiblichen Kindern bestehen, gelegentlich durch weitere, im gleichen Haushalt lebende enge Verwandte erweitert (etwa die Großmutter o.Ä.). Dem traditionellen westlichen Modell zufolge entstehen sie durch die Heirat, wodurch eine lebenslange, monogame und heterosexuelle Ehe gegründet wird, aus der leibliche Kinder hervorkommen. Wenn wir also an ‚Familie‘ denken, beziehen wir uns mehr oder weniger unbewusst auf diese stereotype, juristisch kodifizierte Vorstellung von Familie, die mit gewissen Normalitätserwartungen verbunden und auf ein gemeinsames Hintergrundwissen über ein implizites Welt- bzw. Gesellschaftsmodell zurückzuführen ist. Selbstverständlich sind derartige kollektive Vorstellungen kulturell verankert, denn sie entwickeln sich aus einem speziellen soziokulturellen Kontext heraus, sodass das Verständnis von ‚Familie‘ immer auf eine gewisse, lokalisierbare Gesellschaft und Kultur zurückgeht (vgl. § 1.2.1.). Bezieht man sich auf den Familienbegriff des modernen westlichen Kulturkreises, verfügt man über ein gemeinsames implizites Grundwissen, wonach Kinder eine Mutter und einen Vater haben, die miteinander verheiratet sind und mit ihren leiblichen Kindern zusammenleben, bis diese selbstständig werden.

Betrachtet man die Anzeigen aus der vieldiskutierten Werbekampagne 2011 des französischen Schuhherstellers Éram „La famille c’est sacré“ (s. Abb. 1 und 2), fällt der aktuelle Wandel in der sprachlich-diskursiven Konstitution der Familie auf Anhieb auf. ← 10 | 11 →

Abb. 1: Werbeanzeige Deux mamans Éram 2011

Illustration

Abb. 2: Werbeanz Troisième femme Éram 2011

Illustration

Strahlend und zuversichtlich schauen die beiden Mütter – deux mamans – des abgebildeten Kindes einem direkt in die Augen, von einem Vater bzw. einem männlichen Elternteil weit und breit keine Spur (s. Abb. 1). An Müttern und „mutterähnlichen“ Figuren mangelt es auch dem hübschen Mädchen aus der anderen Anzeige (Abb. 2) gewiss nicht, denn sie muss über ihre leibliche Mutter (ma maman) hinaus noch mit zwei bis drei Stiefmüttern (la troisième femme de mon papa) auskommen, nicht zu sprechen von etwaigen Halb- bzw. Stiefgeschwistern und -großeltern.

In der Sprache – und im Denken – nicht nur der zeitgenössischen Franzosen, sondern der Bürger der westlichen Welt insgesamt, ist die Mutter zunächst ein weibliches Wesen, das ein Kind zur Welt gebracht hat. Sie ist vom zukünftigen Vater des Kindes schwanger geworden, hat das Kind geboren und wird von diesem Moment an für das Wohl ihres Kindes sorgen. Sie wird ihm Nahrung, Obdach und Kleidung bieten und sich für seine Ausbildung einsetzen. Denn eine derartige Vorstellung gehört zu unserem geteilten Hintergrundwissen, so wie es über Diskurse und Erfahrungen bis zu uns tradiert worden ist. Sie ergibt sich „von selbst“ aus dem Begriff ‚Mutter‘. Können demnach zwei weibliche Wesen das ein ← 11 | 12 → und dasselbe Kind gebären bzw. – mit anderen Wörtern – kann ein Kind zwei Mütter haben? Und was passiert mit neuen, bisher nicht erfassten Figuren und Rollen im Familiengeschehen? Etwa mit der „neuen Ehefrau vom Papa“ aus der anderen Éram-Anzeige? Die Frage nach ihrer Bezeichnung ist zugleich die Frage nach ihrer begrifflichen Konstruktion, denn Bedeutungen sind keine kognitiven, unabhängig vom Sprachgebrauch gegebenen Entitäten, sondern konstituieren sich im Rahmen sprachlicher Handlung, d.h. in Diskursen (s. § 1.2.2.). So sind die ganzen Ausdrücke, mit denen heutzutage über die Familie mitsamt ihren Mitgliedern und Formen gesprochen wird, keine bloßen realitätsabbildenden Bezeichnungen, sondern wirken sich auf die Konstruktion unserer mental-bildlichen Repräsentationen aus und beeinflussen somit das, was heute über Familie in einer bestimmten Gesellschaft gesagt, gedacht und gewusst werden kann.

Ziehen wir noch einmal die anfangs zitierten Überlegungen von Hermanns (2005: 163)4 in Betracht: Wenn wir heutzutage von Familie sprechen, „passen“ unsere Wörter noch auf die Dinge und die Sachverhalte, die wir durch sie beschreiben wollen? Die sprachliche Konstruktion der Familie ist vor allem in Zeiten rasanter kultureller und gesellschaftlicher Veränderungen der Formen des Zusammenlebens zentral: Es gilt, neue Sachverhalte begrifflich festzuhalten bzw. neue Einstellungen zum Ausdruck zu bringen und überholte Modelle als solche sprachlich zu markieren. Dies manifestiert sich in zahlreichen Auseinandersetzungen um treffende Definitionen, Bezeichnungen, Schlagwörter, mit denen Begriffe geprägt, diskursive Positionen durchgesetzt und schließlich Wertungen vorgenommen werden.

Begriffe verändern sich, Bedeutungen werden im Diskurs ausgehandelt und festgelegt, Sprache wird zur Durchsetzung der eigenen Position gekonnt verwendet. Dabei bleibt die vorwiegende, normativ-ethisch fundierte Bedeutung von ‚Familie‘ stabil, die wie folgt paraphrasiert werden könnte: Familie ist die Basis der Gesellschaft. Familie vermittelt Halt, sie gibt Orientierung und Struktur. Familie ist unverzichtbar. Es lebe die Familie!

„Si la famille, avec ses mutations et ses recompositions, inquiète et pose question, si elle préoccupe les Français et les Européens, ils la considèrent cependant comme le domaine de la vie le plus important.“ (Vaillé, Hélène (2005): Où va la famille ?, S. 30, zitiert aus Lardellier 2009: 48)

En crise, la famille? Rien n’est moins sûr. Toutes les études, tous les sondages, en France comme dans les autres pays européens, montrent au contraire l’attachement ← 12 | 13 → à cette institution ou, en tout cas, aux liens familiaux. La famille, même éclatée, reste une valeur puissante, surtout en période de difficultés sociales. Elle est le lieu de solidarité par excellence. (La famille à géométrie variable, 18.05.1995, LM)

Sogar die provokative Werbekampagne von Éram weist mit Nachdruck darauf hin: La famille, c’est sacré. Die Familie ist heilig!

In diesem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Wandel und Tradition, zwischen Familienkrise und Optimismus ist diese Arbeit angesiedelt, die der sprachlichen Konstruktion der Familie als komplexer, gesamtgesellschaftlich relevanter, umstrittener Sachverhalt gewidmet ist und der diese Thematik als Basis für die Rekonstruktion semantischen Wandels dient.

Zahlreiche Gründe sprechen heutzutage für die Wahl der Familie als Gegenstand einer linguistischen Untersuchung. Auf den ersten Blick scheint das semantische Feld um die Familie und um die Familienbeziehungen relativ geschlossen und überschaubar zu sein. Es strukturiert sich auf der Grundlage zweier Oppositionen, diejenige zwischen ‚Blutsverwandtschaft/Konsanguinität‘ und ‚Schwägerschaft‘ einerseits und die Opposition zwischen den ‚Generationen‘ (auf- und absteigend: Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel usw.) andererseits, die in Bezug auf ein referenzielles Subjekt (ich/je = Generation Null) zu definieren sind (‚Verwandte von je‘ vs. ‚keine Verwandten von je‘). Dennoch lässt gerade dieses lexikalische Feld in den letzten Jahren eine sehr hohe Anzahl an Neologismen verzeichnen, die mit grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen in Verbindung zu bringen sind:

Durch die Scheidung und die Tendenz zur Wiederheirat (remariage)5 entstehen bisher unbekannte Formen der Verwandtschaft, die Kinder ohne jegliche Konsanguinität miteinander verbinden (quasi-frère/quasi-sœur). Während Scheidungskinder abwechselnd sowohl mit ihrer Mutter als auch mit ihrem Vater zusammenleben (garde alternée), üben die Mitglieder der neu gegründeten Paare die Elternschaft (parentalité) gemeinsam aus (coparentalité) und werden somit ← 13 | 14 → zumindest zeitweise zu Eltern (beau[x]-parent[s]) von ihnen teilweise völlig fremden Kindern (bel[beaux]-enfant[s]). Es entstehen Familien, die nur einen Elternteil (monoparent) vorzeigen können (famille monoparentale) bzw. aus gleichgeschlechtigen Eltern (homoparent[s]) bestehen (famille homoparentale). Jeder entscheidet selbst, ob er allein (solo, soliste, solibataire) leben möchte (vie en solo), oder ob er eine eingetragene Lebenspartnerschaft (pacs, se pacser, pacsiste, pacsage) der traditionellen Ehe vorzieht. Sogar Verheiratete mit Kindern leben nicht mehr zwangsläufig zusammen (living apart together, célibataire géographique), heiraten dürfen übrigens mittlerweile „alle“ (mariage pour tous)…

Gerade die immer noch aktuellen öffentlichen Debatten über die Einführung der Homo-Ehe in Frankreich heben die Rolle der Sprache für die begriffliche Konstruktion umstrittener Sachverhalten deutlich heraus. Bei z. T. auch sehr heftigen Diskussionen ging es nämlich nicht unbedingt um die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paaren, die mit dem PACS ohnehin bereits garantiert wurde, sondern um die Verwendung der Bezeichnung mariage für eine derartige Konstellation, also letztlich um die sprachliche und begriffliche Konstruktion gleichgeschlechtlicher Paare als mögliche Familien:

Une question de dénomination. Sur le fond, ni la revendication ni le droit à l’union ne les choquent. C’est « l’appellation » ‘mariage’ (Laurent Degallaix, Valenciennes, qui propose plutôt une ‘union civile’) qui les « chiffonnent » (Joël Soigneux, Saultain). « Il faudrait trouver un autre terme » (Michel Dewitte), qui rejoint ici le maire de Maing, Philippe Baudrin, dont l’éducation protestante a appris qu’un mariage, « c’est un homme et une femme » et qu’il faut donc « un autre mot pour une autre définition ». (Les maires du Valenciennois dans le débat du mariage homo mais sans bouillir, 18.10.2012, LVN)

Brêmes-les-Ardres, Thierry Poussière : « Je suis favorable au projet. Pour autant, je pense qu’il y a d’autres sujets plus importants que celui-là, en ce moment. Et je crois aussi que si on avait trouvé un autre mot que celui de mariage, cela aurait évité beaucoup de problèmes. Mais je suis favorable au fait que les couples homosexuels ← 14 | 15 → possèdent les mêmes droits que les autres. » (Les maires partagés sur la question du mariage pour tous, 14.01.2013, LVN)

In den Kontroversen um den passenden Ausdruck verbirgt sich der Kampf um die Durchsetzung der eigenen Perspektive und um die gesellschaftliche Etablierung der entsprechenden Position. In diesem Kampf um die sprachlich-diskursive Konstruktion der Familie sind auffallend viele Akteure involviert, nicht nur Politiker, Journalisten, Wissenschaftler, Vertreter der Kirche und sonstiger nichtregierender Organisationen, sondern jedermann mit seinen Vorstellungen, Anforderungen und Interessen, denn Familie ist im Unterschied zu anderen Themen für die Mehrheit der Menschen direkt erfahrbar. Wenn man bedenkt, dass die sprachliche Konstruktion öffentlicher Kontroverse für deren Deutung besonders relevant ist, bietet sich heutzutage die Familie als sehr umfassender, äußerst umstrittener gesellschaftlicher Bereich gut für eine linguistische Analyse an.

Diese Arbeit stellt sich nicht zum Ziel, allein durch eine linguistische Analyse die eklatanten gesellschaftlichen Veränderungen im Bereich der modernen Familie bzw. die entsprechenden Handlungen der gesellschaftlichen Akteure zu erklären. Es geht vielmehr darum, die Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre im gesellschaftlichen Diskussionsfeld Familie aus linguistischer Perspektive zu beschreiben. Dabei kann die systematische Untersuchung von Sprachgebrauch die Vorgänge der sprachlichen Wirklichkeitskonstruktion im Hinblick auf den gewählten Gegenstand ‚Familie im Gegenwartsfrankreich‘ aufzeigen und somit einen Beitrag zur Offenlegung der sich in der Sprache manifestierenden kollektiven Denkmuster einer bestimmten, raumzeitlich definierten Gesellschaft leisten (s. § 1.2.1.). Die im Rahmen der folgenden Analyse ermittelten Schlagwörter solo, mère célibataire, famille monoparentale, démariage, marâtre, parentalité, famille recomposée und einige mehr dienen in diesem Sinne als Interpretationsschlüssel, denn sie markieren den Diskurs, tragen zur begrifflichen Konstruktion umstrittener Sachverhalte aus dem gewählten Diskussionsfeld bei und geben zugleich Aufschluss über die kollektiven Einstellungen und Wertungen der involvierten gesellschaftlichen Gruppierungen. ← 15 | 16 →

Die vorliegende, empirisch fundierte Arbeit ist in sieben Kapitel aufgeteilt. Nach einer Einleitung, die sich hauptsächlich den theoretischen Grundlagen, den Prämissen und der Methodik der Analyse widmet (§ 1.), wird der Begriff der Familie aus sozialwissenschaftlicher Sicht knapp skizziert (§ 2.). Dabei richtet sich der Blick vorwiegend auf die auffälligsten Veränderungen der familiären Lebensformen der westlichen Welt in den letzten fünfzig Jahren, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen darzustellen, die den außersprachlichen Kontext der untersuchten Aussagen bilden. Es folgt die Darstellung der Ergebnisse der linguistischen Analyse, die sich über vier Kapitel erstreckt. Nach der Lektüre des gesamten Referenzkorpus wurde das gesamtgesellschaftliche Diskussionsfeld Familie aus forschungspraktischen Gründen in einige sich dabei herauskristallisierte thematische Schwerpunkte aufgeteilt, sodass sich die einzelnen Kapitel mit der Darstellung eines jeweils einheitlich verlaufenden Diskursstranges befassen. So ist Kapitel drei der Analyse der sprachdiskursiven Konstruktion des Singledaseins im Kontext des zeitgenössischen (Presse-) Diskurses um die Familie gewidmet, während Kapitel vier die vielfältige Welt der modernen Paarbeziehungen (Zusammenlebende, Verheiratete, Geschiedene, getrennt-Lebende usw.) erforscht. Eine definitive Trennung zwischen den Diskurssträngen vorzunehmen erweist sich als äußerst schwierig bis impraktikabel, denn Diskurse verlaufen parallel zueinander und sind genau in ihrer Verflechtung und in ihren Wechselbeziehungen sinnstiftend. So greifen die Diskursstränge stark ineinander, die den Gegenstand der Kapitel fünf und sechs darstellen: Kapitel fünf beschäftigt sich mit der sprachlichen Konstruktion des Begriffs ‚Mutter‘ im Gegenwartsfrankreich, wobei es den Diskurs über die moderne Elternschaft in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen (leibliche Väter und Mütter, gleichgeschlechtliche Eltern…) miteinschließt, während sich Kapitel sechs auf die Patchwork-Familie konzentriert und den heutigen Diskurs über die Stiefelternschaft und über die sonstigen, teilweise sehr komplexen Rollen (Quer-, Stief-, Halb-, Ex-Verwandte) in dieser Familienkonstellation beleuchtet. Anschließend stellt Kapitel sieben eine Synthese der gewonnenen Ergebnisse dar, indem die aus untersuchungspraktischen Gründen getrennten Diskursfäden wieder zusammengezogen werden, um die dominierenden Tendenzen und die typischen sprachlichen Strategien im aktuellen französischen (Presse-)Familiendiskurs herauszuheben. Die Darstellung weiterführender Forschungsdesiderata und ein Ausblick schließen die Arbeit ab.

Die vorliegende Arbeit wäre ohne die Unterstützung und die Anregungen zahlreicher Freunde und Kollegen nie entstanden, denen ich an dieser Stelle herzlichst danken möchte. Mein größter Dank gilt Prof. Dr. Edgar Radtke, der sich vom Anfang an von der Idee dieser Untersuchung begeistern ließ und meine Fortschritte ← 16 | 17 → immer fachkundig und ermutigend begleitete. Ausdrücklich danken möchte ich auch meinen damaligen Heidelberger Kollegen und Freunden Prof. Dr. Sybille Große, Prof. Dr. Martina Schrader-Kniffki, Dr. Till Stellino für die vielen bereichernden Gespräche und für ihre beinahe unendliche Geduld, und den Herausgebern der Reihe „Studia Romanica et Linguistica“ Prof. Dr. Elmar Schafroth und seinen Mitherausgebern für die Aufnahme meiner Arbeit in diese Reihe.

Schließlich möchte ich hier ganz besonders meinem Mann, der sich von stapelweise Literatur über Scheidungen und Stiefverwandtschaften auf meinem Schreibtisch nicht erschüttern ließ, und meinen beiden Kindern danken, denen die Durchführung dieser Arbeit sicherlich sehr viel gemeinsame Zeit gekostet hat, die mich dennoch immer motivieren konnten, weiterzumachen.


1 S. eine im Januar 2010 vorgestellte Umfrage des Ifop-Instituts (Institut français d’opinion publique, URL: www.ifop.fr).

2 Vgl. die Biographische Datenbank Munzinger (www.munzinger.de).

3 Man denke beispielsweise auch an Roger Vadim mit seinen fünf Ex-Frauen und seinen aus je unterschiedlichen Beziehungen stammenden vier Kindern, die sich alle angeblich bestens miteinander vertrugen: „Je me souviens d’une émission ahurissante de « La marche du siècle », au début des années 90, qui décrivait ces tribus idylliques: le comédien Roger Vadim y racontait combien toutes ses ex-femmes, tous ses enfants s’entendaient selon lui à merveille.“ (La famille décomposée, 29.05.2008, LP). Unter den weiteren, in Frankreichs besonders bekannten prominenten Beispielen zählen auch die Familien von Laeticia und Johnny Hallyday, Bruce Willis und Demi Moore, Carla Bruni und Nicolas Sarkozy, Jane Birkin und Serge Gainsbourg usw.

4 Dieser Beitrag von Hermanns über die Semantik von ‚Krieg‘ und ‚Sieg‘ diente insgesamt als Inspirationsquelle für unsere einführende Darstellung der Semantik von ‚Familie‘.

5 Die hier in Kursiv angegebenen Bezeichnungen sind nur einige Beispiele der Neuwortbildungen, die sich im Rahmen der durchgeführten diskurslinguistischen Analyse als besonders diskursrelevant erwiesen haben.

6 Hervorhebung durch Unterstreichung: D.P.

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1. Einleitung

1.1. Einführende Bemerkungen zur Familie und Sprache

„La plus ancienne de toutes les sociétés, et la seule naturelle, est celle de la famille“ (Rousseau 1791: 4). So bezeichnete Jean-Jacques Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag die Familie als die älteste aller Gemeinschaften und die einzige natürliche. Die Tatsache, mindestens einmal im Leben Bestandteil einer Familie zu sein, ist durchaus eine der verbreitetsten menschlichen Erfahrungen aller Zeiten. Obwohl verschiedene Epochen und Regionen sehr unterschiedliche Familienmodelle aufweisen und die Ausgestaltung des familiären Lebens interkulturell sehr variabel ist, kann die Familie als ein universales Phänomen angesehen werden: Im Laufe der Menschheitsgeschichte sind Gesellschaften, die scheinbar ohne jegliche Form der Familie ausgekommen sind, extrem selten und kurzlebig (etwa der Fall des Stammesvolkes der Nayar in Indien oder das moderne Experiment der Kibbuzim in Israel). Das Bedürfnis, eine Familie zu gründen – unabhängig von ihrer speziellen Form, Struktur und Funktion – gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen und ist mit seiner Natur als homo socialis, mit seiner Gesellschaftlichkeit und seiner Affektivität eng verbunden. Darüber hinaus wird das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, als eine der gemeinsamen Werte Europas in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt, bekräftigt und geschützt.7

Allerdings hat sich die Familie in den vergangenen Jahrhunderten grundlegend verändert, sodass sich aus den verschiedenen Formen der Großfamilie der vorindustriellen Zeit zunächst das Modell der klassischen Kernfamilie (Vater-Mutter-Kind) etabliert hat, welches wiederum in den letzten Jahrzehnten – zumindest in den westlichen Industrieländern – den Stellenwert der dominierenden Lebensform verloren und sich in eine Vielfalt heterogener Familienkonstellationen aufgelöst hat. Der Begriff ‚Familie‘ stellt somit heutzutage ein viel diskutiertes gesamtgesellschaftliches Thema dar, das die Öffentlichkeit maßgeblich prägt und an dessen Debatte sich sehr unterschiedliche Akteure beteiligen. Im öffentlichen Diskurs um die gegenwärtigen Formen, Strukturen und Funktionen der Familie konvergieren verschiedene Perspektiven, Interpretationen und Interessen, die sich letztlich auf zahlreiche Sachgebiete zurückführen lassen: Der Familiendiskurs (im Sinne des ← 19 | 20 → Diskurses über die Familie) konstituiert sich aus unterschiedlichen Bereichen, u.a. denen der Soziologie, der Psychologie, der Anthropologie, der Politik- und der Geschichtenwissenschaft, der Jurisprudenz und der Theologie. Darüber hinaus wird der institutionelle Charakter der Familie auch von normativen Festlegungen bestimmt, sodass der Familiendiskurs einen wichtigen Bestandteil des öffentlich-politischen Kommunikationsbereichs darstellt. Der Familiendiskurs kann aber nicht ausschließlich als Fach- bzw. Spezialdiskurs verstanden werden, denn er konstituiert sich vielmehr im Aufeinandertreffen mit dem Alltagsdiskurs. Im Unterschied zu anderen gesamtgesellschaftlich relevanten Themen, deren Wissen in der Regel nur aufgrund von Beschreibungen vermittelt werden kann (man denke bspw. an die Gentechnik oder an die aktuelle Diskussion um den Klimawandel),8 besitzt der Begriff der Familie eine stark ausgeprägte alltägliche Komponente. Die alltagsweltliche Vorstellung der Wirklichkeit ‚Familie‘ ist nicht – oder nicht nur – das Ergebnis der interdiskursiven Vermittlung (fach)wissenschaftlich begründeter Gegenstände bzw. Sachverhalte, sondern beruht größtenteils auf der jeweiligen individuellen Erfahrung als Mitglied irgendeiner Familienform. So ist letztlich neben den wissenschaftlichen Experten, den Politikern und den Journalisten auch jedes Gesellschaftsmitglied jeweils als Elternteil, Sohn bzw. Tochter, Bruder bzw. Schwester oder Verwandter jeglicher Art mit seinen eigenen Vorstellungen, Erfahrungen und Interessen in den Familiendiskurs involviert.

Obwohl von Familie schon immer die Rede war, hat die öffentliche Diskussion um die Familie in den letzten Jahren eine deutlich erkennbare Dynamisierung durchlebt, und das Profil der Diskurse um die Familie hat sich demzufolge maßgeblich verändert und differenziert. Heutzutage kreisen die Debatten hauptsächlich um die vermeintliche Krise der Institution Familie und deren Funktion, insbesondere was die gesellschaftlichen Auswirkungen der immer wieder beklagten Instabilität der Ehe und des drastischen Rückgangs der Geburtenraten anbelangt. Außerdem stehen Chancen und Risiken des Heiratens bzw. des Wieder-Heiratens, des Kinderkriegens, des Single-Daseins, der rechtlichen Anerkennung nicht-ehelicher Partnerschaften, der doppelten Belastung berufstätiger ← 20 | 21 → Mütter, der Stiefelternschaft, des Adoptionsrechts für Alleinstehende und gleichgeschlechtliche Paare usw. im Mittelpunkt. Darüber hinaus dreht sich eine weitere aktuell geführte Debatte um die Frage, ob von der ‚Familie‘ in der Einzahl oder von den ‚Familien‘ in der Mehrzahl die Rede sein soll, also um die Opposition zwischen einer einzigen, als Idealform angesehenen, traditionellen Familie und einer Vielfalt an Typologien des familialen Zusammenlebens, denen je nach der im Diskurs vertretenen Position der Familienstatus zugeschrieben bzw. verweigert wird. Die öffentlich geführten Diskussionen reflektieren somit die unterschiedlichen Ansichten und die ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen von ‚Familie‘ der aus zum Teil sehr verschiedenen Sach- und Kommunikationsbereichen stammenden Diskursbeteiligten, die um die Etablierung ihrer jeweiligen Anschauungen und um deren gesellschaftliche Tragweite kämpfen. Der Diskurs um die Familie des 20. bzw. des 21. Jahrhunderts, so wie er in den Sozialwissenschaften, in der Religion, in der Politik oder auch in den Medien geführt wird, hat demnach die Herausbildung sehr differenzierter Familienbegriffe zur Folge. Ausschlaggebend für die vorliegende Untersuchung ist dabei die Feststellung, dass zahlreiche Debatten, die derzeit den Familiendiskurs prägen, hauptsächlich Definitionsfragen betreffen: Es ist die Definition des Familienbegriffs selbst (mit je nach ideologischem Standpunkt unterschiedlicher Hervorhebung der Komponenten der Partnerschaft, der Elternschaft, der Hausgemeinschaft oder der Verwandtschaft), welche den Diskursgegenstand konstituiert, indem sie die semantischen Grenzen des Diskurses setzt und thematisiert, was überhaupt als ‚Familie‘ verstanden werden kann. Somit rückt die sprachlich-begriffliche Dimension der Familie in den Mittelpunkt, welcher bisher – im Gegensatz zur Realität des familialen Zusammenlebens mit seinen heterogenen Erscheinungsformen – kaum (sprach)wissenschaftliches Interesse entgegengebracht wurde. Dabei stellt gerade das Zusammenspiel zwischen sprachlich-begrifflichen Aspekten der Familie auf der einen Seite und den tatsächlichen, außersprachlichen familialen Lebensformen auf der anderen Seite einen wesentlichen Faktor für die Konstruktion der Familie der Gegenwart dar. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Anforderungen der zeitgenössischen Familie mündet in die diskursive Ausarbeitung neuer Familienbegriffe, in deren Rahmen der sprachlichen Konstitution der umstrittenen Gegenstände bzw. Sachverhalte eine zentrale Rolle zuzuschreiben ist. ‚Familie‘ und sämtliche Ausdrücke, mit denen über Familie geredet wird, sind weit mehr als bloße Bezeichnungen, die Realität abbilden. Genauso dienen die Bedeutungsdimensionen des Begriffs der Familie und seiner Typologien nicht nur als Indikatoren der Veränderungen innerhalb der tatsächlichen, „außersprachlichen“ Familienerscheinungsformen. Sie wirken ← 21 | 22 → sich vielmehr selbst auf die Entwicklung der Familie der Gegenwart aus, indem sie die Bewusstseinskonstruktion der zeitgenössischen Familie prägen und somit sowohl unsere sprachliche als auch unsere außersprachliche Wahrnehmung steuern.9

Diese Auffassung basiert auf der Annahme, dass die Sprache kein neutrales Ausdrucksmedium einer ontologisch gegebenen Realität ist. Vielmehr verläuft der Prozess der Wirklichkeitskonstituierung primär über die Verwendung der Sprache, über sprachliche Objektivierungsformen (s. Köller 2004): „Sprache erscheint nicht nur als Medium der Erfassung von Wirklichkeit, sondern als Mittel zur Konstruktion von Wirklichkeit“ (Warnke 2009: 116).10 Was den Familiendiskurs betrifft, gilt auch hier, trotz der wesentlichen Rolle des primären Erlebens von Gefühlen, Verhältnissen und Geschehnissen, dem Medium Sprache eine schöpferische Funktion anzuerkennen, denn, wie bereits Felder (2009b: 5) in Bezug auf einem weiteren alltagsweltlichen Phänomen – das der Liebe – und seiner sprachlichen Ausdrucksseite schlüssig feststellt,

„Weltbilder werden selbstredend auch außersprachlich durch primäre Erfahrungen geprägt. Sie werden allerdings darüber hinaus zu einem erheblichen Teil über unsere interaktional ausgetauschten und sprachlich gefassten Erfahrungen, Einstellungen und Erlebnisse geprägt – also beispielsweise durch das Reden über Liebe. Sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten von Sprachzeichen, wie sie in sprachlichen Äußerungen zum Einsatz kommen, bedienen sich des Mediums Sprache, das seine Gegenstände erst entstehen lässt.“

Die vorliegende Arbeit ist als empirische Untersuchung der sprachlichen Strukturiertheit des aktuellen Familiendiskurses am Beispiel Frankreichs konzipiert. Ziele, Methoden und zugrunde liegende theoretische Ansätze werden im Folgenden dargelegt. Dabei sei es hier bereits vorweggenommen, dass es in den folgenden Paragraphen (§ 1.2.1.–1.2.5.) hauptsächlich darum geht, die für die Durchführung dieser Untersuchung wichtigsten, von unterschiedlichen Theoretikern erarbeiteten Konzepte, Methoden und Instrumente knapp und prägnant zu schildern, auf deren Grundlage diese Analyse entstanden ist, ohne dem ← 22 | 23 → Anspruch genügen zu wollen, die (sprach)theoretischen Überlegungen dieser Linguisten und Sprachphilosophen umfassend darzustellen und ausführlich zu diskutieren. Im Anschluss daran werden die Fäden aus diesen zahlreichen Impulsen zusammengeführt, um die eigene Konzeption einer „diskursiv basierten Semantik“ vorzustellen (§ 1.2.6.).

1.2. Untersuchungsdesign und Forschungsmethodik

1.2.1. Über soziohistorische Zusammenhänge, prägende Wirkung der Sprache und mentalité

Die Familie ist einerseits universell, andererseits sehr vielfältig, was ihre Strukturen und Organisationsformen betrifft. Es muss zunächst festgehalten werden, dass ‚Familie‘ sich nur in Bezug auf eine bestimmte Gesellschaft und Kultur definieren lässt, denn das Verständnis von familialen Lebensformen entwickelt sich immer aus einem spezifischen sozialen Kontext heraus. Der Familienbegriff, der dieser Arbeit zugrunde liegt, bezieht sich demnach nicht auf die universelle Institution ‚Familie‘ im Allgemeinen, sondern auf das historisch nachvollziehbare und lokalisierbare Familienverständnis einer gewissen Kultur, und zwar die der französischen Gesellschaft der Gegenwart. Die vorliegende Untersuchung setzt sich zum Ziel, die sprachlich-diskursive Konstitution des gesamtgesellschaftlich relevanten Gegenstands ‚Familie‘ innerhalb der zeitgenössischen französischen Sprachgemeinschaft zu ergründen. Im Mittelpunkt der Analyse steht die Untersuchung des Sprachgebrauchs (insbesondere der Lexik), um durch die systematische Beobachtung des Wortgebrauchs einer bestimmten Kollektivität zu einer gegebenen Zeit die sprachlichen Vorgänge von Bedeutungskonstitution und Bedeutungswandel, Benennung und Bezeichnung sowie die sprachliche Wirklichkeitskonstruktion insgesamt im Hinblick auf den gewählten Forschungsgegenstand ‚Familie‘ zu erschließen.

Ausgangspunkt der Analyse bietet die Annahme der Sprachbedingtheit des Denkens und der bewusstseinsspiegelnden und -prägenden Wirkung der Sprache. Die Interdependenz zwischen der Verwendung von Sprache und der Konstituierung von Wirklichkeit wurde bereits von Wilhelm von Humboldt mit seiner These des engen Zusammenhangs der Verschiedenheit der Sprachgebräuche mit der Verschiedenheit der Weltansichten angedeutet:

Details

Seiten
548
ISBN (ePUB)
9783631738511
ISBN (PDF)
9783653066074
ISBN (MOBI)
9783631738528
ISBN (Hardcover)
9783631674529
DOI
10.3726/b12563
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Diskurslinguistik Pressediskurs Familie / aktuelle Familie Diskurssemantik Französisch semantischer Wandel
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien. 2018. 548 S., 3 farb., 3 s/w Abb., 29 s/w Tab.

Biographische Angaben

Daniela Pietrini (Autor:in)

Daniela Pietrini ist Privatdozentin für Romanische Sprachwissenschaft an der Universität Heidelberg, an der sie Französische und Italienische Sprachwissenschaft lehrt. Zurzeit vertritt sie die Professur für Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Diskursanalyse, die Varietäten- und Textlinguistik, die Mediensprache und -kommunikation sowie die Wortbildungslehre. Sie hat bereits eine Monographie über die Sprache der italienischen Disneycomics und mehrere Artikel und Sammelbände über das Gegenwartsitalienische und –französische publiziert.

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Titel: Sprache und Gesellschaft im Wandel
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