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Haftungsprivilegierung der Geschäftsleitung durch fachkundige Beratung

Entwicklung eines gesellschaftsrechtlichen Vertrauensgrundsatzes unter Berücksichtigung anglo-amerikanischen Rechts

von Björn Müller (Autor:in)
©2016 Dissertation 370 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch beschäftigt sich mit der Haftungsprivilegierung der Geschäftsleitung durch fachkundige Beratung. Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften sind auf praxisnahe Enthaftungsmethoden angewiesen. Hierzu greifen sie regelmäßig auf fachkundige Berater zurück. Ziel der Untersuchung ist es, einen allgemeinverbindlichen Vertrauensgrundsatz im Kapitalgesellschaftsrecht zu entwickeln. Die dargelegten Anforderungen sollen dem ratsuchenden Geschäftsleiter eine Handlungsmaxime an die Hand geben, bei deren Befolgung er nicht vor risikobehafteten Geschäften zurückschrecken muss. Anglo-amerikanische Rechtsprechung und Literatur wird hierzu in die Untersuchung als Auslegungshilfe mit einbezogen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungsverzeichnis
  • Einleitung
  • A) Die Problematik des Vertrauens auf eine fachkundige Beratung
  • B) Ziel der Untersuchung
  • C) Gang der Untersuchung
  • Kapitel 1: Haftungsprivilegierung des Schuldners durch die Beauftragung eines Beraters innerhalb vertraglicher Schuldverhältnisse?
  • A) Allgemeines
  • B) Der Verschuldensmaßstab nach § 276 BGB
  • C) Unvermeidbarer Rechts- oder Tatsachenirrtum
  • I. Rechtsirrtum
  • 1) Eindeutige Rechtslage
  • 2) Umstrittene Rechtslage
  • II. Tatsachenirrtum
  • III. Ordnungsgemäß eingeholte Beratung
  • 1) Die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Beratung im Überblick
  • a) Auswahl des Beraters
  • b) Information des Beraters
  • c) Überprüfung des Rates
  • 2) Problemlage bei Vorliegen eines unvermeidbaren Irrtums
  • IV. Drittschadensliquidation
  • V. Verschuldenszurechnung nach § 278 S. 1 BGB
  • 1) Sonderverbindung
  • 2) Erfüllungsgehilfeneigenschaft
  • 3) Handeln in Erfüllung der Verbindlichkeit
  • 4) Verschulden des Erfüllungsgehilfen
  • VI. Zwischenergebnis
  • D) Zusammenfassung
  • Kapitel 2: Grundlagen der Haftungsprivilegierung im Kapitalgesellschaftsrecht
  • A) Die Haftung der Geschäftsleitung
  • I. Die Innenhaftung der Geschäftsleitung
  • II. Unternehmerische Entscheidungen i. S. d. § 93 I 2 AktG
  • III. Die Außenhaftung der Geschäftsleitung
  • IV. Verschärfung der Haftung und deren Geltendmachung
  • 1) Allgemeine Regelung
  • 2) Verschärfung durch die Rechtsprechung
  • 3) Verschärfung durch den Gesetzgeber
  • a) Geltendmachung der Ansprüche durch eine Aktionärsminderheit
  • b) Weitere gesetzliche Maßnahmen
  • 4) Steigendes öffentliches Interesse
  • 5) Der Mittelweg einer angemessenen Haftung
  • B) Allgemeiner Sorgfaltsmaßstab
  • C) Erforderliche Qualifikationen der Geschäftsleitung
  • I. Allgemeine Kenntnisse
  • II. Ressortabhängige Kenntnisse
  • III. Hinzuerwerb der im Einzelfall notwendigen Kenntnisse durch einen Berater
  • 1) Zulässigkeit der Beratung im Einzelfall
  • 2) Keine Überinvestition in Berater
  • a) Gebundene Entscheidungen
  • b) Unternehmerische Entscheidungen
  • 3) Weitere Möglichkeiten der Informationsbeschaffung
  • IV. Zusammenfassung
  • D) Pflicht zur Einholung eines fachkundigen Rates
  • I. Gebundene Entscheidungen
  • 1) Rechtsrat
  • a) Offensichtliche rechtliche Zweifel
  • b) Keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit
  • 2) Sonstiger fachkundiger Rat
  • II. Unternehmerische Entscheidungen
  • III. Zusammenfassung
  • E) Möglichkeit einer Haftungsentlastung
  • I. Bestehen einer Enthaftungsmöglichkeit
  • 1) Strenges Einstehen für Expertenrat
  • 2) Notwendigkeit einer Haftungsprivilegierung im Einzelfall
  • 3) Nichterkennbarkeit der Problemlage
  • II. Gebundene Entscheidungen
  • 1) Allgemein
  • 2) Ausschluss des Verschuldens aufgrund eines unvermeidbaren Irrtums
  • a) Rechtsprechung des BGH
  • b) Vergleichbarkeit mit der Business Judgment Rule
  • c) Keine unmittelbare oder analoge Anwendung der Business Judgment Rule
  • d) Keine Vergleichbarkeit zur Delegation einzelner Maßnahmen
  • e) Gesetzesverstöße begründen Pflichtverletzungen des Organmitglieds
  • 3) Zusammenfassung
  • III. Unternehmerische Entscheidungen
  • IV. Zusammenfassung
  • F) Keine Zurechnung des Beraterverschuldens nach § 278 S. 1 BGB
  • I. Beratungsvertrag im Namen der Gesellschaft
  • II. Die Hilfstätigkeit im Interesse der Gesellschaft
  • III. Gerechte Risikoverteilung
  • IV. Zusammenfassung
  • Kapitel 3: Die Voraussetzungen des Vertrauensgrundsatzes
  • A) Grundsätze einer ordnungsgemäßen Entscheidung
  • B) Beratungsbedarf
  • I. Fehlende Sachkunde des ratsuchenden Geschäftsleitungsmitglieds
  • 1) Erkannte fehlende eigene Sachkunde
  • 2) Fähigkeiten zur Erkennung der fehlenden Sachkunde
  • a) Beratungsbedarf im Rahmen konkret geplanter Maßnahmen
  • b) Beratungsbedarf außerhalb konkret geplanter Maßnahmen
  • II. Offene Rechtslage
  • III. Mangelnde Kapazität
  • IV. Zusammenfassung
  • C) Sorgfältige Auswahl des Beraters
  • I. Fachliche Sachkunde des Beraters
  • 1) Allgemeine Kompetenz
  • a) Berufsträgereigenschaft
  • b) Formalqualifikationen
  • aa) Rechtlicher Rat
  • (1) Zulassung zum Rechtsanwalt
  • (2) Zulassung zum Fachanwalt
  • bb) Sonstiger fachkundiger Rat
  • c) Auskunft einer Behörde
  • d) Sonstige Qualifikationsnachweise
  • aa) Rechtlicher Rat
  • bb) Sonstiger fachkundiger Rat
  • 2) Gesellschaftsinterner oder -externer Rat
  • 3) Gemischte rechtliche und tatsächliche Fragestellungen
  • a) Juristischer Ratgeber
  • b) Fachgutachter
  • 4) Zusammenfassung
  • II. Persönliche Zuverlässigkeit des Beraters
  • 1) Die grundsätzliche Bedeutung des Merkmals „Unabhängigkeit“
  • a) Keine Beeinflussung durch den Auftraggeber oder von Dritten
  • b) Keine sachfremden Erwägungen und Eigeninteressen des Beraters
  • 2) Vorbefassung des Beraters
  • a) Erfordernis einer nochmaligen Überprüfung?
  • b) Vermutung der Unabhängigkeit des Erstellers
  • 3) Die Unabhängigkeit der eigenen Rechtsabteilung
  • a) Der Syndikusanwalt
  • b) EuGH-Rechtsprechung
  • c) Strafrechtliche Bewertung
  • d) Kapitalgesellschaftsrechtliche Bewertung
  • aa) Die Stellung des Syndikusanwalts im Unternehmen
  • bb) Rechtliche Grundlagen des Syndikusanwalts
  • cc) Gefahr der Abhängigkeit des Syndikusanwalts
  • dd) Weisungsabhängigkeit des Syndikusanwalts
  • ee) Wirtschaftliche Abhängigkeit des Syndikusanwalts
  • ff) Diverse zu berücksichtigende Unternehmensinteressen
  • gg) Outsourcing
  • hh) Zusammenfassung
  • 4) Sonstige Unternehmensangehörige
  • 5) Die Unabhängigkeit eines Aufsichtsratsmitglieds
  • 6) Exkurs: Objektivität von Ratingagenturen
  • III. Selbstständige Auswahl des Beraters
  • IV. Subjektiv/objektiver Auswahlmaßstab
  • V. Zusammenfassung
  • D) Sachverhaltsdarstellung
  • I. Fehlerhafte Information
  • II. Lückenhafte Information
  • 1) Bewusstes Auslassen
  • 2) Unbewusstes Auslassen
  • III. Informationserteilung
  • 1) Informationsverantwortung des Ratsuchenden
  • 2) Gesellschaftsinterner Rat
  • IV. Zusammenfassung
  • E) Plausibilitätskontrolle
  • I. Allgemein
  • II. Grundsätzliche Überwachungspflicht des Ratsuchenden
  • III. Intensität der Überprüfungsverpflichtung
  • 1) Begriffsbestimmung
  • 2) Anforderungen des BGH
  • 3) Flexibler Prüfungsmaßstab
  • 4) Anforderungen im Allgemeinen
  • a) Kenntnisnahme des Rates
  • b) Überprüfung der dem Rat zugrunde liegenden Informationen
  • c) Vollständige Abdeckung der geplanten Maßnahme
  • d) Inhaltliche Überprüfung auf offensichtliche Mängel und Begründungslücken
  • aa) Offensichtliche Einseitigkeit oder Widersprüchlichkeit des Gutachtens
  • bb) Überprüfung der Entscheidungsgrundlagen
  • cc) Intensität der Überprüfungsanforderungen in anderen Rechtsordnungen
  • IV. Steigende Anforderungen aufgrund auftretender Mängel oder Zweifel
  • 1) Erfolgreiche Beseitigung der Zweifel
  • 2) Verbleibende Zweifel
  • V. Zu geringes Fachwissen des ratsuchenden Geschäftsleiters
  • VI. Erhöhtes Fachwissen des ratsuchenden Geschäftsleiters
  • VII. Plausibilitätskontrolle in Fachgebieten außerhalb des regulären Geschäftsleiterwissens
  • VIII. Anforderungen an die Plausibilitätskontrolle in ausgewählten Fachgebieten
  • 1) Technischer Rat
  • 2) Unternehmensbewertung
  • 3) Rating
  • IX. Selbstständige Durchführung
  • X. Zusammenfassung
  • F) Weitere Voraussetzungen
  • I. Konkrete Festlegung des Auftragsinhalts
  • II. Einzuhaltende Form des Rates
  • 1) Kein vollumfängliches Schriftformerfordernis
  • 2) Speziell: Stegreifauskünfte
  • III. Dokumentation
  • IV. Besondere Voraussetzungen in Bezug auf die jeweils zu erfüllende Pflicht
  • V. Zweiter Rat
  • Kapitel 4: Rechtsfolgen
  • A) Eindeutiges Ergebnis der Beratung
  • B) Verbleibende Ungewissheiten – Offene Rechts- bzw. Tatsachenlage
  • C) Berücksichtigung eines hypothetischen Kausalverlaufs
  • D) Regress des Geschäftsleiters
  • Fazit
  • A) Ergebnisse der Untersuchung in Thesen
  • B) Schlussbemerkung
  • Literaturverzeichnis
  • Verzeichnis sonstiger verwendeter Materialien

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Abkürzungsverzeichnis

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Einleitung

A)  Die Problematik des Vertrauens auf eine fachkundige Beratung

Geschäftsleiter von Kapitalgesellschaften sehen sich mit einer wachsenden Inanspruchnahme auf Schadensersatz konfrontiert. In einem Artikel aus der Wirtschaftswoche heißt es hierzu: „Regressforderungen – Jetzt sollen die Manager bezahlen“.1 Zwar kann nicht von einer Haftungswelle gegenüber Geschäftsleitern gesprochen werden, dennoch machen Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung Regressansprüche immer öfter geltend. Dies vor allem gegen bereits ausgeschiedene Geschäftsleitungsmitglieder.2 Bis vor einigen Jahren stellte sich dies noch ganz anders dar, sodass von einem „juristischen Papiertiger“ gesprochen wurde, den die gesetzlich kodifizierte Geschäftsleiterhaftung aufgrund der fehlenden praktischen Relevanz darstellte.3 Dieses Bild ist mittlerweile überholt.

Neben der gestiegenen Inanspruchnahme durch die Gesellschaften sind auch unterschiedliche Verschärfungen des materiellen Rechts durch den Gesetzgeber erfolgt. Zuletzt haben die Verwerfungen der Leitungsebenen internationaler ← 23 | 24 → Gesellschaften, insbesondere im Bankensektor, die im Jahre 2007 zur Weltwirtschaftskrise führten, erneute Haftungsverschärfungen im Rahmen des VorstAG4 und des RestrukturierungsG5 hervorgerufen. Die Geschäftsleiterhaftung als Binnenhaftung stellt sich vor allem aufgrund einer partiellen Beweislastumkehr insgesamt bereits als streng dar. Organmitglieder müssen selbst ihr pflichtgemäßes Handeln oder zumindest ein nicht schuldhaftes Handeln darlegen. Besonders prekär für die in Anspruch genommenen Geschäftsleitungsmitglieder ist zudem, dass die durch die Gesellschaft geltend gemachten Schadenssummen vielfach extreme Höhen erreichen.6

Viele Pflichtverletzungen der Organmitglieder beruhten und beruhen häufig auf einer nicht ausreichenden Informationsbeschaffung im Rahmen der Entscheidungsvorbereitung. Die durch die Globalisierung vorangetriebene internationale Verflechtung sowohl der Wirtschaft als auch der rechtlichen Systeme unterschiedlicher Staaten, aber auch allgemeine Gesetze supranationaler Organisationen wie etwa der Europäischen Union führen zu einer enormen Steigerung zu beachtender Gebote, sodass sich Organmitglieder immer weitergehenden Pflichten ausgesetzt sehen. Dies führte zu einer Verrechtlichung der unternehmensleitenden Tätigkeit. Ein Geschäftsleiter steht somit vor einer allein nur schwer zu bewältigenden Aufgabe. Jede Entscheidung muss sorgfältig vorbereitet werden. Dabei sind sämtliche gesetzlichen Normen, jedoch auch tatsächliche Voraussetzungen oder technische Gegebenheiten zu beachten. Geschäftsleiter sind somit zwingend auf die Hilfe Dritter angewiesen, da sie weder ein allumfassendes Fachwissen besitzen noch alle Tätigkeiten alleine ausführen können. Ein Vorstandsmitglied kann gemäß § 93 IV 1 AktG seine Schadensersatzpflicht gegenüber der Gesellschaft von Anfang an ausschließen, wenn die Maßnahme auf einem gesetzmäßigen Beschluss der Hauptversammlung beruht. Ein solcher Beschluss kann jedoch nicht für jede Maßnahme des Alltagsgeschäfts eingeholt werden. Daher sind Geschäftsleitungsmitglieder auf weitergehende und praxisnahe Enthaftungsmethoden angewiesen.

Allgemein anerkannt ist daher, dass insbesondere Geschäftsführungsaufgaben auf Dritte delegiert werden dürfen. Um den vielfältigen Aufgaben nachzukommen, die ← 24 | 25 → teilweise von den Organmitgliedern selbst ausgeführt werden müssen, kommt neben einer solchen Delegation jedoch auch die Beauftragung eines fachkundigen Beraters in Betracht. Aufgrund der steigenden Anforderungen an die Unternehmensleitertätigkeit greifen immer mehr Geschäftsführer bzw. Vorstände auf gutachterliche Stellungnahmen zurück, um ihrer fehlenden eigenen Rechts- bzw. Fachkunde entgegenzuwirken, gesetzliche Vorschriften befolgen zu können und somit eine eigene Haftung zu vermeiden. Der Berater erfüllt hierbei nicht die Aufgabe des Geschäftsleiters selbst, sondern wird im Rahmen der sorgfältigen Entscheidungsfindung und -vorbereitung unterstützend tätig. In den vergangenen Jahren beauftragten immer mehr Geschäftsleiter immer häufiger Gutachter zur Absicherung ihrer Entscheidungen. Man kann gar von einer „beispiellosen Welle von (Vorrats-) Gutachten jeglicher Art in Vorstands- und Aufsichtsratsetagen“ sprechen.7

Eine durchgeführte Beratung kann sich in besonderem Maße verhaltenssteuernd auf die Entscheidungsfindung der Geschäftsleitung auswirken. So ist in einem medizinischen Artikel detailliert analysiert worden, dass der Rat eines Experten nachweisbar neurobiologische Auswirkungen hat.8 Problematisch hierbei ist, dass die Studie auch feststellte, dass die Beratenen anschließend selbst nur noch eine geringe eigene Bewertung der Situation durchführten und die Bereiche des Gehirns, die für das Treffen von Werturteilen zuständig sind, weniger aktiv waren. Doch muss gerade ein totaler Verantwortungsentzug vermieden werden. Die Geschäftsleitung bleibt weiterhin für die geplante Maßnahme selbst verantwortlich. Ein blindes Vertrauen auf einen Rat erfüllt sicherlich nicht die Sorgfaltsanforderungen aus §§ 93 I 1 AktG, 43 I GmbHG.

Die Problematik des Vertrauens auf Expertenrat wurde bis zum Jahr 2007 in der zivilrechtlichen Literatur kaum diskutiert. Auch die Rechtsprechung musste sich mit diesem Thema nur wenig auseinandersetzen. Zudem enthält das deutsche Kapitalgesellschaftsrecht keine Antwort auf diese Frage. Lediglich in einem Urteil aus dem Jahre 1994 führte der BGH beispielsweise kurz und knapp aus, dass ein Geschäftsführer einer GmbH, der nicht über ausreichende Kenntnisse zur Überprüfung der Konkursantragspflicht verfügte, sich notfalls fachkundig beraten lassen müsse.9 ← 25 | 26 →

Unter welchen Voraussetzungen kann also ein Vorstandsmitglied oder ein Geschäftsführer dazu verpflichtet sein, seine eigenen fehlenden Kenntnisse durch die Beauftragung eines Experten zu erweitern, welche „Wissensorganisationspflichten“10 treffen ihn? Hieran anknüpfend stellt sich eine für Geschäftsleitungsmitglieder bedeutende und zugleich praxisrelevante Frage: Kann sich der Geschäftsleiter bei Erfüllung seiner Aufgaben in dem Maße auf einen Berater verlassen, dass er – selbst wenn sich die ausgeführte Maßnahme anschließend als fehlerhaft herausstellt – mit der Begründung, er habe alles ihm Mögliche getan und sei dem Rat eines Experten gefolgt, eine Haftungsprivilegierung erreicht?

Die höchstrichterliche Rechtsprechung musste sich mit diesem Thema im Jahre 2007 erstmals ausführlicher beschäftigen. Dort legte sie Grundregeln fest, unter welchen Voraussetzungen ein berechtigtes Vertrauen auf Expertenrat und eine hieran anknüpfende Haftungsprivilegierung der Geschäftsleitung möglich ist. Demnach müsse sich ein Vorstand unter „umfassender Darstellung der Verhältnisse der Gesellschaft und Offenlegung der erforderlichen Unterlagen von einem unabhängigen, für die zu klärende Fragestellung fachlich qualifizierten Berufsträger beraten lassen“ und das Ergebnis einer Plausibilitätskontrolle unterziehen.11 Im konkreten Fall konnte sich ein Vorstand einer Aktiengesellschaft entlasten, da er sich auf ein Gutachten berief, das er selbst von einem Wirtschaftsprüfer angefordert hatte und das zu dem Ergebnis gelangte, dass er keinen Insolvenzantrag stellen müsse. Tatsächlich war die Gesellschaft jedoch bereits materiell insolvent und der unterlassene Insolvenzantrag war objektiv als Pflichtverletzung anzusehen.

Nach einem weiteren Urteil im Jahr 2007 erregte die ISION-Entscheidung des BGH im Jahre 2011 besonderes Aufsehen. Der BGH knüpfte an seine Rechtsprechung an, ließ jedoch wesentliche Punkte ungeklärt. Infolgedessen setzten sich vermehrt wissenschaftliche Aufsätze mit diesem Thema auseinander und versuchten, die Grundregeln des BGH weiterzuentwickeln.

Die noch junge Diskussion im deutschen Kapitalgesellschaftsrecht ist in anderen Rechtsordnungen bereits fortgeschrittener. So finden sich vor allem im angloamerikanischen Rechtsraum vermehrt Rechtssätze, die diese als „reliance defence“ bekannte Doktrin gesetzlich kodifizieren. Fleischer, der sich bereits mit Aufkommen des ersten Urteils des BGH zu dieser Problematik mit dem Thema der Arbeit beschäftigte, hat zur Weiterentwicklung der Verhaltensanforderungen ← 26 | 27 → vielfach Gesetze, Rechtsprechung und Aufsätze des angloamerikanischen Rechtsraumes herangezogen.12 Im Rahmen dieser Arbeit wird daher auch auf ausländische Rechtssätze zurückgegriffen. Die hierzu ergangenen Entscheidungen der Rechtsprechung und die wissenschaftlichen Aufsätze werden mit in die Untersuchung eingebunden.13 Zwar können und sollen diese Regeln nicht gänzlich übernommen werden, jedoch können sie als Auslegungs- und Interpretationshilfe dienen. Denn Rechtssysteme, die sich bereits häufiger mit diesem Thema befasst haben, können vielfach Problemlagen aufzeigen und haben bereits eigene Lösungsansätze entwickelt. Daher bleibt auch zu überlegen, ob eine gesetzliche Kodifizierung eines Vertrauensgrundsatzes nicht vorteilhaft oder gar notwendig wäre.14

B)  Ziel der Untersuchung

Ziel der Untersuchung ist es – in Fortführung der vom BGH aufgestellten Grundvoraussetzungen und durch eine ausführliche Analyse sowohl der gerichtlichen Entscheidungen als auch der wissenschaftlichen Beiträge – einen allgemeinverbindlichen „Vertrauensgrundsatz im Kapitalgesellschaftsrecht“15 zu entwickeln. ← 27 | 28 → Die hier dargelegten Anforderungen sollen dem ratsuchenden Geschäftsleiter eine Handlungsmaxime an die Hand geben, bei deren Befolgung er nicht vor risikobehafteten Geschäften zurückschrecken muss, sodass weiterhin unternehmerisches Handeln gefördert und somit unternehmerischer Erfolg ermöglicht wird. Dabei müssen die gewählten Voraussetzungen ein sorgfältiges Handeln sicherstellen, ohne den Ratsuchenden zu überfordern. Weder sollen hierdurch „Gefälligkeitsgutachten“, die lediglich eine „Feigenblattfunktion“ einnehmen, gefördert werden noch soll es dem Geschäftsleiter unmöglich gemacht werden, eine sorgfältige Entscheidungsvorbereitung durchzuführen.

Doch nicht nur die Voraussetzungen im Einzelnen sollen erläutert werden, sondern ebenso die allgemeine dogmatische Struktur einer möglichen Haftungsprivilegierung. Erfüllt etwa der Geschäftsleiter mit sorgfältiger Beauftragung eines Beraters bereits seine Sorgfaltspflichten, sodass eine Pflichtverletzung abzulehnen wäre oder verbleibt ihm die Berufung auf einen schuldausschließenden Rechts- bzw. Tatsachenirrtum?

Wird die Diskussion der Beratung zumeist auf rechtlichen Rat begrenzt, sollen hier auch die Besonderheiten von sonstigem fachkundigen Rat wie wirtschaftlichem oder technischem Rat aufgezeigt werden. Zudem sollen die in der Literatur diskutierten Fragen geklärt werden. Ungeklärt ist etwa, ob Angestellte der eigenen Rechtsabteilung als Berater beauftragt werden dürfen. Als wohl problematischste Voraussetzung ist die vom BGH geforderte Plausibilitätskontrolle anzusehen. Hierzu soll erforscht werden, welche Anforderungen an eine Plausibilitätskontrolle zu stellen sind, ob es stets einer intensiven Überprüfung bedarf oder ob diese sogar in bestimmten, einfach gelagerten Situationen gänzlich entbehrlich ist.

Details

Seiten
370
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783653069914
ISBN (ePUB)
9783653956764
ISBN (MOBI)
9783653956757
ISBN (Hardcover)
9783631676301
DOI
10.3726/978-3-653-06991-4
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
Unabhängigkeit Hypothetischer Kausalverlauf Plausibilitätskontrolle Syndikusrechtsanwalt
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 370 S.

Biographische Angaben

Björn Müller (Autor:in)

Björn Müller studierte Rechtswissenschaften an der Universität Trier und der University of Sheffield. Bereits während seines Studiums legte er seinen Schwerpunkt auf das Unternehmensrecht. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier und wurde dort promoviert.

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