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Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur

von Goran Lovrić (Band-Herausgeber:in) Marijana Jeleč (Band-Herausgeber:in)
©2016 Sammelband 282 Seiten

Zusammenfassung

Dieser Band versammelt Beiträge der literaturwissenschaftlichen Konferenz «Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur», die im Mai 2015 an der Universität Zadar (Kroatien) stattfand. An Fallbeispielen deutschsprachiger Literatur sowie anderer Nationalliteraturen, die eine Verbindung zur deutschen Geschichte, Kultur und Nation aufweisen, machen die Beiträge die thematische und motivische Vielfalt des zeitgenössischen Familien- bzw. Generationenromans sichtbar. Zum Vorschein kommen genretypische und thematische Einheiten, wie die Häufung von Frauen als Autorinnen und Protagonistinnen der Familiengeschichten sowie der Kontext der Minderheiten- und Migrantenliteratur bzw. der inter- und transkulturellen Literatur.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • Neva Šlibar - Frauen schreiben Familiengeschichte(n). Von Monika Maron bis Katja Petrowskaja
  • Barbara Siller - Mütterlicherseits. Generationenromane und Geschlechter
  • Marijan Bobinac - Julia Francks Familienromane
  • Goran Lovrić - Kontinuitäten und Diskontinuitäten in deutschsprachigen Familiennarrativen kroatischstämmiger Autorinnen
  • Sonja E. Klocke - Die Familie erinnern, die (untergehende) DDR erinnern: Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie
  • Anne Schülke - Früchte des Zorns. Über Gattung und Geschlecht im Kontext des zeitgenössischen Familienromans
  • Stéphane Maffli - »Ich möchte unsere Verschiedenheit verstehen« Darstellungsformen intergenerationeller Kommunikation in Melinda Nadj Abonjis Migrationsroman Tauben fliegen auf
  • Marijana Jeleč - Formen der Vergangenheitsbewältigung in ausgewählten zeitgenössischen österreichischen Generationenromanen
  • Slavija Kabić - Lebensgeschichten der drei Meister im Roman Abendland von Michael Köhlmeier
  • Silvana Burke - »Was ich nicht sehen kann, muss ich erfinden« Marcel Beyers Spione und die Folgen ausbleibender Verständigung über die Vergangenheit im Kontext der Familie
  • Harald Gschwandtner - »Fontane hat das vielleicht noch gekonnt« Familiennarrativ und Gattungspolemik bei Peter Handke
  • Sandra Annika Meyer - »Meine Familie ist im Ausland wie Glas zerbrochen« Heimatverlust und Identitätsstiftung in transkulturellen Familiennarrativen
  • Francisca Solomon - Bukowinische Familiengeschichte(n) als Vergangenheitsrekonstruktion traumatisch bedingter Erfahrungen
  • Magdalena Baran-Szołtys, Marianne Windsperger - Galicia revisited: Spurensuche als Generationenerzählung in der deutschsprachigen, polnischen und jüdisch-amerikanischen Gegenwartsliteratur
  • Ana Nenadović - Von Generation zu Generation. Erinnerungen slawischer Minoritäten im gegenwärtigen Roman
  • Angaben zu den Autorinnen und Autoren

| 7 →

Einleitung

Der vorliegende Sammelband versammelt Beiträge der literaturwissenschaftlichen Konferenz „Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur“, die im Mai 2015 an der Universität Zadar, Kroatien, stattfand.

Die Konferenz widmete sich der traditionsreichen Gattung des Familienromans, die seit der Wende im Jahre 1989 und insbesondere seit der symbolträchtigen Jahrhundertwende in der deutschsprachigen Literatur eine wahre Renaissance erlebt. Offenbar lösten die äußeren Beweggründe besonders bei Enkeln und Urenkeln als Autoren und Erzählern der Werke den Wunsch nach Speicherung der Familiengeschichte und den der Gattung immanenten Aufarbeitungs- und Erinnerungsprozess aus.

Das Ziel der Konferenz war, die neuesten Entwicklungen, sowie die thematische und motivische Vielfalt des Familienromans in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu reflektieren und dies an Fallbeispielen aufzuzeigen. Die Betonung lag dabei auf thematischen und strukturellen Aspekten des Familienromans, sowie auf der Definition und den Gattungsgrenzen und Überschneidungen des Familien- und Generationenromans. Da der zeitgenössische Familienroman zumeist drei oder mehr Generationen umfasst, erscheint der Termin Generationenroman für solche Werke, die auch als Speicher und Medien des familiären und kulturellen Gedächtnisses fungieren, treffender. Der Termin Familienroman bezieht sich hingegen mehr auf Werke, die sich mit dem Strukturwandel der Familie in einer oder zwei Generationen befassen. Im Laufe der Konferenz wurden Merkmale, spezifische Differenzen und Gemeinsamkeiten dieser verwandten Gattungen an einzelnen Werken ausfindig gemacht und immer wieder Blicke auf den ihnen immanenten autobiographischen, historischen und fiktionalen Diskurs eröffnet.

Die Konferenz bot gleichermaßen einen geeigneten Rahmen für die Präsentation von Fallbeispielen aus Nationalliteraturen deutschsprachiger Länder und einzelner komparatistischer Vorträge zu Familien- und Generationenromanen aus Literaturen, die eine Verbindung zur deutschen Geschichte, Kultur und Nation aufweisen und in die deutsche Sprache übersetzt wurden.

Die Autoren der Werke, die im Laufe der Konferenz in die Diskussion eingebracht wurden, gehören weitgehend zur jüngeren und mittleren Generation, während die Erzähler in den Werken vornehmlich Teil der dritten dargestellten Familiengeneration sind. In den Beiträgen wird die Sichtweise der Nachkommen auf die Familiengeschichte, sowie die Einstellungen und das Verhalten ihrer Vorfahren, die als Träger der Erinnerungen und des familiären Familiengedächtnisses ← 7 | 8 → dargestellt werden, in geschichtsträchtigen Zeiten untersucht. Dabei wird die These aufgestellt und bestätigt, dass der durch Verdrängungsmechanismen gestörte Umgang mit der Familienvergangenheit gleichermaßen in Opfer- und Täterfamilien zu Kommunikationsstörungen zwischen den Generationen und damit zum Verlust von Tradition und Identität führt. Doch je mehr der jüngsten Generation vorenthalten wird, desto größer wird ihr Interesse an der Familiengeschichte und die Motivation für das Erzählen und Erinnern als Mittel der Neudefinition ihrer eigenen Identität, wobei die Familiengeschichte als Vergangenheitskonstruktion oder -rekonstruktion erscheint.

Die Konferenz brachte auch einige thematische Einheiten zum Vorschein, wie z.B. die große Anzahl von Beiträgen, die sich mit Frauen als Autorinnen und Protagonistinnen der Familiengeschichten befassen.

Neva Šlibars einführender Beitrag „Frauen schreiben Familiengeschichte(n). Von Monika Maron bis Katja Petrowskaja“ macht auf diese Vielzahl an deutschsprachigen Familienromanen aufmerksam. Im Mittelpunkt stehen der geschlechtsspezifische Umgang mit Lebensgeschichten, Familiennarrativen, Erinnerungsdiskursen und Strukturierungsmodi von Faktischem und Fiktionalem, sowie die geschlechtsbedingten Differenzen in der Wahl von ProtagonistInnen, Thematik, Konstruktionsprinzipien und mitgeschriebenen Genrereflexionen. Šlibar fest, dass heute prekärer denn je die vom Genre her suggerierte Erzähllogik von Kontinuität, Kausalität und Identitätskonstruktion, gerade im Hinblick auf die Konstitution weiblicher Familiengeschichten, zum Vorschein kommt. Auf einige dieser Werke wird auch in den Beiträgen von Marijan Bobinac, Sonja Klocke, Goran Lovrić, Marijana Jeleč, Stéphane Maffli, Anne Schülke, Barbara Siller und Ana Nenadović näher eingegangen.

Barbara Siller illustriert in ihrem Beitrag „Mütterlicherseits. Generationenromane und Geschlecht“ am Beispiel der Romane Mütterlicherseits (2010) von Helene Flöss und Wir sind die Früchte des Zorns (2013) von Sabine Scholl die Geschlechterspezifik im Generationenroman, die bislang zugunsten der männlichen Perspektive weniger Beachtung fand. Die Perspektive ist in beiden Werken die einer Ich-Erzählerin, die eine hohe Sensibilität für Geschlechterdifferenzen entwickelt (in Scholls Roman) und die Erfahrungswelten und Erziehungsmuster weiblicher Figuren in den Vordergrund des Erzählten stellt (in Flöss’ Roman). Vor dem Hintergrund der Kategorien Generationen, Erinnerungen und Geschlechter eruiert Siller am Beispiel dieser Werke Aspekte, die den männlich dominierenden Generationenbegriff auf literarischer Ebene erweitern, in Frage stellen und konterkarieren.

Marijan Bobinac untersucht im Beitrag „Julia Francks Familienromane“ anhand der Romane Lagerfeuer (2003), Die Mittagsfrau (2007) und Rücken an Rücken ← 8 | 9 → (2011) wie sich die allgemeine Geschichte im Medium der Familie und erlittener individueller Traumata literarisch fortschreiben lässt. Die Protagonisten erscheinen als verstörte, aus prekären familiären Verhältnissen stammende Menschen, die nach keinen politisch-ideologischen Überzeugungen handeln aber trotzdem in die Zwickmühle von Politik und Ideologie geraten, wobei dunkle Seiten der deutschen Geschichte (insbesondere das Dritte Reich und die DDR) von Franck in einer familiär-biographischen, mehrere Generationen umfassenden Perspektive thematisiert werden. Große, geschichtsbewegende Ereignisse kommen nur als Hintergrundgeschehen vor, während die Frage wie Menschen im Alltag leben und überleben im Vordergrund steht.

Goran Lovrić erkundet „Kontinuitäten und Diskontinuitäten in deutschsprachigen Familiennarrativen kroatischstämmiger Autorinnen“ am Beispiel von Adriana Altaras’ Titos Brille (2011), Alida Bremers Olivas Garten (2013) und Jadranka Marinićs Restaurant Dalmatia (2013). In diesen Familiennarrativen werden Schicksale kroatischer Familien und somit auch die kroatische Geschichte von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart dargestellt. Im Mittelpunkt stehen dabei politisch und wirtschaftlich bedingte Diskontinuitäten, die sich von Generation zu Generation wiederholen und somit an sich eine Kontinuität darstellen. Kontinuitäten werden wiederum über die intergenerationelle Weitergabe von Erfahrungen hergestellt, was durch die direkte Kommunikation zwischen Familienmitgliedern und anhand unterschiedlicher Medien der Erinnerung erfolgt.

Sonja E. Klocke untersucht im Beitrag „Die Familie erinnern, die (untergehende) DDR erinnern: Marion Braschs Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie“ wie in diesem 2012 erschienenen autobiografischen Roman das Schicksal der in der DDR politisch und künstlerisch bedeutenden Familie Brasch dargestellt wird. Analysiert werden die Funktion des Romans als Speicher und Medium des kulturellen Gedächtnisses, sowie die Fragen inwiefern Kommunikationsstörungen innerhalb der Familie politische Bedeutung erlangen und wie sich die Erzählerin (narratologisch) positioniert und so ihre Identität formt. Während der Bezug auf die Familie autobiografisch legitimierte Wahrheitsansprüche geltend macht, ermöglicht die Gattungsbezeichnung „Roman“ der Autorin die Einfügung fiktionaler Anteile.

Anne Schülke widmet sich in ihrem Beitrag „Früchte des Zorns. Über Gattung und Geschlecht im Kontext des zeitgenössischen Familienromans“ der Identitätskonstruktion und -dekonstruktion, sowie dem Wirken von Gattungs- und Geschlechtszuschreibungen am Beispiel des Romans Wir sind die Früchte des Zorns (2013) von Sabine Scholl. Im Roman, der von der Kritik häufig als „feministischer ← 9 | 10 → Familienroman“ bezeichnet wird, werden tradierte Elemente autobiographischen Erzählens sichtbar gemacht und kommentiert. Historische Ereignisse werden stichworthaft benannt und geben den meist weiblichen Figuren eine zeitspezifische Kontur, während die Erzählerin metaliterarisch den Schreibprozess reflektiert und ihn motivisch mit „typischer“ Frauenarbeit in Verbindung bringt.

Eine andere thematische Einheit bilden Beiträge, die sich im Rahmen des komparativen Ansatzes der Konferenz mit Familienromanen im Kontext der Minderheiten- und Migrantenliteratur bzw. mit inter- und transkulturellen Familiengeschichten befassen, wie das in Beiträgen von Stéphane Maffli, Sandra Annika Meyer, Ana Nenadović, Francisca Solomon, Magdalena Baran und Marianne Windsperger der Fall ist.

Stéphane Maffli bearbeitet im Beitrag „Assoziatives Erzählen der Migration in Melinda Nadj Abonjis Familienroman Tauben fliegen auf“ die Darstellungsweise von zwei zentralen Motiven im Roman, der sich mit Migrationsschicksalen befasst: den Umgang mit einer prägnanten Erfahrung von Fremdenfeindlichkeit und die Verschiedenheit zwischen den Eltern und Ildikó, die in der Schweiz groß wurde, sich aber für ein Leben in diesem Land nicht entschieden hat und zwischen zwei Welten lebt. Maffli zeigt am Beispiel einer Schlüsselszene des Romans, wie die Erzählweise, die an sich Eigenschaften des Stream of Consciousness aufweist, die Aussagekraft der Fremdenfeindlichkeit und des Generationskonflikts, als zweier zentraler Thematiken, intensiviert.

Sandra Annika Meyer untersucht im Beitrag „‚Meine Familie ist im Ausland wie Glas zerbrochen.‘ Heimatverlust und Identitätsstiftung in transkulturellen Familiennarrativen“ ein junges Subgenre des Familienromans an drei Texten: Der Schwimmer (2004) von Zsuzsa Bánk, Warum das Kind in der Polenta kocht (2002) von Aglaja Veteranyi und Landschaften einer fernen Mutter (2001) von SAID. In den Werken werden mehrere aufeinanderfolgende Generationen dargestellt, während gleichzeitig die Texte mit einem monokulturellen Familienverständnis ebenso wie mit den Genregrenzen des Romans brechen. Das Erzählen wird, wie Meyer zeigt, zu einer narrativen Strategie der Kohärenzstiftung im zweifachen Sinne: Die Ich-Erzählerinnen (re)konstruieren das durch Heimatverlust und Migrationserfahrung brüchig gewordene soziale Konstrukt der Familie und erschaffen sich zugleich eine kohärente Ich-Identität in einem durch und durch prekären Umfeld.

Francisca Solomon analysiert in ihrem Beitrag „Bukowinische Familiengeschichte(n) als Vergangenheitsrekonstruktion traumatisch bedingter Erfahrungen“ die Mechanismen der jüdischen Identitätskonstruktion nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie im Spannungsfeld von Heimatverlust, Krieg, Deportation ← 10 | 11 → und Exil, und stellt sie am Beispiel ausgewählter Prosatexte und autobiographisch-dokumentarischer Berichte in deutscher, jiddischer, hebräischer und rumänischer Sprache dar. Diese Werke wurden von jüdischen Überlebenden aus der Bukowina oder ihren Nachkommen verfasst: Edgar Hilsenrath, Alexander Spiegelblatt, Aharon Appelfeld und Norman Manea. Die mentale Rückkehr an den Ort der Kindheit rekonstruiert eine Welt, die durch Krieg, Grenzverschiebungen, Vertreibung und Massenmord aufgelöst wurde und ausschließlich im Gedächtnis der Überlebenden aufbewahrt ist.

Im Mittelpunkt der Untersuchung von Magdalena Baran und Marianne Windsperger „Galicia revisited: Spurensuche als Generationenerzählung in der deutschsprachigen, polnischen und jüdisch-amerikanischen Literatur nach 1989“ stehen die einst im Habsburger Reich gelegene Provinz Galizien und ihre Rolle in Generationenerzählungen der Enkel jener Menschen, die diese Region hinter sich ließen. Die Bewegung der Enkel ist die einer Spurensuche, die immer wieder auf Abwesenheiten von Menschen und auf zerstörte Lebenszusammenhänge verweist. Baran und Windsperger untersuchen wie Materialien, die für die Rekonstruktion der Familiengeschichte herangezogen werden, den Raum Galizien als Erinnerungsraum formen, sowie Momente, in denen die Spannung zwischen Rekonstruktion und Imagination im Umgang mit tradierten Erinnerungen thematisiert wird.

Ana Nenadović befasst sich im Aufsatz „Der Generationenroman als Erinnerungsort. Geschichte und Tradition slawischer Minderheiten in Österreich“ mit den Werken dreier Autoren, die zu den Minderheiten der Kärntner Slowenen und Burgenländischen Kroaten gehören: Boštjans Flug (2005) von Florjan Lipuš, Engel des Vergessens (2011) von Maja Haderlap und Teta Jelka überfährt ein (Huhn) Hendl (2012) von Michaela Frühstück. Einzelne Charaktere repräsentieren ganze Generationen und anhand ihrer Familien wird die Geschichte dieser beiden vom offiziellen Diskurs in Österreich häufig vergessenen Minoritäten dargestellt. Im Beitrag werden die Bedeutung und Funktion des Generationenromans als Erinnerungsort nationaler Minderheiten in Österreich analysiert, aber auch die zentrale Rolle der Frauen als Hüterinnen der Tradition und Sprache der beiden Volksgruppen hervorgehoben.

Fallbeispiele für Familiengeschichten mit unterschiedlichen Motiven und Hintergründen namhafter österreichischer und deutscher Autoren stellen die Beiträge von Marijana Jeleč, Slavija Kabić, Harald Gschwandtner und Silvana Burke dar.

Marijana Jeleč bearbeitet in ihrem Beitrag „Formen der Vergangenheitsbewältigung in ausgewählten zeitgenössischen österreichischen Generationenromanen“ die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf je eine österreichische, (halb)jüdische und slowenische Familie, und den problematischen Umgang ihrer ← 11 | 12 → Generationen mit der traumatischen Familienvergangenheit am Beispiel der Romane von Arno Geiger Es geht uns gut (2007), Eva Menasse Vienna (2007) und Maja Haderlap Engel des Vergessens (2011), die sich durch eine Verschränkung von teils autobiographisch begründeter privater und nationaler Geschichte auszeichnen. Jeleč geht den Fragen nach, wie und warum die Nachkommen als Erzähler Zugänge zur Familienvergangenheit herstellen, wie sich die Kriegserlebnisse der Vorfahren auf die Familien ausgewirkt haben und welche Lehren daraus gezogen wurden.

Slavija Kabić analysiert im Aufsatz „Lebensgeschichten der drei Meister im Roman Abendland von Michael Köhlmeier“ den 2007 erschienenen Generationenroman über zwei ungleiche Familien, in denen Männer im Mittelpunkt stehen: Carl Jacob Candoris, ein exzentrischen Mathematiker, Weltbürger und Jazz-Fan und sein Biograph Sebastian Lukasser.

Candoris beschreibt drei Personen (die „Meister“), die das Leben beider Familien stark beeinflusst haben. Im ständigen Wechsel von Erzählen und Zuhören, von Privatem und Historischem entsteht ein vielschichtiges Portrait des 20. Jahrhunderts. Kabić geht näher auf die Funktion der Lebensgeschichten der drei Meister auf Grundlage individueller und kollektiver (jüdischer) Gedächtnis- und Erinnerungskultur ein.

Harald Gschwandtner befasst sich im Beitrag „‚Fontane hat das vielleicht noch gekonnt.‘ Zu Familiennarrativ und Gattungspolemik bei Peter Handke“ mit Handkes Familiendrama Immer noch Sturm (2010). Mit Bezügen zu früheren Werken wie Wunschloses Unglück (1972) und Die Wiederholung (1986) entwirft Handke darin eine Befragung seines Verhältnisses zur eigenen Familiengeschichte, die gleichzeitig die Entstehung und Tradierung familiärer „Mythen“ beständig und kritisch hinterfragt. Im Beitrag wird Handkes Stück einerseits vor der Folie der Erzählstrategien des Familienromans und andererseits in Bezug auf Handkes Poetik als Form von „Familienliteratur“, die Genre und Sujet in spezifischer Weise interpretiert, untersucht.

Silvana Burke untersucht in ihrem Beitrag „‚Was ich nicht sehen kann, muss ich erfinden‘: Marcel Beyers Spione und die Folgen ausbleibender Verständigung über die Vergangenheit im Kontext der Familie“ die Kategorien „Erinnerung“ und „Gedächtnis“ anhand einiger Textbeispiele aus Beyers im Jahre 2000 veröffentlichtem Roman, in dem die identitätsstiftende Recherche der Familiengeschichte im Vordergrund steht. Im Verlauf des Romans erweisen sich aber selbst gesicherte Informationen über die Familie als fraglich, weshalb die Recherche und das Selbst des namenlosen Protagonisten jeden Anknüpfungspunkt mit der Realität verlieren. ← 12 | 13 → Die Analyse zeigt die erinnerungstheoretischen Implikationen dieses Scheiterns und welche Auswirkungen es auf die narratologische Struktur des Textes hat.

Insgesamt kamen bei der Konferenz zahlreiche Aspekte zeitgenössischer Familien- und Generationenromane zur Sprache, womit die schwer erfassbare Breite dieser Gattung, die nicht nur individuelle Familiengeschichten beinhaltet, sondern auch als Mikrokosmos und Spiegel der Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts fungiert, einmal mehr bestätigt wurde.

Details

Seiten
282
Jahr
2016
ISBN (ePUB)
9783631695159
ISBN (PDF)
9783653069983
ISBN (MOBI)
9783631695166
ISBN (Hardcover)
9783631678565
DOI
10.3726/978-3-653-06998-3
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (September)
Erschienen
Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2016. 282 S.

Biographische Angaben

Goran Lovrić (Band-Herausgeber:in) Marijana Jeleč (Band-Herausgeber:in)

Goran Lovric´ ist Außerordentlicher Universitätsprofessor an der Germanistikabteilung der Universität Zadar, Kroatien. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte umfassen die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die Narratologie. Marijana Jelecˇ ist Dozentin an der Germanistikabteilung der Universität Zadar, Kroatien. Ihre Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, die Darstellung der Familie in der Literatur sowie die literarische Inszenierung von Geschichte.

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Titel: Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur
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