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Erinnerung, Schuld und Neubeginn

Deutsche Literatur im Schatten von Weltkrieg und Holocaust

von Jochen Vogt (Autor:in)
©2014 Monographie XII, 437 Seiten

Zusammenfassung

Das «gespenstische Nachleben» des Faschismus beklagt 1959 der Philosoph Theodor W. Adorno; dass die «deutsche Nachkriegsliteratur» ebendies zu ihrem Thema gemacht hat, konstatiert wenig später der Erzähler Heinrich Böll. Die mehr als zwanzig Essays dieses Bandes, verfasst zwischen 1980 und 2012, spüren diesem historischen, sozialpsychologischen und literarischen Zusammenhang nach. Sie zeigen, wie die westdeutsche «Nachkriegsliteratur» wegweisend und stellvertretend für Staat und Gesellschaft agierte, die sich dieser Aufgabe nur zögerlich stellten. Stand dabei zunächst die Kriegserfahrung im Vordergrund, so rückte Mitte der 1960er Jahre der später so benannte Holocaust in den Blick, und wieder sind es dann Literatur und Theater, die der juristischen und wissenschaftlichen «Aufarbeitung der Vergangenheit» wichtige Impulse geben und sie verstärken.
Dieser Band geht diesen Fragen im historischen Überblick wie in detaillierten Einzelanalysen nach; besonderes Interesse gilt Klassikern der Nachkriegsliteratur wie Heinrich Böll und Peter Weiss, aber auch Autoren der nachfolgenden Generation wie Bernward Vesper, Christoph Meckel oder Uwe Timm. Die Studien fragen nach der historischen Leistung der Nachkriegsliteratur, ihrem Beitrag zu einer post- und nichtfaschistischen deutschen Identität, aber auch nach ihren Defiziten und Unzulänglichkeiten, und reflektieren schließlich ihre Ablösung durch vielfältige neue Themen, Formen und Schreibweisen seit Anfang der 1980er Jahre.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Abbildungen
  • Ein Vorwort im Rückblick
  • Was aus dem Mädchen geworden ist. Kleine Archäologie eines Gelegenheitstextes von Anna Seghers
  • 1. „Wer erzählt hier eigentlich?“
  • 2. Was ist wirklich geschehen?
  • 3. „Mariage Blanc“
  • 4. Verwischte Spuren
  • 5. „… missing from a camp near Lublin“
  • 6. Geschichte(n) eines Adjektivs
  • 7. Die Kraft der Schwäche
  • Damnatio memoriae und „Werke von langer Dauer“. Zwei ästhetische Grenzwerte in Brechts Exillyrik
  • Die Schuld der anderen. Ein Modell der Verarbeitung von Kriegserfahrung in der frühen Nachkriegszeit
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • Ein Minimalprogramm der Poesie? Überlegungen, auch didaktischer Art, zu Günter Eichs Epochengedicht Inventur
  • 1. „Im Jahre 1939 wurde er Soldat“
  • 2. Ein ziemlich komplexer Minimalismus
  • 3. Was er keinem verrät
  • 4. Diese Mütze ist eine Mütze
  • 5. Und dies ist …
  • Lebst Du noch? Und wohnst Du schon? Luftkrieg, Wiederauf bau und Architekturkritik bei Heinrich Böll
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • Hersbruck Transfer. Hans Werner Richters Sie fielen aus Gottes Hand zwischen Epochenroman und Sozialreportage
  • „Nicht mehr mitspielen, nie mehr vergessen“. Nonkonformistische Motive in Romanen der Adenauer-Zeit
  • Nur das Opfer kann die Täter verstehen. Über Zugehörigkeitsprobleme bei Peter Weiss. Mit einem Postscriptum
  • Postscriptum 1991
  • „Er projizierte die inneren Bilder auf Tafeln …“ Sprachkrise, Exilerfahrung und Filmarbeit bei Peter Weiss
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • Treffpunkt im Unendlichen? Über Paul Celan und Peter Weiss
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • 7.
  • 8.
  • 9.
  • Der unbekannte Gründervater. Endlich gibt es eine Biographie von Fritz Bauer
  • Gestörte Beziehung. Berührungen und Berührungsängste zwischen Literatur und Studentenbewegung
  • Wir Kinder von Murks und Coca Cola. Über Bernward Vespers Lebens- und Todesbuch Die Reise
  • „Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt …“ Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher
  • 1. Vorspiel auf dem Dachboden
  • 2. Generationsdiskurs?
  • 3. Erzählmuster
  • 4. Fehlende Väter
  • 5. Gespräch und Gedächtnis
  • 6. „Weit weg vom Schuß“
  • 7. Was nun?
  • Große Verweigerung, kleine Genüsse. Heinrich Bölls Utopie des nicht entfremdeten Alltags
  • Wie auf den Schultern eine Last von Scheitern. Einführung in den Roman Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • Was nicht in den Büchern steht. Christa Wolf zum 75. Geburtstag. Ein Vortrag im Brecht-Haus
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • Orientierungsverlust oder neue Offenheit? Deutsche Literatur in Ost und West. Ein Vortrag zum 9. November 1994
  • Zwischenbemerkung
  • „Gesamtdeutsche Heulsuse“? Oder: Der Streit um Christa Wolf
  • „Ideologische Müllabfuhr“. Oder: Die Debatte ums Ende der westdeutschen Nachkriegsliteratur
  • Schlussbemerkungen
  • Einmischung nicht mehr erwünscht? Ein Rückblick auf Heinrich Böll
  • 1.
  • 2.
  • 3.
  • 4.
  • 5.
  • 6.
  • 7.
  • Erzählen heißt Stricken mit Wörtern. Was man in Uwe Timms Entdeckung der Currywurst noch alles entdecken kann
  • Vermischte Nachrichten aus den „falschen Fuffzigern“. Generationsgeschichten von Christoph Meckel, Hans Ulrich Gumbrecht, Karl Heinz Bohrer, Ursula Krechel und Michael Rutschky
  • 1. Der Tote Tag
  • 2. Assoziationsgestöber und Welterklärung
  • 3. Selbstporträt des Theoretikers als kleiner Junge
  • 4. Ein Kampf ums Recht
  • 5. Offen für weitere Einträge
  • Nachweis der Erstpublikationen
  • Register
  • Danksagung
  • Reihenübersicht

← x | xi → Abbildungen

Abb. 1

Schulstraße (jetzt Karrillon-Straße), 1918 nach dem Bombenangriff. Historische Aufnahme eines unbekannten Fotografen. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Mainz.

Abb. 2

Das Mosaik in der Schulstraße: Foto aus den 1970er Jahren. Unbekannter Fotograf. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stadtarchivs Mainz.

Abb. 3

Die Erstfassung: Demokratische Post, Mexico, 1. August 1945, S. 8. Faksimile. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Stadt- und Landesbibliothek Dortmund.

Abb. 4

Der Dom zu Mainz. Foto: Joachim Ziemßen. Privatarchiv des Verfassers.

Abb. 5

Das zweite Denkmal. Foto: Joachim Ziemßen (1994). Privatarchiv des Verfassers.

Abb. 6

Deutsche Kriegsgefangene im Lager Sinzig im Mai 1945. Historische Aufnahme eines unbekannten Fotografen (1945). Es ist leider nicht gelungen, einen Inhaber der Urheberrechte zu ermitteln. Verfasser und Verlag bitten gegebenenfalls um Mitteilung.

Abb. 7

Brief an Paul Celan von Peter Weiss. Deutsches Literaturarchiv Marbach. Faksimile. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Frau Gunilla Palmstierna-Weiss, Stockholm.← xi | xii →

← xii | 1 → Ein Vorwort im Rückblick

„Es laufen zu viele Mörder frei und frech in diesem Lande umher, viele, denen man nie einen Mord wird nachweisen können. Schuld, Reue, Buße, Einsicht sind nicht zu gesellschaftlichen Kategorien geworden, erst recht nicht zu politischen. Vor diesem Hintergrund bildete sich etwas, das man inzwischen […] mit einem gewissen Abstand deutsche Nachkriegsliteratur nennen könnte.“1 So begann, ziemlich genau vor fünfzig Jahren, der Schriftsteller Heinrich Böll eine Vortragsreihe, die Bilanz und Programm seiner literarischen Arbeit, Selbstbeschreibung seiner Autorengeneration und kritische Analyse (west-)deutscher Gegenwart oder zumindest jüngster Vergangenheit war. In komprimierter Form umreißen die beiden Sätze aus den Frankfurter Vorlesungen von 1963 eine zeithistorische, sozialpsychologische und literarische Konstellation in der frühen Bundesrepublik, die bis heute trotz des großen Zeitabstandes und tiefgreifender historischer Verschiebungen nicht völlig aufgelöst ist. Dabei weist Böll recht zurückhaltend auf eine politische Funktion der Literatur und eine Rolle der Literaten hin, die man gelegentlich auch sehr viel offensiver als eine „Ersatzopposition“ oder als „Gewissen der Gesellschaft“ gedeutet hat. Gewiss gilt für die unmittelbare Nachkriegszeit wie auch für die „langen fünfziger Jahre“, dass die westdeutsche Literatur im Rahmen ihrer begrenzten Möglich- und Fähigkeiten immer wieder stellvertretend jene Fragen von „Schuld, Reue, Einsicht“ aufgeworfen und formuliert hat, die von der Gesellschaft als ganzer und von maßgeblichen Institutionen zumeist abgewehrt, ignoriert und verdrängt wurden.

Tatsächlich gerieten die Dinge jedoch zu eben der Zeit, als Böll sein Fazit bzw. seinen Rückblick auf die Adenauer-Ära formulierte, auf verschiedenen Ebenen und in beträchtlicher Breite in Bewegung – und dies ← 1 | 2 → gewiss nicht nur wegen der Ablösung des ersten Bundeskanzlers im gleichen Jahr. Nicht weit entfernt von der Frankfurter Universität, wo damals auch Theodor W. Adorno und Alexander Mitscherlich lehrten, wird – nach der Eröffnung im „Römer“ noch im Dezember 1963 – in den folgenden beiden Jahren der so genannte Auschwitz-Prozess, die „Strafsache gegen Mulka u. a.“ verhandelt werden, die der Hessische Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer gegen massive Widerstände in Justiz und Politik in Gang gesetzt hatte. Wenig später spielt das Schauspielhaus die provokativen Theaterstücke Der Stellvertreter von Rolf Hochhuth, das die Tatsache der Judenverfolgung zum ersten Mal auf die Bühne bringt, und Die Ermittlung von Peter Weiss, das auf dem Textmaterial des Auschwitzprozesses beruht. So bildet das Jahr 1963 eine markante Zäsur im überfälligen Verlauf der Auf klärung und des Umdenkens – in erster Linie durch den Prozess, der sich bis ins Jahr 1965 hinzog, und die ausführliche Berichterstattung darüber, aber auch durch Weiss’ dramatische Verarbeitung, die ihrerseits mit einer „gesamtdeutschen“ Simultanpremiere auf 14 Bühnen (davon vier in der Bundesrepublik) und einer von allen westdeutschen Rundfunkanstalten gesendeten Hörspieladaption noch im Herbst 1965 weiteste Verbreitung fand und wiederum lebhafte, ja erregte Debatten nach sich zog. Nicht nur für den Zeithistoriker Nobert Frei „markierte [der Auschwitz-Prozess] die wohl entscheidende gesellschaftliche Wende“2 im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Dies wird über sehr viel späteren, zweifellos ebenfalls wichtigen Impulsen, wie etwa der TV-Serie Holocaust (1979), neuerdings gern vergessen.

Als der Auschwitz-Prozess beendet war und Die Ermittlung aufgeführt wurde, also im Jahr 1965, diskutierte der Deutsche Bundestag in Bonn – sehr spät, aber auf einem danach kaum mehr erreichten argumentativen, moralischen und rhetorischen Niveau – über die zwanzig Jahre nach Kriegsende drohende Verjährung von Kapitalverbrechen aus den Nazijahren; ← 2 | 3 → eine Debatte, die zu der gesetzlichen Konsequenz führte, dass Morde nach bundesdeutschem Recht seither keiner Verjährungsfrist mehr unterliegen.

Soweit einige Momentaufnahmen aus den Jahren, die Jürgen Habermas, seinerzeit Assistent beim Philosophen Adorno, noch vor kurzem als „die wichtigste Periode der deutschen Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet hat, mit dem ausdrücklichen Hinweis auf ein „Klima verdichteter Zeitgenossenschaft“ in Frankfurt und Hessen.3 Davon haben sogar wir als neunzehnjährige Abiturienten damals und dort etwas gespürt, auch wenn wir vieles nicht verstanden haben.

Über den lokalpatriotischen Horizont hinaus ist festzuhalten, dass zu dieser Zeit spürbar, ernsthaft und unumkehrbar – und auch in verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren und Institutionen – die Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit begann oder vielmehr: sich beschleunigte und intensivierte, die in zahllosen Sonntagsreden der 1950er Jahre noch als „Vergangenheitsbewältigung“ beschworen worden war, für die wir dann seit den 1970er Jahren Begriffe wie Erinnerungs- oder Trauerarbeit zu verwenden lernten, und die wir inzwischen als einen Selbsterziehungsprozess der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft verstehen dürfen.

Damit sind die Probleme von damals, die Böll benannt hatte, gewiss nicht aus der Welt. Das mephistophelische Zitat „Und ist so gut, als wär’ es nicht gewesen“ klingt heute so falsch wie 1959, als Adorno es in seinem klassischen Essay Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit aufspießte und die zugrunde liegende Denkweise als „Zerstörung von Erinnerung“ namhaft machte.4 Dass es eine Vergangenheit gibt, die „nicht vergehen will“, haben wir später sowohl als Redewendung wie auch der Sache nach aus einer der Debatten – dem sogenannten Historikerstreit der 1980er Jahre – gelernt, aus denen sich der jahrzehntelange, mühsame und keineswegs geradlinige Weg jener Aufarbeitung zusammensetzte. Ein halbes Jahrhundert nach Bölls Frankfurter Vorlesungen kann es gerade deshalb ← 3 | 4 → nützlich sein, einige aktuelle Momentaufnahmen zu betrachten, die uns die fortdauernde Betroffenheit durch – wie auch die historische Distanz zu Naziherrschaft, Holocaust und Zweitem Weltkrieg vor Augen führen.

Während ich die Texte für diesen Band zusammengestellt habe, im Sommer 2013, forderte das Simon-Wiesenthal-Center in Wien in einem öffentlichen Aufruf, die letzten noch lebenden NS-Verbrecher zu ermitteln und anzuklagen. Staatsanwaltschaften und andere offizielle Stellen in der Bundesrepublik treffen entsprechende Maßnahmen. Dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern, zumeist um Wachpersonal unterer Dienstgrade aus Konzentrationslagern, insgesamt wohl weniger als hundert Personen handelt, die wegen ihres Alters von mehr als neunzig Jahren kaum noch eine faktische Bestrafung zu erwarten hätten, betont den symbolischen Charakter der Initiative.

Vor einem Münchner Schwurgericht kommt im gleichen Sommer nur mühsam der Strafprozess gegen das einzig überlebende Mitglied der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ in Gang, der zehn Morde, zumeist an türkisch- oder griechischstämmigen Mitbürgern, zur Last gelegt werden. In die Reihe unserer Schnappschüsse gehört dies Ereignis vor allem, weil die deutschen Behörden, von örtlichen Polizeidienststellen bis zu verschiedenen Landesämtern für Verfassungsschutz, ganz offensichtlich die Möglichkeit einer rechtsradikalen, neonazistischen Motivation oder gar Planung dieser Verbrechern sträflich ignoriert und damit die Ermittlungen verschleppt haben.

An ein und demselben Tag, am 26. September 2013, nimmt Bundespräsident Joachim Gauck zunächst in der Essener Villa Hügel an der Trauerfeier für den Unternehmer Berthold Beitz (geb. 1913), den langjährigen Vorsitzenden der Krupp-Stiftung teil, der als Fabrikdirektor während der Kriegsjahre zahlreiche jüdische Menschen vor Verfolgung und drohender Ermordung rettete und in Israel als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wird, – und wenige Stunden später, auf dem Hauptfriedhof in Frankfurt am Main, an der Bestattung von Marcel Reich-Ranicki (geb. 1920), der als polnischer, in Berlin aufgewachsener Jude das Warschauer Ghetto überlebt hatte und in den 1980er und 1990er Jahren zum populärsten (wenn auch umstrittenen) Literaturkritiker in der Bundesrepublik wie auch zum allseits gewürdigten „Zeitzeugen“ wurde.

← 4 | 5 → Bereits im März 2013 hatte das Zweite Deutsche Fernsehen seine dreiteilige Spielfilmproduktion Unsere Mütter, unsere Väter (Regie: Philipp Kadelbach) gesendet, die in lockerer Anlehnung an zeithistorische Abläufe die Schicksale einiger junger Deutscher vom Beginn bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg ausmalt, wobei das Geschehen an und hinter der „Ostfront“ im Vordergrund steht. Die Resonanz bei Publikum und Kritik ist sehr gespalten; der von Frank Schirrmacher, einem Schüler Reich-Ranickis und Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, forcierte Versuch, eine breite öffentliche Diskussion in Gang zu setzen – wie es sie 30 Jahre zuvor nach der Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie Holocaust gab – misslingt. Dass „ganz normale“ Deutsche in der Wehrmachtsuniform zu „Tätern“ wurden und auch für Kriegsverbrechen verantwortlich waren, wirkte noch in dramaturgischen oder visuellen Details schockierend, war aber von der zeitgeschichtlichen Forschung längst belegt; auch die provokatorische Wucht der sogenannten „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (in zwei Versionen von 1995 und 2001) wird vom Fernsehfilm nicht annähernd erreicht.

Im Spätsommer 2013 schließlich veröffentlicht die Hamburger Werbetexterin Jennifer Teege, 43 Jahre alt, ihr autobiographisches Buch Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen im Rowohlt Verlag. Darin berichtet sie von der zufälligen Entdeckung ihrer Herkunftsgeschichte: Als Tochter einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters war sie schon als Baby zur Adoption freigegeben und wuchs bei Pflegeeltern in Hamburg auf. Erst vor wenigen Jahren stieß sie – ganz zufällig – in einer öffentlichen Bibliothek auf einen Band, der ihr die Identität ihres Großvaters offenbarte: Amon Göth, geboren in Wien, NSDAP-Mitglied seit 1931 und wegen seiner Brutalität berüchtigter SS-Offizier, von 1942 bis 1944 Kommandant eines Konzentrationslager bei Krakau, wo er für hundertfach-willkürliche und offen sadistische Tötungen als „Schlächter von Plaszów“ berüchtigt war. Wegen Massenmords wurde er, wie auch der Auschwitzkommandant Rudolf Höß, im Jahr 1946 in Krakau zum Tode verurteilt und gehängt. Weder Göths Ehefrau, die geliebte Großmutter von Jennifer Teege, noch ihre Mutter hatten sie jemals mit ihrer Herkunftsgeschichte vertraut gemacht.

← 5 | 6 → Was wäre aus alldem zu lernen? Dass die Vergangenheit, diese Vergangenheit „nicht vergehen will“, dass sie – um an eine ältere literarische Formulierung zu erinnern – „nicht tot“ ist, ja „nicht einmal vergangen“,5 erweist sich immer wieder als wahr, kann aber auch zur Plattitüde werden, wenn die Gegenstände, die Formen und Perspektiven unserer Rückwendung nicht immer neu reflektiert werden. Ich möchte deshalb, ohne Anspruch auf Systematik oder Vollständigkeit, aber im Lichte gegenwärtiger Erfahrung, dreierlei festhalten.

Erstens: Die Fragen von „Schuld, Reue und Einsicht“, von denen Böll vor einem halben Jahrhundert sprach, sind inzwischen sehr wohl zu Kategorien unseres Selbstverständnisses als Deutsche und unseres persönlichen wie auch des offiziös verbreiteten Geschichtsbildes geworden – und längst auch eine tragende Säule der „Staatsräson“ der Bundesrepublik Deutschland. Sie fanden und finden permanent in den verschiedensten Formen und Medien ihren Ausdruck: vom Staatsakt und symbolischen Kniefall über wegweisende Ansprachen oder Bücher und wirkungsstarke Theaterstücke und Filme bis hin zu vielfachen familiengeschichtlichen Recherchen und Erzählungen.

Das wird – zweitens – auch deshalb möglich, weil die Dimension der individuellen wie der institutionellen und kollektiven Erinnerung in den letzten Jahrzehnten und in internationalem Maßstab eine neue, geradezu zentrale Bedeutung nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch für die populäre und private Kultur gewonnen hat. „Erinnerung“ oder auch „Gedächtnis“ ist spätestens seit den 1990er Jahren ein zentrales Paradigma kultureller Selbstdeutung und Vergewisserung, und damit unweigerlich auch zum Schlagwort geworden – und die Literatur ist beileibe nicht ← 6 | 7 → (mehr) das einzige oder vorherrschende, aber nach wie vor ein wichtiges und besonders subtiles Medium dieser Erinnerungsarbeit.

Drittens: Mit der wachsenden historischen Distanz zu Naziherrschaft, Weltkrieg und Holocaust gewinnt die Generationenfolge, auf der Täter- wie auch auf der Opferseite, ein besonderes Gewicht, weil sie die damaligen Ereignisse nicht nur zeitlich entrückt, sondern auch in wechselnde Perspektiven versetzt und dadurch wiederum neue und unterschiedliche Konflikt- oder Problemstrukturen zeitigt. Das zeigen in der Literatur die sogenannten Väterbücher um 1980, von denen auch in diesem Buch die Rede sein wird, ebenso deutlich wie, auf andere Weise, die das Absurde streifende Familiengeschichte von Jennifer Teege. Auch Sachbücher wie Opa war kein Nazi von Harald Welzer und seinen Mitarbeiterinnen (2002)6 haben aufgrund einer solchen Konstellation weite Verbreitung gefunden, wie überhaupt eine zunehmende Konjunktur autobiographischen und familiengeschichtlichen (teils auch fiktional eingekleideten) Schrifttums zu verzeichnen ist.

Der schon erwähnte Fernsehfilm Unsere Väter, unsere Mütter wählt in dieser Hinsicht einen eingängigen, aber schiefen Titel: Wörtlich genommen wäre ja die sogenannte zweite Generation, wären also die heute Siebzigjährigen (wie etwa der Verfasser dieser Zeilen) die angesprochene Zielgruppe. Tatsächlich hat aber schon die dritte Generation seinerzeit Holocaust, und erst recht Schindlers Liste (1994) gesehen, erlebt und vielfach diskutiert; heute besucht schon die vierte Generation weiterführende Schulen. Inzwischen müsste es also darum gehen, ob Uropa und Uroma Nazis waren.

Damit möchte ich nur noch einmal auf die enge Verquickung von lebens- und familiengeschichtlicher Erfahrung, Generationenfolge und zeitgeschichtlicher Erkenntnis verweisen. Der unauf haltsam wachsende Abstand zum historischen Geschehen hat zur Folge, dass wir inzwischen nicht nur auf dieses selbst zurückblicken, es zu rekonstruieren oder auch zu entwirren suchen, sondern uns zugleich – durchaus kritisch – auf all die bisherigen, oft unzureichenden Bemühungen der „Bewältigung“ und ← 7 | 8 → „Aufarbeitung“ beziehen können und müssen. In gewisser Weise tritt dabei die „Frage nach der Schuld“, wie sie – beginnend mit Karls Jaspers’ Heidelberger Vorlesungen im Wintersemester 1945/46 – die Diskussionen der unmittelbaren Nachkriegszeit beherrschte, ganz allmählich in den Hintergrund. Zwar verweisen im Jahr 1965 Titel und Dramaturgie von Weiss’ Ermittlung noch darauf, dass es im Gerichtssaal wie auf der Bühne um die Feststellung von bislang nicht gesühnter Schuld geht; zugleich aber tritt auf der performativen Gegenwartsebene, in der Konfrontation von Opfern und Tätern, der schroffe Gegensatz von Erinnerungsqualen und Erinnerungsabwehr hervor und führt zumindest implizit zu der Frage, wie es das „heutige“ oder „künftige“ Deutschland mit jener Vergangenheit hält, halten will oder halten wird.

Noch sehr viel deutlicher lässt – zwanzig Jahre später und in einem internationalen Horizont – der monumentale Dokumentarfilm Shoah des französischen Regisseurs Claude Lanzmann (1985) das Paradigma der kommenden Jahrzehnte hervortreten: die individuelle wie die kollektive Erinnerung – und zwar nicht so sehr in den inhaltlichen Aussagen als im durchgängigen Verfahren der Befragung von überlebenden Opfern, Zeugen und Tätern. Seit den 1990er Jahren tritt dann der Begriff der Erinnerung mit Komposita wie „Erinnerungskultur“ oder „Erinnerungspolitik“ terminologisch wie methodisch immer stärker in den Vordergrund wissenschaftlicher wie öffentlicher Diskussionen und verändert, wie der Germanist Hans Peter Herrmann in einer exemplarischen Fallstudie gezeigt hat, damit auch die Perspektive unserer Auseinandersetzung. „Die Leitfrage lautete nun: ‚Wie erinnern wir uns angemessen an diese Vergangenheit, an die deutschen Taten und die Leiden der anderen?‘“7

An diesen – heute wohl nur noch von einer unbelehrbaren Minderheit bestrittenen – Satz möchte ich, auch im Blick auf meine hier gesammelten Arbeiten aus drei Jahrzehnten, zwei differenzierende Überlegungen anschließen. Zum einen ist nicht zu übersehen oder zu leugnen, dass die ← 8 | 9 → Konjunktur des Erinnerungsparadigmas mit einem erheblichen Funktionsverlust des zuvor prominenten und privilegiertem Mediums Literatur einher gegangen ist. Die (durchaus noch zahlreichen) Werke der Gegenwartsliteratur, die sich mit Naziherrschaft, Weltkrieg und Holocaust samt ihren Spätfolgen befassen, lösen neuerdings nur noch Debatten aus, wenn sie verbliebene Tabuthemen aufgreifen (etwa das der zivilen Opfer alliierter Kriegsführung, insbesondere der Bombardierung deutscher Städte) oder wenn sie skandalös Biographisches betreffen (wie die erst spät eingestandene kurze Zugehörigkeit des sehr jungen Günter Grass zur Waffen-SS).

Ein maßstabsetzendes Werk der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung wie Peter Reichels Politik mit der Erinnerung (1995) handelt hingegen ganz überwiegend von Gedächtnisorten im engeren Sinne, also von erhaltenen, zerstörten oder restaurierten Bauten und Einrichtungen sowie von Denkmälern aller Art, insgesamt also von Architektur und plastischen oder bildnerischen Kunstwerken, in einem abschließenden Kapitel dann von prominenten Gedenkreden. Alles in allem handelt es sich jedenfalls um Orte oder Anlässe einer „öffentliche[n] Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus“.8 Diese sind wiederum mehrfach zum Gegenstand öffentlicher – teils heftiger und langdauernder – Kontroversen über Inhalte, Formen und Ziele dieser Art von gesellschaftlich, ja staatlich organisierter Erinnerung geworden: Denken wir nur an die (von Reichel analysierte) und heute fast schon wieder vergessene Debatte um die „Neue Wache“ in Berlin, oder die spätere um das sogenannte Stelenfeld, das Holocaust-Denkmal in der Nähe von Reichstag und Brandenburger Tor. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in einer „internationalen, kommerziell organisierten, in den Bildungssystemen verankerten und staatlich geförderten Holocaust-Erinnerungskultur“9 die (sogenannte „schöne“) Literatur nicht (mehr) den zentralen Platz besetzt, selbst wenn man die vielfachen Spielarten der Autobiographik und der dokumentarischen, semi- oder pseudodokumentarischen Sachbücher hinzunimmt.

← 9 | 10 → Im Kontrast zu den Erinnerungsorten und Monumenten bieten sich literarische Werke, unabhängig von ihrer späteren Verbreitung oder nachfolgenden „öffentlichen“ Debatten, zunächst und vor allem der individuellen Rezeption an und laden zum subjektiven Nachvollzug von Erinnerungen und Reflexionen, unter Umständen auch zum Widerspruch ein. Mit Blick auf diese spezifischen Qualitäten hat der Theologe Johann Baptist Metz vor nunmehr zwanzig Jahren die Forderung nach einer „anamnetischen Kultur“, also einer Erinnerungskultur vorgetragen, die – gerade auch als „Bildungsarbeit zum Holocaust“ – „nicht ohne enge Kontakte zu Literatur und bildender Kunst auskommen“ könne. „Sie nämlich widersetzen sich in ihren besten Teilen jenem Vergessen des Vergessens, das in unserem öffentlichen Denken und seinen Plausibilitäten herrscht und unsere gegenwärtige Vorstellung von ‚objektiv‘ und ‚realistisch‘ prägt. Dieser Widerstand gegen das Vergessen des Vergessens gilt für Literatur, die das geschichtliche Szenarium mit den Augen seiner Opfer wahrnehmen lehrt und so gefährliche Erinnerungen für unsere vermeintlich ‚fugendichte‘ Normalität (Habermas) formuliert. Das gilt für Kunst überhaupt, insofern sie sich als zur Anschauung verwirklichte memoria passionis verstehen läßt.“10

Das Argument lässt sich verstärken und differenzieren, wenn man bedenkt, dass literarische Texte, auch Theaterstücke und Filme – anders als die meisten Gedächtnisorte, Monumente oder Denkmäler und als viele bildnerische Kunstwerke – nicht dem Prinzip einer verallgemeinernden Symbolisierung unterliegen. Dass sie vielmehr einerseits konkrete historische Ereignisse und individuelle Schicksale – mit oder ohne exemplarischem Geltungsanspruch – aufrufen und gestalten können (und sich damit sowohl den lebensgeschichtlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen der Menschen als auch der historischen Forschung annähern), andererseits aber auch zu einem vielfältigen Wechsel der Blickwinkel und Zeitebenen, der spezifischen Themen und Schreibweisen fähig sind, dass sie auch widersprüchliche Perspektiven kombinieren und ihre Leser und ← 10 | 11 → Leserinnen in eine Form der Kommunikation einbeziehen, die Empathie und Erkenntnis, Mitgefühl und politisches Urteil umfassen kann.

Wirft man einen flüchtigen Blick auf die vielen Jahrzehnte, in denen die deutsche Literatur nun schon im Schatten von Weltkrieg und Holocaust steht, so zeigen sich schnell die wechselnden Themen und Perspektiven der Werke, die ihrerseits mit den politischen Konstellationen, der Mentalitätsgeschichte und den sogenannten „Zeitgeist“, auch mit dem – keineswegs geradlinigen – Gang der historischen Wissenschaft korrespondieren. Es geht – dies nur in Stichworten – gleich nach 1945 zunächst um die Erlebnisse und Schicksale von Frontsoldaten und Heimkehrern (Böll und Borchert), verknüpft mit der Schuldfrage, bald aber auch mit moralistisch grundierter Kritik an der Nachkriegs-Wunderwirtschaftswelt (das Thema der frühen Gruppe 47). Sodann die Ent- und Aufdeckung des Themenfeldes „Holocaust“ (der Begriff selbst war noch nicht bekannt oder geläufig) seit den frühen 1960er Jahren (Hochhuth, Weiss, Kluge u. a.) und in einer gewissen Parallelität zur zeithistorischen Forschung (man darf daran erinnern: auch die Standardwerke der Holocaust Studies beginnen, in den USA wie in Europa, erst jetzt zu erscheinen). In der westdeutschen Literatur werden sodann, seit den späten 1970er Jahren, die kritischen, auch aggressiv zugespitzten Fragen der Söhne und Töchter an ihre Väter laut, die allzu oft Täter waren (Vesper, Meckel u. a.). Seit den 1980er Jahren, nachdem die TV-Serie Holocaust eine enorme Breitenwirkung erzielt hatte, und bis heute erscheinen vermehrt autobiographische Berichte und Erinnerungsbücher, auch von überlebenden Opfern (Klüger u. a.) sowie familiengeschichtliche Recherchen, oft zwischen Faktizität und Fiktionalität pendelnd (Timm, Treichel u. a.). Schließlich geht es auch um Tabuthemen wie das der „deutschen Opfer“, die unter einem kollektiven Schuld-und-Reue-Syndrom lange nicht angesprochen wurden oder werden konnten, nun wiederum in der besonders wirkungsvollen dokumentarischen Variante (Friedrich, Der Brand) wie auch fiktional (Grass, Im Krebsgang). Und ganz zuletzt geistern Krieg und Holocaust auch noch durch die nach 2010 niedergeschriebenen Erinnerungsbücher der ersten Nachkriegsgeneration, also der heute Siebzig- bis Achtzigjährigen, denen übrigens auch der letzte Beitrag dieses Bandes gilt.

← 11 | 12 → Eine zweite Überlegung, die mir wichtig ist, knüpft wiederum an den zitierten Satz von Hans Peter Herrmann und besonders an seine Formulierung von „deutscher Schuld“ an. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, den gesamten Komplex der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden mit – wie vielen? – Millionen Opfern mit Hilfe von halbmetaphorischen oder metonymischen Wörtern wie Shoah, Holocaust oder Auschwitz zu benennen und als „Zivilisationsbruch“ zu deuten; darin drückt sich die von Theodor Adorno bis Dan Diner immer wieder beschworene „Unfähigkeit zu verstehen“ und eine Tendenz zur Enthistorisierung oder „Universalisierung des Holocaust“ aus. Dagegen oder doch in Ergänzung dessen hat Götz Aly betont, dass Auschwitz „dennoch […] auch im Kontext deutscher und europäischer Geschichte“ stehe und in diesem Rahmen zu diskutieren sei.11

Das heißt aber auch: Die erinnernde Rückwendung der Deutschen auf diese ihre Schuld (und die bisherige Auseinandersetzung mit ihr) war und ist eine, vielleicht die wichtigste Voraussetzung einer neuen, post- und nichtfaschistischen deutschen Identität, die sich dann konstitutionell, institutionell, politisch und mentalitätsgeschichtlich ausgeformt hat: als demokratischer Rechtsstaat, in der weltpolitischen Westorientierung, mit der Entwicklung einer Partizipations-, Diskussions- und Widerspruchskultur. Deshalb habe ich im Titel dieses Bandes neben die gewiss unstrittigen Schlagwörter „Schuld“ und „Erinnerung“ drittens auch den „Neubeginn“ gesetzt. Mir ist bewusst, dass der Begriff ein wenig missverständlich sein kann – deshalb sei betont, dass er nicht im Sinne einer totalen „Stunde Null“ gemeint ist oder gelesen werden sollte, sondern eher in dem einer „Umkehr“. Dieses Wort steht nun allerdings selbst unter Urheberschutz, seit der Zeithistoriker Konrad Jarausch in seinem ebenso souveränen wie detailreichen Buch Die Umkehr den Deutschen Wandlungen 1945–1955 nachgespürt hat. Zitieren darf ich aber die Schlüsselfrage seiner Untersuchung, weil sie auch einen wichtigen Aspekt meiner eigenen Versuche anspricht: „Wie gelang es den Deutschen, aus der durch Vernichtungskrieg ← 12 | 13 → und Holocaust selbstverschuldeten physischen Zerstörung und moralischen Diskreditierung wieder herauszukommen?“12

Beim Nachdenken darüber, und besonders über den Beitrag der Literatur zu dieser „Umkehr“ wird übrigens, gerade im zeit- und lebensgeschichtlichen Rückblick, noch einmal verständlich, warum die nonkonformistischen Autoren der 1950er und 1960er Jahre wie Böll, Grass, Walser und manch andere das Aufdecken vergangener Schuld mit derart scharfer Kritik an einer Gegenwart verklammerten, die sich in Selbstgerechtigkeit und Wirtschaftswunder gegen Schuld und Erinnerung zu immunisieren suchte. Dabei mag uns diese Gegenwartskritik heute bisweilen überzogen scheinen; auffällig ist auch, dass die Autoren selbst gewisse Schwierigkeiten hatten, ihre eigene Leistung im Demokratisierungsprozess positiv und zugleich angemessen zu erfassen; teils haben sie diese gravierend unterschätzt (wie der zuletzt resignativ-verbitterte Heinrich Böll), teils haben sie die eigene Rolle grandios überschätzt und sich damit dieser oder jener Peinlichkeit ausgesetzt (wie der späte Günter Grass).

Unstrittig scheint mir jedenfalls, dass wir den literarischen Werken jener Jahrzehnte nur gerecht werden können, wenn wir sie im Kontext der zeithistorischen und politischen Situationen und der gesamtgesellschaftlichen Debatten und Diskurse – oder eben auch der partiellen Diskursblockaden – betrachten; wenn wir ihren Stellenwert und Beitrag zu diesen Prozessen der Selbstauf klärung und Demokratisierung zu bestimmen suchen – gerade auch da, wo sie sich mit den Gespenstern der Vergangenheit herumschlagen. Wo dies nicht geschieht – vielleicht aus mangelnder Vertrautheit mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik – kann es leicht zu Fehlurteilen oder ärgerlichen Verzerrungen des Gesamtbildes kommen.13

Details

Seiten
XII, 437
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783035306019
ISBN (ePUB)
9783035399363
ISBN (MOBI)
9783035399356
ISBN (Paperback)
9783034308557
DOI
10.3726/978-3-0353-0601-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Peter Weiss Heinrich Böll Uwe Timm deutsche Nachkriegsliteratur
Erschienen
Oxford, Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Wien, 2014. 451 S., 7 s/w Abb.

Biographische Angaben

Jochen Vogt (Autor:in)

Jochen Vogt ist emeritierter Professor für Germanistik und Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen sowie Adjunct Professor of German Studies an der Duke University in Durham, NC. Er ist Verfasser mehrerer Bücher zur Literatur des 20. Jahrhunderts, zu Hans Henny Jahnn, Thomas Mann, Heinrich Böll, Peter Weiss, sowie zur Einführung ins Studium der Literaturwissenschaft und zur Erzählforschung.

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Titel: Erinnerung, Schuld und Neubeginn
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458 Seiten