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Dürrenmatts Gangster

Von den Kriminalromanen der 1950er zum Justizroman der 1980er Jahre

von Otto Keller (Autor:in)
©2014 Monographie 156 Seiten
Reihe: Tausch, Band 19

Zusammenfassung

Noch heute gilt Dürrenmatts Justiz als Werk in der Nachfolge seiner Krimis der 1950er Jahre, obwohl der Autor sich explizit gegen diese Einreihung gewehrt hat. Anhand einer Analyse der Figur des Gangsters lässt sich aufzeigen, dass im Justizroman eine von Grund auf veränderte Thematik vorliegt, dass Justiz kein Kriminalroman ist, sondern ein philosophisches Werk, in dem es um die Problematik der Erzeugung von Glauben und Macht geht.
Justiz reiht sich dadurch in das noch wenig gewürdigte, gewaltige Werk der Stoffe-Zeit ein, in der der Autor sich von einem ideenzentrierten Denken abwendet und ein systemkritisch analytisches Denken praktiziert. Was Friedrich Dürrenmatt «philosophisch» nennt, sind paradoxe Gleichnisse, welche die Ordnungsmuster des bürgerlichen Kriminalromans kritisch hinterfragen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Abkürzungen
  • Der Richter und sein Henker
  • Der Verdacht
  • Justiz
  • Buch I
  • Buch II
  • Buch III
  • Wer ist Kohler? Schlusskapitel zum Justizroman
  • Nachwort zu Dürrenmatts Gangster
  • Zur Buchreihe TAUSCH und ihrer Entstehung

Abkürzungen

Zitiert wird nach der Werkausgabe in 37 Bänden, Diogenes Verlag, Zürich, 1998. Zitierweise: Autor, Titel, WA, Band in arabischer Ziffer, Seitenzahl in arabischer Ziffer.

F. D. für den Autor Friedrich Dürrenmatt
WA für die Werkausgabe, 1998
RH für Der Richter und sein Henker
V für Der Verdacht
J für den Roman Justiz

Weitere Texte von Friedrich Dürrenmatt: Gespräche 1961–1990, vier Bände, hg. von Heinz Ludwig Arnold, in Zusammenarbeit mit Anna von Planta und Jan Strümpel, Diogenes, 1996. ← 7 | 8 → ← 8 | 9 →

Der Richter und sein Henker

Von F. D. für den „Beobachter“ geschrieben und in Teilen publiziert, ist der Roman Der Richter und sein Henker vom Autor als Kriminalroman bezeichnet worden. Dieser Erstling von F. D. eröffnet eine Reihe von drei Werken, von denen das zweite, Der Verdacht, ebenfalls die Etiquettierung „Kriminalroman“ erhält. Beide Romane, anfangs der 50er Jahre entstanden, gehören seither zu den meistgelesenen und bekanntesten epischen Werken von F. D. Ende der 50er Jahre entsteht noch ein Kriminalroman: Das Versprechen. Dieses Werk wird vom Autor als „Requiem auf den Kriminalroman“ bezeichnet. Dazu kommt noch das Fragment „Justiz“, das über Jahrzehnte als Text von etwa 150 Seiten liegen bleibt und erst im Zusammenhang mit den „Stoffen“ in der ersten Jahreshälfte 1985 vollendet wird und unter dem Titel Justiz erscheint. Dieses Werk geht auf das Fragment „Justiz“ zurück, das überarbeitet und einen neu geschriebenen dritten Teil erhält. Dieses Werk von 1985 schliesst gewissermassen die Reihe der Kriminalromane von F. D. ab. Doch hat der Justizroman, zuerst als Werk im Rahmen der „Stoffe“ geplant, dann aber unter dem Titel Justiz als Roman herausgegeben, vom Autor nie die Bezeichnung eines Kriminalromans erhalten, im Gegensatz zur Literaturkritik, die voreilig den Roman von 1985 als späten Nachfahren mit wenig Neuem zu den beiden Erstlingen von 1950/51 geschlagen hat. Von der Tatsache ausgehend, dass F. D. sich bereits beim dritten Kriminalroman durch den Titel Requiem offiziell von der Gattung verabschiedet, wäre es wohl seltsam, wenn dann nach mehreren Jahrzehnten nochmals ein Werk wie Der Richter und sein Henker und Der Verdacht folgen sollte. Betrachtet man allerdings die vier Werke im Gesamten unter der Frage nach ihrer Zugehörigkeit zu der bekannten und berühmten Gattung der Kriminalromane, so zeigt sich folgendes: nur die ersten beiden Werke lassen sich, allerdings unter Vorbehalt, als Kriminalromane bezeich ← 9 | 10 → nen, während F. D. selbst sich beim dritten Werk von der Gattung verabschiedet. Das vierte Werk aber, der Justizroman, gehört, wie zu zeigen ist, in völlig andere Zusammenhänge hinein.

Trotzdem führen von den beiden Werken der frühen 50er Jahre verschiedene Fäden zum Spätwerk Justiz, und es ist aufschlussreich, diesen Zusammenhängen nachzugehen und dieses ganze Textkorpus einmal in den Blick zu fassen unter dem Gesichtspunkt, wohin der Weg und die Entwicklung des Autors von seinen frühen kriminalistischen epischen Werken schliesslich im Alterswerk geführt hat.

Wenn man den Erstling von F. D. zu lesen beginnt und einen richtigen Kriminalroman erwartet, wird schon auf der ersten Seite die Erwartung voll erfüllt. Wie es sich gehört, setzt der Roman mit einem Mord ein, und nachher geht es Schlag auf Schlag von der Anfangsmangellage zu den weiteren Ereignissen, die jetzt folgen müssen. Der in seinem Mercedes gefundene Erschossene ist der Polizeileutnant Schmied aus Bern. Er wird am Donnerstag, 3. November 1948, vom Tatort bei Twann zuerst nach Biel und weiter nach Bern transportiert. Dort übernimmt Bärlach, ein international bekannter Kriminalist, zugleich Vorgesetzter des Toten, den Fall. Bärlach setzt gegen seinen „Chef“, den Untersuchungsrichter Dr. Lucius Lutz, mit dem er nicht das beste Verhältnis hat, seinen Willen durch, den Mordfall Schmied vorerst geheim zu halten. Seine erste Massnahme noch am gleichen Morgen: er sucht die Wohnung des Ermordeten auf und entnimmt ihr eine Mappe Schmieds, um, wie er die Vermieterin, Frau Schönler, orientiert, dem Verreisten etwas nachzusenden. Am gleichen Nachmittag setzt Bärlach bei Dr. Lutz durch, dass er in Sachen Schmied einen Stellvertreter einsetzen kann, da seine Gesundheit nicht die beste ist und er vor einer Magenoperation steht. Nach seinem Vorschlag wird Tschanz, der nach Dr. Lutz immer bemüht ist, „kriminalistisch auf der Höhe zu bleiben“ (RH, 19), eingesetzt, wobei aber Bärlach mehr vom Büro aus den Mordfall weiterhin beaufsichtigt. Da Tschanz noch in Grindelwald in den Ferien ist, beschliesst Bärlach, noch am gleichen Tag nach dem Tatort in Twann zu fahren. Der dortige Polizist, Clinin, der den Toten gefunden hat, führt Bärlach zu der Stelle, wo das Auto Schmieds ← 10 | 11 → gestanden hat und wo er erschossen worden ist. Wie nebenbei findet Bärlach hier ein „vorne breitgedrücktes, längliches, kleines Metallstück“ (RH, 21). Es erweist sich als eine Revolverkugel, und damit hat Bärlach ein wichtiges Indiz sichergestellt.

Anderntags beginnt die Zusammenarbeit Bärlachs mit dem aus seinen Ferien herbei gerufenen Tschanz. Sie erweist sich von Anfang an als nicht sehr gut. Wie man erst später erfährt, ist Tschanz der Mörder seines Kollegen Schmied, und Bärlach hat schon bei seinem Vorschlag, Tschanz als seinen Stellvertreter einzusetzen, die Absicht, auf diesem Weg am direktesten zu einer Überführung des Täters zu gelangen. So arbeitet Bärlach von Anfang an seinem Stellvertreter entgegen, ohne es allerdings diesen merken zu lassen. Bärlachs Strategie führt auch bald zu wichtigen Ergebnissen. Auf Vorschlag von Tschanz will dieser noch gleichentags in die Gegend des Tatortes fahren, weil Schmied auch an diesem Tag dorthin gefahren wäre. Überraschend für Tschanz‚ entschliesst sich Bärlach, ihn bei dieser Unternehmung zu begleiten. So gelangen die beiden zum Hause eines Gastmann, der dort abends eine vornehme Gesellschft empfängt, zu der sonst auch Schmied gehört hätte. Bärlach gelingt es hier, vom Bluthund Gastmanns angefallen zu werden, und zwar in dem Augenblick, da auch Tschanz auftaucht und die Bestie erschiesst. Das Abenteuer der beiden endet mit einem von Bärlach vorgeschlagenen Treffen von Tschanz mit den beiden Polizisten von Lamboing in einer Wirtschaft, wodurch Bärlach, angeblich sich in einer nahen Wirtschaft vom Schrecken des Überfalls erholend, die nötige Zeit gewinnt, sich des toten Hundes anzunehmen und die Revolverkugel der Waffe von Tschanz sicherzustellen. Wenn Bärlach nach der Rückkehr in Bern dem von seinem Haus davonfahrenden Tschanz nachblickend sagt: „Jetzt kann er fahren, wie er will.“ (RH, 47), hat der Kriminalroman scheinbar seinen Höhepunkt überschritten: der Mörder ist überführt, die Störung der Ordnung der Gesellschft durch den Mord ist durch die Enttarnung des Täters behoben und das Werk ist in völlig traditioneller Art abgeschlossen.

Dieser Stand ist mit dem siebten Kapitel erreicht. Es folgen aber noch vierzehn weitere Kapitel, und der Kampf zwischen Bärlach ← 11 | 12 → und Tschanz geht bruchlos in eine in ganz andern Dimensionen geführte Auseinandersetzung zwischen Bärlach und Gastmann über. Die Ursache dieses neuen Kampfes von Bärlach ist, vom Mordfall Schmied aus gesehen, andersartig und viel komplexer. Am Anfang steht hier nicht ein Mord, sondern eine zwischen Bärlach und Gastmann geschlossene Wette, und diese liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück, als sich die beiden einst in Konstantinopel getroffen haben und dort Freunde geworden sind.

Die Wette zwischen Gastmann und Bärlach nimmt im ersten Kriminalroman F. D.s. eine zentrale Stellung ein. Durch sie tritt der traditionell wirkende erste Teil des Romans in den Hintergrund, wird der Gegensatz zwischen einem Gastmann und Bärlach zur zentralen Handlung. Wie kommt es zu dieser Wette, was enthält sie und was löst sie aus?

Von der sich im November 1948 in Bern abspielenden Handlung aus müssen wir vierzig Jahre in die Vergangenheit und nach der damaligen türkischen Metropole Konstantinopel zurückgehen. Gastmann und Bärlach weilen dort, allerdings in völlig verschiedenartiger Situation und Stellung. Bärlach steht als junger Polizeifachmann aus der Schweiz in türkischen Diensten, um dort mitzuhelfen, das Polizei- und Justizwesen zu reformieren, während Gastmann sich als „herumgetriebener Abenteurer“ betrachtet, „gierig, dieses mein einmaliges Leben und diesen ebenso einmaligen, rätselhaften Planeten kennen zu lernen.“ (RH, 67) Die beiden jungen Berner treffen sich „in irgendeiner verfallenen Judenschenke am Bosporus“ und wie Gastmann1948 feststellt: „Wir liebten uns auf den ersten Blick.“ (RH, 67) Die reichlich konsumierten „verteufelten Schnäpse“ lösen eine hitzige Diskussion der beiden aus, und an ihrem Ende steht eine Wette, von Gastmann provoziert durch die „Biederkeit“ seines Landsmannes.

Details

Seiten
156
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783035107098
ISBN (ePUB)
9783035198911
ISBN (MOBI)
9783035198904
ISBN (Paperback)
9783034313476
DOI
10.3726/978-3-0351-0709-8
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (Mai)
Schlagworte
Machterzeugung Straftat Delikt Erzeugung von Glauben
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2014. 156 S.

Biographische Angaben

Otto Keller (Autor:in)

Otto Keller (geboren 1926) unterrichtete an der Sekundarstufe II und als Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Zürich. Neben seinen literaturwissenschaftlichen Publikationen über den Roman des 18. und über Romane und Texte des 20. Jahrhunderts (u.a. über Döblin, Brecht und Kafka) kommen seit den 1980er Jahren bildungswissenschaftliche Arbeiten hinzu. Otto Keller gehört zu den Gründern der «Internationalen Alfred-Döblin-Gesellschaft» und der «Schweizerischen Gesellschaft für Semiotik» (SGS/ASS). Seit 1991 gibt Otto Keller zusammen mit Alexander Schwarz, im Verlag Peter Lang die Reihe «TAUSCH/Textanalyse in Universität und Schule» heraus.

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