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Der Konjunktiv im Schweizerdeutschen

Empirische Studien zu Stabilität und Wandel im deutschen Modussystem

von Michael Wilde (Autor:in)
©2015 Dissertation X, 284 Seiten

Zusammenfassung

Der schweizerdeutsche Konjunktiv kann sich besser gegen den Indikativ behaupten als der standarddeutsche, dessen Formen vielfach mit denjenigen des Indikativs zusammenfallen. Häufig hat man darin den Grund für die besondere Vitalität des schweizerdeutschen Konjunktivs gesehen. Doch wie lebendig ist er in der aktuellen Sprachverwendung wirklich? Welche räumlichen Gliederungen innerhalb der schweizerdeutschen Dialektlandschaft ergeben sich im Zusammenhang mit dem Konjunktiv? Wie unterscheidet sich sein Formen- und Verwendungsspektrum von dem des standarddeutschen Konjunktivs? Welche Rolle spielt die analytische Bildung des Konjunktivs Präteritum und welches Hilfsverb wird dafür verwendet? Diese und weitere Fragen werden auf der Basis selbsterhobener Daten diskutiert.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Dank
  • Erster Teil: Hintergründe
  • 1 Einführung
  • 1.1 Erste Annäherung
  • 1.2 Gibt es einen „helvetischen Konjunktiv“?
  • 1.3 Aufbau der Arbeit
  • 1.4 Technische Vorbemerkungen
  • 2 Kommentierter Forschungsüberblick
  • 2.1 Ältere Forschung
  • 2.2 Um die 1970er Jahre
  • 2.3 Seit den 1990er Jahren
  • 3 Datenbasis dieser Arbeit
  • 3.1 Eigene Daten
  • 3.1.1 Online-Erhebung (2010)
  • 3.1.2 Fragebogen-Erhebung (2011)
  • 3.1.3 Korpusdaten
  • 3.2 Andere Daten
  • 3.2.1 Schweizer Wenkersätze
  • 3.2.2 SDS
  • 3.2.3 SADS
  • 3.2.4 Sekundärdaten
  • Zweiter Teil: Untersuchungen zu Formen und zum Gebrauch des schweizerdeutschen Konjunktivs
  • 4 Formen des Konjunktivs Präsens
  • 4.1 Distinktheit beim schwachen Verb
  • 4.1.1 Problemstellung
  • 4.1.2 Empirische Befunde
  • 4.1.3 Fazit
  • 4.2 Kurzverben ,haben‘, ,sein‘ und ,tun‘
  • 4.2.1 Problemstellung
  • 4.2.2 Empirische Befunde
  • 4.2.3 Fazit
  • 5 Gebrauch des Konjunktivs Präsens in Nebensätzen
  • 5.1 Konjunktiv Präsens nach Einstellungsprädikaten
  • 5.1.1 Problemstellung
  • 5.1.2 Empirische Befunde
  • 5.1.3 Fazit
  • 5.2 Indirekte Rede
  • 5.2.1 Problemstellung
  • 5.2.2 Empirische Befunde
  • 5.2.3 Fazit
  • 6 Besonderheiten bei Modalverben
  • 6.1 ‚Wollen‘ und ‚möchte‘
  • 6.1.1 Problemstellung
  • 6.1.2 Empirische Befunde
  • 6.1.3 Fazit und Vertiefung
  • 6.1.4 „Höflicher“ Konjunktiv Plusquamperfekt
  • 6.2 ‚Sollen‘
  • 6.2.1 Problemstellung
  • 6.2.2 Empirische Befunde
  • 6.2.3 Fazit
  • 6.2.4 Infinitivpartizip sotte
  • 7 Dentalsuffix im Konjunktiv Präteritum von Kurzverben (Typ giengti)
  • 7.1 Problemstellung
  • 7.2 Empirische Befunde
  • 7.3 Fazit
  • 8 Zum Vokalismus im Konjunktiv Präteritum starker Verben
  • 8.1 Problemstellung
  • 8.2 Empirische Befunde
  • 8.3 Fazit
  • 9 Starker Konjunktiv Präteritum bei schwachen Verben (Typ miech)
  • 9.1 Problemstellung
  • 9.2 Empirische Befunde
  • 9.3 Fazit
  • 10 Synthetischer vs. analytischer Konjunktiv Präteritum
  • 10.1 Problemstellung
  • 10.2 Empirische Befunde
  • 10.3 Fazit
  • 11 Wahl des Hilfsverbs beim analytischen Konjunktiv Präteritum
  • 11.1 Problemstellung
  • 11.2 Empirische Befunde
  • 11.3 Fazit
  • 12 Zusammenfassung und Ausblick
  • Literaturverzeichnis

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Dank

„viel spass + ausdauer bei dieser trockenen materie!“

(freier Kommentar einer Teilnehmerin zur Umfrage)

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012 von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Bern als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript leicht überarbeitet.

Ich danke allen voran meiner Doktormutter Prof. Dr. Elke Hentschel, die mir von Anfang an die Freiheit gelassen hat, für mein Dissertationsprojekt meinen eigenen Weg zu finden, die aber mit wertvollen Hinweisen jederzeit zur Verfügung stand. Danken möchte ich ebenso Prof. Dr. Elvira Glaser für die Erstellung des Zweitgutachtens. Sie gewährte mir sehr entgegenkommend Zugriff auf Daten und Quellen, die in Zürcher Forschungsprojekten entstanden waren (SADS, Archimob-Korpus u. a.) und verhalf mir so zu einer deutlich breiteren Datenbasis.

Nicht wegzudenken aus dem Entstehungsprozess der vorliegenden Arbeit ist der intensive Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl während der Berner Assistenzzeit: Klaus Peter, Gabriela Perrig und Sibylle Reichel. Auf ihre Vorschläge und Hilfestellungen konnte ich mich jederzeit verlassen.

Die Online-Erhebung von Britta Juska-Bacher inspirierte mich, den Schweizer Konjunktiv in ähnlicher Weise zu erheben. Ihr bin ich für die Erfahrungen und Tipps, die sie mir in persönlichen Gesprächen weitergegeben hat, besonders dankbar. Dasselbe gilt für Matthias Friedli, der mir die Erfahrungen aus der Online-Umfrage „Der Wortschatz des Schweizerdeutschen“ (2008) unter der Leitung von Elvira Glaser und Hans-Peter Schifferle mitteilte.

Die Gespräche mit Prof. Dr. Constanze Vorwerg zeigten mir sehr spannende Verbindungen zwischen Dialektologie und Psycholinguistik auf.

Meiner Schwiegermutter Anna Wilde danke ich für das sorgfältige Korrekturlesen und die Überprüfung der standarddeutschen Übersetzungen. Für die großzügige finanzielle Unterstützung danke ich meiner Großmutter Gisela Berger sowie der Karl-Jaberg-Stiftung (Bern).

Meinen Lektoren beim Verlag Peter Lang in Bern, Adrian Stähli und Friederike Meisner, danke ich für die unkomplizierte Zusammenarbeit und hilfsbereite Betreuung meiner Publikation.

Meiner Frau Eva Wilde danke ich für die große Geduld und Unterstützung in guten wie in schlechten Zeiten der Dissertationsphase.

Riehen bei Basel, im Januar 2015

Michael Wilde

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Erster Teil:
Hintergründe

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1 Einführung

1.1 Erste Annäherung

Es ist bemerkenswert, wie ein für viele trockenes Grammatikthema wie die Moduskategorie Konjunktiv doch geeignet sein kann, ideologisch aufgeladen zu werden bis hin zum Ausdruck nationaler Klischees und Stereotype. So schreibt der deutsche Sprachkritiker Wolf Schneider:

In geschriebenen Texten bewältigen kaum zwei oder drei Prozent der Deutschsprachigen diesen Unterschied [d.  h. den zwischen Konjunktiv Präsens und Konjunktiv Präteritum in der indirekten Rede, MW], in der mündlichen Rede gar nur noch ein Tausendstel davon; und von denen lebt merkwürdigerweise die Mehrzahl in der Schweiz. Hier kann man alte Bergbauern sagen hören: Er sagte mir, er habe … In bundesdeutschen Ohren klingt das ganz unglaublich intellektuell. Dabei ist es einfach herrlich direkt aus dem Brunnen der Sprache geschöpft, dort, wo er am tiefsten ist. (2009: 13f.; Schriftauszeichnung angepasst)

Schneider verbindet hier das Bild der Schweiz als Land der Bergbauern, die abgeschnitten sind von aktuellen Entwicklungen und Einflüssen, mit einer besonderen Unverfälschtheit und Urtümlichkeit ihrer Sprache. Dieses Heterostereotyp ist wohlwollend gemeint. Neben dem Heterostereotyp kann man auch das Autostereotyp mit Bezug auf den Konjunktiv finden; Bestandteile des Heterostereotyps können sich im Autostereotyp spiegeln – so wird aus der Bewunderung für die Sprache der Schweizer wie bei Schneider umgekehrt der Stolz der Schweizerdeutsch-Sprecher auf die eigene Sprache. Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel sagte einmal:

Ich weiß nicht, ob ich bereits auf den Konjunktiv springen darf, das ist mein Grundproblem, bei dem ich besonders froh bin, daß ich Schweizer bin. In keiner der Sprachen, die ich ein wenig kenne, redet man so häufig im Konjunktiv wie im Schweizerdeutschen. In Deutschland ist der Konjunktiv ausgestorben. Der Schweizer spricht die Hälfte von allem, was er sagt, im Konjunktiv. (P. Bichsel in einem Interview mit Rudolf Bussmann, in: Bloch Hrsg. 1971: 28)

Der Stolz auf die Sonderrolle, die die Schweiz im internationalen politischen Vergleich spielt, das „Partikular- oder Kontrastbewusstsein“ (Kreis 1992: 782) ist prägend für das kollektive Selbstverständnis des Landes. Unschwer ließe sich an Bichsels Zitat auch das Autostereotyp des Schweizers als besonders höflichen, auf Konsens und Zurückhaltung bedachten Zeitgenossen anschließen. Ein Beispiel für dieses Stereotyp in Verbindung mit dem Konjunktiv: ← 3 | 4 →

Der Schweizer Sprach-Kolumnist Hans Sommer schrieb einmal, „dass dem Schweizer Konjunktive sozusagen angeboren sind“ (Sommer 1980: 145).

In einer systemlinguistischen Darstellung, wie sie hier unternommen werden soll, täten solche affektiven Aufladungen grammatischer Strukturen nichts zur Sache. Doch im Kern decken sich die Aussagen in den angeführten Zitaten mit dem, was auch die Linguistik annimmt: Die häufige Verwendung des Konjunktivs Präsens in der indirekten Rede, auf die Schneider und Bichsel hinweisen, gilt als markanter Unterschied im Konjunktivgebrauch zwischen Schweizerdeutsch und bundesdeutschem Standard (vgl. Abraham 2009: 292: „ganz auffällig“). Für diesen Unterschied kann ein morphologischer Grund ausgemacht werden: die Distinktheit des Konjunktivs gegenüber dem Indikativ. Damit ist gemeint, dass in der neuhochdeutschen Standardsprache viele Formen des Konjunktivs mit denen des Indikativs identisch sind – der Konjunktiv hat also ein ‚Sichtbarkeitsproblem‘ (vgl. Gallmann 2007: 59). Das kann dazu führen, dass uneindeutige Konjunktivformen durch eindeutige ersetzt werden, also Konjunktiv Präsens durch (synthetischen) Konjunktiv Präteritum oder würde + Infinitiv. Auf diese Weise kommt es zwangsläufig zu einer Vermischung der Funktionsbereiche von Konjunktiv Präsens und Präteritum. Ein mögliches Szenario ist auch die Verdrängung durch den Indikativ, sichtbar an eindeutigen Indikativformen. Die schweizerdeutschen Dialekte auf der anderen Seite verfügen für den Konjunktiv Präsens über ein eigenes Suffix (-i), sodass jederzeit distinkte Konjunktivformen möglich sind. Auch im Konjunktiv Präteritum gibt es kein Sichtbarkeitsproblem: Wegen des ausnahmslosen Präteritumschwunds im Indikativ kann trivialerweise kein Zusammenfall der Modi auftreten.

So oder ähnlich wird es in vielen linguistischen Arbeiten dargestellt (vgl. weiter hierzu in Kap. 5.2, S. 1181). Doch bei näherem Hinsehen ergeben sich auch verschiedene Probleme für diese Sicht der Dinge. Was die Standardsprache angeht, so sind an der Ersatzregel, wie sie in der Konjunktivliteratur genannt wird (vgl. weiter Kap. 5.2.2, S. 121), spätestens seit der empirischen Untersuchung von Jäger (1971a) Zweifel gekommen: Jäger hat bei seiner Auswertung eines großen schriftsprachlichen Korpus festgestellt, dass fast die Hälfte der Verben im Konjunktiv Präteritum in der indirekten Rede an einer Stelle stehen, wo von den gleichen Verben auch eindeutige Konjunktiv-Präsens-Formen möglich wären. Diese Konjunktiv-Präteritum-Formen sind also nicht als Ersatz für uneindeutige Konjunktiv-Präsens-Formen zu erklären. Außerdem wird durch die Distinktheits- und Ersatzhypothese nicht begründet, warum der Konjunktiv häufig durch den Indikativ ersetzt ← 4 | 5 → wird – schließlich stünde mit der analytischen würde-Konstruktion jederzeit eine eindeutige Konjunktivform zur Verfügung. Was auf der anderen Seite die schweizerdeutschen Dialekte angeht, so ist auch dort das Bild weniger einheitlich als beschrieben: Insbesondere im Plural tritt beim schwachen Verb in einigen Dialekten im Konjunktiv Präsens längst nicht durchgängig das agglutinierende i-Suffix auf, oder aber -i steht schon im Indikativ, was wiederum zum Sichtbarkeitsproblem führt. In der vorliegenden Arbeit werden Daten vorgelegt, die abschätzen lassen, wo und inwieweit die Distinkheit der Modi auch im Schweizerdeutschen eingeschränkt ist (vgl. Kap. 4.1, S. 77).

Wenn es aber – trotz Relativierungen – dabei bleiben kann, dass die Konjunktivmorphologie im Schweizerdeutschen anders zu beurteilen ist als die des Standards, und wenn man das Sichtbarkeitsproblem im Standard für die treibende Kraft für den Sprachwandel des Konjunktivs hält, dann liegen mit den schweizerdeutschen Dialekten aufschlussreiche Vergleichsdaten vor. Bezogen auf die vorher angenommenen Sprachwandelphänomene beim standarddeutschen Konjunktiv würden wir für den schweizerdeutschen Konjunktiv in etwa Folgendes erwarten: wenig Verdrängung durch den Indikativ, wenig Vermischung der Funktionsbereiche und wenig Ausbreitung der Umschreibung. All diese Punkte sind durchaus in der Literatur angenommen worden. Allerdings waren Aussagen über den schweizerdeutschen Konjunktiv bisher immer nur auf beschränkter Basis möglich. Soweit sie dem SDS zu entnehmen waren, waren sie zwar in hohem Maße verlässlich, dafür aber repräsentieren sie einen Stand, der heute mehrere Generationen zurückliegt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es daher, Material vorzulegen, auf dessen Basis man Aussagen stützen kann, wie es in aktuell gesprochenen Schweizer Dialekten um den Konjunktiv bestellt ist. Vergleiche mit älteren Daten wie den SDS-Karten erlauben zusätzlich Aussagen darüber, wie sich der schweizerdeutsche Konjunktiv in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.

Die vorgelegten Daten können jedoch nicht nur – wie skizziert – als Kontrastfolie zum standarddeutschen Konjunktiv dienen. Sie erlauben auch Einblicke in Teile des Konjunktivspektrums, die dem Standard fremd sind, Seitenblicke auf Wege, die der standarddeutsche Konjunktiv nicht gegangen ist. Das betrifft sowohl die Formenbildung als auch Verwendungsaspekte. Auf Sonderwege bei der Formenbildung weisen u. a. die folgenden Beobachtungen hin:

Das schwache Konjunktiv-Präteritum-Suffix -ti wird generalisiert, indem es zunehmend auch an starke sog. Kurzverben angehängt wird, z. B. gäbti ‚gäbe‘. Dadurch entstehen Mischbildungen, die schon Winteler (1876: 149) als „Zwitterbildungen“ kritisiert hatte (zu Winteler vgl. unten 2.1, S. 19).

Die Ablautvokale der starken Verben lösen sich von ihren historischen Klassen, z. B. chiem ‚käme‘; es treten also Klassenwechsel der Verben auf, bestimmte Vokale werden dabei als Konjunktiv-Marker generalisiert (vgl. Christen 1999).

Neben der Ausweitung der suffigierenden Bildung durch -ti ist partiell auch eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten, nämlich Schwach-stark-Übergänge wie bei miech als starker Konjunktiv Präteritum zum eigentlich schwachen Verb ‚machen‘.

Während die Standardsprache den Konjunktiv Präteritum mit dem Hilfsverb ‚würde‘ umschreibt, kennen die Dialekte auch ‚täte‘. Einige Forscher (z. B. Gallmann 2007, Eroms 1998) sehen im mundartlichen ‚täte‘ die unverfälschtere und angemessenere Konjunktivumschreibung, die im Standard nur durch normativen Druck etwa seit dem 17. Jahrhundert von ‚würde‘ zurückgedrängt worden sei. Vor diesem Hintergrund ist von Interesse, wie sich die ‚würde‘/‚täte‘-Verteilung in einem nicht normativ geregelten Dialektgebiet entwickelt hat.

Was Verwendungsaspekte des schweizerdeutschen Konjunktivs angeht, die dem Standard unbekannt sind, so lässt sich u. a. der Konjunktiv Präsens im Komplementsatz nach Obersätzen wie ‚ich nehme an‘ nennen. Im Standard (z. B. Ich nehme an, sie habe recht) wirkt das Nebeneinander von Affirmation des Sprechers (1. Person Singular) und origo-verschiebendem Konjunktiv (vgl. Diewald 2013: 100) in sich widersprüchlich. Dagegen zeigt ein Blick auf andere Sprachen mit einer Konjunktiv-Kategorie, dass Kontexte wie der genannte durchaus geeignet sind, den Konjunktiv zu sich zu nehmen (vgl. z. B. ital. suppongo che mit congiuntivo). Ebenso sind historische deutsche Belege instruktiv, welche daran erinnern, dass der gegenwärtige Stand der Konjunktivverwendung nur eine Momentaufnahme ist und in früheren Zeiten andere Verwendungsregularitäten galten; so verwendete etwa noch Goethe nach ich nehme an auch den Konjunktiv Präsens (weiter S. 113). Solche Konvergenzen mit dem Konjunktivgebrauch in anderen Sprachen sowie im früheren Deutschen zeigen, dass eine Beschäftigung mit dem schweizerdeutschen Konjunktiv Anregungen geben kann zu mehr als rein dialektologischen Fragestellungen. Es geht vielmehr um eine varietäten- und sprachübergreifende Einheit, um den Konjunktiv an sich (vgl. Weydt 2000, 2009). Die Forschung zum standarddeutschen Konjunktiv Präsens konzentriert sich dagegen auf den Konjunktiv der indirekten Rede – ein Verwendungsbereich, der in anderen Konjunktivsprachen (unter den indoeuropäischen Sprachen: mit Ausnahme nur des Isländischen) nicht den Konjunktiv nach sich zieht (vgl. Rothstein/Thieroff Hrsg. 2010). ← 6 | 7 →

Diese erste Tour d’horizon vermittelte einen Eindruck von der Vielfalt der Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit dem Schweizer Konjunktiv ergeben. Manches lässt sich im Hinblick auf übergeordnete Argumentationslinien wie die Distinktheitsproblematik zusammenführen. Jedoch wird nicht der Anspruch erhoben, alles auf einen argumentativen Nenner zu bringen. In dieser Hinsicht ist der Plural Studien im Untertitel der vorliegenden Arbeit bewusst gewählt. Die einzelnen Kapitel des zweiten Teils können auch relativ unabhängig voneinander gelesen werden. Der rote Faden ist der Konjunktiv im Schweizerdeutschen, der in seinen wichtigsten Facetten abgedeckt sein soll. Forschungsbedarf bleibt auf jeden Fall bestehen, etwa im Bereich der Ablautvokale bei den starken Verben (weiter Kap. 8, S. 181).

1.2 Gibt es einen „helvetischen Konjunktiv“?

In 1.1 war von Unterschieden zwischen Dialekten und dem Standard die Rede. Darüber hinaus ist das Verhältnis der schweizerdeutschen zu anderen deutschen Mundarten im Bezug auf den Konjunktiv anzusprechen. Gibt es überhaupt einen spezifischen „Schweizer Konjunktiv“? Auch in Dialektdarstellungen anderer Dialekte finden sich zwar ähnliche Überschriften. So spricht Huber (2008: 39f.) vom „schwäbischen Konjunktiv“ oder Zehetner (2010: 140–143) vom „bairischen Konjunktiv“. Aber wie sinnvoll ist es wirklich, den Konjunktiv bezogen auf eine politische Einheit wie die Schweiz zu untersuchen? Gibt es Konjunktivbildungsweisen oder Verwendungen, die in Schweizer Dialekten exklusiv oder zumindest deutlich häufiger vorkommen als in anderen deutschen Dialekten? Die Frage stellt sich insbesondere mit Blick auf die eng verwandten nördlich angrenzenden alemannischen Dialekte, aber auch darüber hinaus kann es oberdeutsche Gemeinsamkeiten geben.

Es ist nicht der alemannische, sondern eher der bairische Konjunktiv, welcher am besten beschrieben ist, vgl. u. a. Mindl (1924), Donhauser (1992), Merkle (1975), Saltveit (1983: 1224), Schnelzer (2008), Lotze/Gallmann (2009: 233f.). Die Teilatlanten des Bayerischen Sprachatlas bieten diverse Karten zum Konjunktiv Präteritum, z. B. SNiB 5.1 (2007) oder SMF (2007). Eine übergreifende Karte zum Konjunktiv Präteritum von ‚kommen‘ enthält KBSA 33 (Renn/König Hrsg. 2006: 78).

Für erste Hinweise kann ein Text des in der Schweiz bekannten Autors Pedro Lenz mit dem Titel „Helvetischer Konjunktiv“ dienlich sein (vgl. Lenz 2003: 50f.). Lenz führt u. a. eine Art „Vorstellungskonjunktiv“ an wie in (1):

Details

Seiten
X, 284
Jahr
2015
ISBN (PDF)
9783035106527
ISBN (ePUB)
9783035198799
ISBN (MOBI)
9783035198782
ISBN (Hardcover)
9783034313551
DOI
10.3726/978-3-0351-0652-7
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2015 (Oktober)
Schlagworte
Konjunktiv Modussystem Deutsche Sprache Linguistik Schweizerdeutsch
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2015. X, 284 S.

Biographische Angaben

Michael Wilde (Autor:in)

Michael Wilde studierte Germanistik und Anglistik in Leipzig, Bamberg und Reading (GB) und promovierte in Bern. Er arbeitet an der Universität Basel.

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