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Kann Literatur Zeuge sein?- La littérature peut-elle rendre témoignage ?

Poetologische und politische Aspekte in Herta Müllers Werk - Aspects poétologiques et politiques dans l’œuvre de Herta Müller

von Dorle Merchiers (Band-Herausgeber:in) Jacques Lajarrige (Band-Herausgeber:in) Steffen Höhne (Band-Herausgeber:in)
©2014 Konferenzband 418 Seiten

Zusammenfassung

Kann Literatur Zeuge sein? Diese Frage steht im Zentrum der vorliegenden Kongressakten, die aus der Tagung über Herta Müller im November 2012 in Montpellier hervorgegangen sind. Dabei wird das Werk von Herta Müller aus unterschiedlichen und komplementären Blickwinkeln betrachtet: von der Geschichte und der Kulturgeschichte aus, der Ästhetik und der Politik, der Linguistik und der Poetologie, der Psychologie und der Philosophie. Diese Perspektiven verbinden und ergänzen sich, sie beleuchten Spuren einer Ästhetik des Widerstands, die sich in Müllers Werk immer wieder manifestiert, und versuchen gleichzeitig auch erinnerungskulturelle und postkoloniale Fragestellungen auszuloten.
La littérature peut-elle rendre témoignage ? Cette question est au centre du présent volume, qui réunit les actes d’un colloque sur Herta Müller, organisé en novembre 2012 à Montpellier. Les approches sont diverses et complémentaires : historiques et culturelles, esthétiques et politiques, linguistiques et poétologiques, psychologiques et philosophiques. Ces différentes perspectives se conjuguent pour dégager les traces d’une esthétique de la résistance qui se manifeste en de nombreux endroits de l’œuvre de Herta Müller et pour tenter de répondre aux questionnements liés aux cultures de la mémoire et au post-colonialisme.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Copyright
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Avant-propos
  • 1. Modelle – Kontexte / Modèles – contextes
  • Das Banat (Bánság) als kulturhistorische Transferregion. Literarisch-kulturelle Konstitutionsprozesse in Zentraleuropa: Steffen Höhne
  • 1. Konzept Kulturraum
  • 2. Das Banat als literarisch konstruierter Kulturraum
  • 3. Destruktion des Wunschbildes Heimat
  • 4. Von der Heimat ins Lager: Herta Müllers Deprivationsliteratur
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Témoigner de la vie en Roumanie. L’exemple de Herta Müller (Der Mensch ist ein grosser Fasan auf der Welt, 1986), Richard Wagner (Ausreiseantrag, 1988), Johann Lippet (Protokoll eines Abschieds und einer Einreise oder Die Angst vor dem Schwinden von Einzelheiten, 1990) et Franz Hodjak (Grenzsteine, 1995): Emmanuelle Aurenche-Beau
  • Bibliographie
  • Perception et représentation de la terre natale (Heimat) dans l’oeuvre de Herta Müller: Dorle Merchiers
  • 1. Propos de Herta Müller sur la Heimat
  • 2. Perception de la Heimat
  • 3. Représentation de la Heimat
  • 4. «Sprache ist Heimat»
  • Conclusion
  • Bibliographie
  • Herta Müllers frühe Erzählungen. Kontexte, literarisches Umfeld und formende Impulse: Olivia Spiridon
  • 1. Vorbemerkungen
  • 2. Zwei Ereignisse
  • 3. Umwälzungsprozesse innerhalb der rumänischen Kulturpolitik
  • 4. Die Loslösung von der literarischen Provinz Banat
  • 5. Herta Müllers frühe Erzählungen als Demontage regionaler Identitätsnarrative
  • 6. Literarische Modelle in Herta Müllers frühen Erzählungen
  • 7. Abschließende Bemerkungen
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Niederungen, le premier recueil de Herta Müller: chronique d’une réalité sordide: Alain Cozic
  • Recueil de textes
  • Statut des textes, perspective narrative
  • Le regard de l’enfant
  • Réalité
  • L’enfant dans cet univers?
  • Résister
  • Bibliographie
  • 2. Die poetische Ordnung der Dinge / Les mots et les choses
  • Composition et décomposition: les néologismes subversifs de La Bascule du soufflé: Claire De Oliveira
  • Bibliographie
  • Herta Müllers „Diskurs des Alleinseins“ – eine Stilbeschreibung und eine (späte) Antwort auf Iris Radischs Verriss der Atemschaukel: Herta Haupt-Cucuiu
  • Literatur
  • «[…] nur noch nichtige Dinge mit wichtigen Schatten». Entre présence et absence: la poétique des objets dans l’oeuvre de Herta Müller: Sylvaine Faure-Godbert
  • Bibliographie
  • Eine Sprache für das Unsagbare finden. Über lexikalische Wiederholungen in Atemschaukel: Emmanuelle Prak-Derrington, Dominique Dias
  • Einleitung: Herta Müllers „dichtende Prosa“
  • 1. Definition: Die Wiederholung als reflexiver Rückverweis
  • 2. Mikrostrukturelle Wiederholung
  • 2.1 Wiederholung als grundlegendes Merkmal
  • 2.2 Eine rhetorische Figur. Die Anadiplose (…X / X…)
  • 2.3 Die einfache lineare Progression
  • 2.4 Widerhall zwischen zwei Reden
  • 2.5 Kohärenz durch Kohäsion
  • 3. Makrostrukturelle Wiederholung. „HASOWEH“
  • 3.1 Kryptische Sätze
  • 3.2 Freuds Verdichtung
  • 3.3 Das „Mot-valise“ HASOWEH
  • 3.4 Klangkombinationen
  • 3.5 Der Echo-Effekt der Wiederholung
  • 3.6 Assoziative Logik der Wiederholung: Graphische Darstellung
  • Literatur
  • Au-delà de la langue maternelle: le monolinguisme face à l’altérité linguistique, ou la dimension plurilingue chez Herta Müller: Dirk Weissmann
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7
  • 8
  • 9
  • 10
  • Bibliographie
  • 3. Verzerrte Identitäten und Bilder an der Grenze zur Normalität / Identités et images déformées aux marges de la normalité
  • „Gefahr ins Leere zu stürzen“: Außenseiter und aus der Realität Ver-rückte in den Texten Herta Müllers: Grazziella Predoiu
  • Städtische Diktatur
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • Ein „einziges fremdes Gebilde“ – zum Grotesken bei Herta Müller: Katharina Molitor
  • 1. Zum Grotesken im Allgemeinen
  • 2. Raum- und Körpererfahrungen
  • 3. Projektionen
  • 4. Collagen
  • 5. Fazit
  • Literatur
  • Die Diktatur im Spiegel der Literatur: Surreale Bildlichkeit in Herta Müllers Romanen Herztier und Heute wär ich mir lieber nicht begegnet: Roxana Nubert
  • 1. Einführung
  • 2. Herztier
  • 3. Heute wär ich mir lieber nicht begegnet
  • Schlussfolgerungen
  • Literatur
  • Vom Aufblitzen und Abtauchen. Zeugnis und Imagination im Werk Herta Müllers: Paola Bozzi
  • Literatur
  • 4. Ästhetik des Widerstands / Esthétiques de la résistance
  • Geworfen, in Metropole wie Provinz.‚Entschleunigungserfahrungen‘ in Herta Müllers Prosatexten: Carsten Wernicke
  • 1. Einleitung
  • 2. Weltbeziehung und Entschleunigung
  • 3. ‚Gute‘ Entschleunigung und Beharrung – oder: die andere Entschleunigung
  • 4. Entschleunigung als dysfunktionale Nebenfolge
  • 5. Entschleunigung zugunsten einer Ideologie
  • 6. Entschleunigung und Resonanz am Beispiel der Niederungen
  • Fazit
  • Literatur
  • Auf der „schmale[n] Kante“ zwischen Wort und Bild. Mediale Grenzüberschreitungen bei Herta Müller: Ute Weidenhiller
  • Primärliteratur
  • Sekundärliteratur
  • 5. Wer zeugt für den Zeugen? / Qui témoigne pour le témoin?
  • Zeugnisse: Martin A. Hainz
  • 1
  • 2
  • 3
  • 4
  • 5
  • 6
  • 7
  • Literatur
  • L’essai comme espace dialogique et poétologique. Réflexions à propos de Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel: Jacques Lajarrige
  • 1. Esquisse d’une poétologie
  • 1.1 Le mouchoir
  • 1.2 Vagabundierende Eigenschaften
  • 2. L’essai comme espace dialogique
  • 3. Résonances
  • 3.1 Theodor Kramer: l’expérience de l’exil
  • 3.2 Jürgen Fuchs: symbole de la dissidence en RDA
  • 4. Une irréductible dissonance: Masse et puissance de Canetti
  • Bibliographie
  • „An ihr können wir gutmachen, was wir einander antun.“ Figurenkonstellationen in Herta Müllers Roman Atemschaukel: René Kegelmann
  • Literatur
  • 6. Ausblicke / Perspectives
  • Herta Müller: Rezeption, ästhetische Innovation und Zeitlichkeit: Iulia-Karin Patrut
  • 1. Einführung
  • 2. Historische Zeitlichkeit im Erzähltext
  • 3. Ästhetische Innovation und Zeitlichkeit
  • 4. Fazit
  • Literatur
  • Herta Müller – Auswahlbibliographie
  • Primärliteratur
  • Übersetzungen
  • Englisch
  • Französisch
  • Italienisch
  • Portugiesisch
  • Rumänisch
  • Spanisch
  • Sekundärliteratur
  • Monographien / Sammelbände
  • Allgemeine Darstellungen und Einzelinterpretationen
  • Zu einzelnen Werken von Herta Müller
  • Zusammenfassungen / Résumés
  • Kurzbiographien / Biographies succinctes
  • Personenregister

Vorwort

Die leitmotivische Frage nach der Zeugenschaft von Literatur stand im Zentrum einer Tagung zu Person und Werk Herta Müllers, die spätestens seit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 2009 zu einer der bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellerinnen avanciert sein dürfte und mit der die gesamte Banater deutsche wenn nicht gar rumäniendeutsche Literatur insgesamt einen deutlichen Aufmerksamkeitsschub erleben konnte. Dabei steht Müllers literarisches Werk schon länger im Fokus von Literaturkritik und literaturwissenschaftlicher Forschung, die sich seit dem Erstlingswerk Niederungen intensiv mit Herta Müller auseinandergesetzt haben.

Vor diesem literatur- und forschungspolitischen Hintergrund haben sich Germanisten und Kulturwissenschaftler aus Montpellier, Toulouse und Weimar zu einer internationalen Tagung entschlossen, die in Montpellier vom 22. bis 24. November 2012 durchgeführt werden konnte. Anknüpfend an eine erste Tagung zur „Rumäniendeutschen Literatur. 40 Jahre „Aktionsgruppe Banat“ im Jahr 2011, die ebenfalls in Montpellier stattfand,1 befassten sich diesmal Fachvertreter und Fachvertreterinnen aus Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien und Rumänien mit den Quellen und Theorien, den Modellen und Kontexten von und in Herta Müllers Vita und Werk, wobei eine gleichermaßen regionale wie ästhetische Einordnung erfolgte. Die Beiträge setzen sich darüber hinaus mit der im Werk sich konstituierenden poetischen Ordnung der Dinge auseinander und befassen sich mit Fragen von verzerrten Identitäten und Bildern an der Grenze zur Normalität. Beleuchtet werden ferner Spuren einer Ästhetik des Widerstands, die sich in Müllers Werk immer wieder manifestiert, so wie auch eine Auseinandersetzung mit der leitmotivischen Frage nach den Bedingungen von Zeugenschaft angesichts totalitärer Erfahrungen. Den Ausblick bildet eine Betrach- tung zur Rezeption.

Die Beiträge weisen dabei sowohl auf die im Werk Herta Müllers häufig vorzufindende kritische Referenz auf Heimat, als auch auf die Reflektionen mit der (totalitären) Repression hin. Auf diese Weise ist es hoffentlich gelungen, die Bandbreite zwischen ästhetischen und politischen, zwischen erinnerungskulturellen und postkolonialen Fragestellungen im Werk Mül ← 9 | 10 → lers auszuloten und einen gleichermaßen umfassenden wie auch neuen Blick

auf die Texte und Kontexte aus unterschiedlichen Perspektiven zu werfen.

Zu danken haben die Veranstalter dabei vor allem den Kollegen in Montpellier für die ausgezeichnete Organisation der Tagung, ferner der Deutsch- Französischen Hochschule /Université Franco-Allemande für die großzügige finanzielle Unterstützung, durch die eine derart internationale Tagung überhaupt erst ermöglicht werden konnte, und nicht zuletzt der Deutschen Botschaft in Paris, die die Veröffentlichung dieser Akten finanziert hat.

Montpellier, Toulouse, Weimar im Oktober 2013

Dorle Merchiers, Jacques Lajarrige, Steffen Höhne

1Siehe hierzu das Sonderheft: Rumäniendeutsche Literatur. 40 Jahre „Aktionsgruppe Banat“. Rencontre de Montpellier, 9 décembre 2011. Études réunies par Dorle Merchiers. In: Études Germaniques 67/3 (Juillet–Septembre) 2012. ← 10 | 11 →

Avant-propos

Véritable leitmotiv, la question du témoignage de la littérature s’est trouvée au centre d’un colloque consacré à la personne et à l’œuvre de Herta Müller, qui, au plus tard avec l’attribution du prix Nobel de littérature en 2009, est devenue l’une des écrivaines de langue allemande les plus connues. Une notoriété grâce à laquelle l’ensemble de la littérature germanophone du Banat, pour ne pas dire l’ensemble de la littérature allemande de Roumanie a connu un net regain d’intérêt.

Il y a déjà bien longtemps pourtant que l’œuvre littéraire de Müller bénéficie de l’éclairage de la critique littéraire et de la recherche universitaire, qui, depuis la publication de son premier livre, Niederungen, ont noué avec elle un intense dialogue.

C’est en repartant de cet arrière-plan qui caractérise la situation de la littérature et de la critique que des germanistes et des spécialistes de l’histoire culturelle de Montpellier, Toulouse et Weimar ont décidé d’organiser en commun un colloque international qui s’est tenu à Montpellier du 22 au 24 novembre 2012. S’inscrivant dans la continuité d’une précédente journée d’études déjà organisée en 2011 à l’Université de Montpellier et consacrée à la littérature allemande de Roumanie et à l’Aktionsgruppe Banat1, des spécialistes de France, d’Allemagne, d’Autriche, d’Italie et de Rouma- nie se sont confrontés aux sources et théories, aux modèles et contextes qui déterminent et sont au cœur de la vie et de l’œuvre de Herta Müller. Une approche qui a permis de les situer dans une perspective tant régionale qu’esthétique. Les contributions ici rassemblées s’intéressent de plus à l’ordre poétique des choses tel qu’il se dessine dans l’œuvre et abordent la question des identités et des images déformées, aux frontières de la normalité. En outre, les traces d’une esthétique de la résistance qui se manifeste en de nombreux endroits de l’œuvre de Müller font l’objet d’un éclairage particulier, de même que la question lancinante des conditions de possibilité du témoignage face aux expériences du totalitarisme. L’ouvrage se termine par un aperçu de la réception.

Ce faisant, les différentes études mettent aussi bien l’accent sur la référence fréquemment critique à la Heimat que sur les réflexions suscitées par la répression (totalitaire). ← 11 | 12 →

Nous espérons être ainsi parvenus à sonder dans l’œuvre de Müller toute l’étendue des interrogations esthétiques et politiques, des questionnements liés aux cultures de la mémoire et au postcolonialisme, et avoir ainsi proposé un regard aussi vaste que neuf sur les textes et leurs contextes.

Les organisateurs remercient avant tout les collègues de Montpellier pour l’organisation sans faille du colloque, l’Université franco-allemande / Deutsch-französische Hochschule pour son généreux soutien, sans lequel la dimension internationale de cette manifestation n’aurait pu être garantie, et l’Ambassade d’Allemagne à Paris, qui a financé la publication de ces actes.

Montpellier, Toulouse, Weimar, octobre 2013

Dorle Merchiers, Jacques Lajarrige, Steffen Höhne ← 12 | 13 →

1Les résultats de cette rencontre organisée le 9 décembre 2011 à Montpellier ont été publiés sous le titre: Rumäniendeutsche Literatur. 40 Jahre „Aktionsgruppe Banat“. Études réunies par Dorle Merchiers. In: Études Germaniques 67/3 (Juillet–Septembre) 2012.

1. Modelle – Kontexte / Modèles – contextes

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STEFFEN HÖHNE

Das Banat (Bánság) als kulturhistorische Transferregion. Literarisch-kulturelle Konstitutionsprozesse in Zentraleuropa

1. Konzept Kulturraum

Ältere Raumvorstellungen rekurrierten häufig auf ein Konzept von Raum, welches statisch und unabhängig von äußeren Einflüssen im Sinne einer Container-Theorie verstanden wurde und wird. Dagegen steht eine relationale Vorstellung von Raum, nach dem „weder Zeit noch Raum dingliche Existenz“ besitzen, „sondern sich der Raum über die Lage eines jeden Körpers zu einem anderen ergebe.“1 Der Verbindung von Raum und Kultur als prinzipiell kontingente Größen in einem Kompositum würde demnach nicht nur auf ein relationales Raumkonzept verweisen, sondern auf eine Vorstellung räumlicher Zugehörigkeit, die durch Symbole markiert und hergestellt wird und der ein potentieller Kampf um Durchsetzung von Bedeutungen zugrunde liegt. Raum soll damit als ein gesellschaftlicher Produktionsprozess der Wahrnehmung, Nutzung und Aneignung durch Codes, Zeichen, Karten verstanden werden.

Ohne nun genauer auf die Wiederentdeckung von Raum als sozialer Konstruktion, wie sie in den diversen Modellen des Spatial Turn behauptet wird,2 einzugehen, seien lediglich einige kursorische Bemerkungen zum ← 17 | 18 → „Kulturraum Banat“3 formuliert, ein zumindest bis 1989 weitgehend in Vergessenheit geratener Raum bzw. ein Raum, der als Teil der Vertriebenenkultur aus dem öffentlich-literarischen Diskurs in Deutschland ausgeschlossen war und der erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Wiederentdeckung der Regionen der vormaligen Habsburgermonarchie allmählich in ein breiteres Bewusstsein rückt.4 Man könnte diese Wiederaneignung, bei der man auf die Aktionsgruppe Banat mit ihrer programmatischen Nomination zurückgehen kann, als eine Form der Raumerschließung mit dem Ergebnis einer neuen Repräsentation von Raum, einer neuen mentalen Landkarte verstehen. Ein zuvor folkloristisch5 oder revisionistisch konnotierter Raum erhält durch Mitglieder einer jüngeren, intellektuell gebildeten Generation eine neue Konnotation abseits essentialistischer Zuordnungen ethnischer oder ideologischer Natur und wird so offen für literarische Bearbeitungen jenseits tradierter provinzieller Orientierung. Der Raum wird zu einem Text, dessen Spuren oder Zeichen semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind, er wird Gegenstand einer Semiosphäre als ein den Raum überformendes Zeichensystem.6 Bevor dieses Verfahren am Beispiel literarischer Texte erläutert wird, seien zur Verdeutlichung zwei Landkarten zum Banat angeführt, die als Zeichensysteme eine Raumordnung herstellen, dabei aber eine doppelte Perspektive besitzen: Die Karte fungiert zum Einen als komplexitätsreduzierter Raum der Repräsentation im Sinne einer historisch-spezifischen Aufzeichnungsform, zum Anderen ermöglicht sie konkretes Handeln, also beispielsweise den Umgang mit ihren Informationen, somit die Praxen der Lektüre dieses kulturtechnisch vermittelten Zeichenverbundsystems: ← 18 | 19 →

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Die obere Karte erfasst die heute zwischen Rumänien, Serbien und Ungarn geteilte Region Banat. Die politische Landkarte zeigt, wem der jeweilige Raum ,gehört‘ und welche nationalkulturelle Identität als übergeordnete ← 19 | 20 → Partikularität mit dem normativ gegliederten Raum erschaffen werden soll7 bzw. welche regionalen Identitäten zu transzendieren sind. Die untere Karte8 verzeichnet die Siedlungsgebiete der deutschsprachigen Minderheit, bildet also keinen politischen, sondern einen sprachlich-ethnischen Raum ab (aus dem sich gleichwohl politische Implikationen ergeben können) und suggeriert durch die farbliche Darstellung homogene deutschsprachige Siedlungsgebiete, welche real existierende Hybriditäten ausblenden.9 Konstruiert wird die Raumvorstellung einer geschlossenen deutschsprachigen Gemeinschaft. Beide Karten, die als komplexe soziale Gebilde wie Texte interpretierbar und immer auch als Repräsentation von Machtdispositiven zu lesen sind,10 weisen auf politisch-kulturelle Übergänge mit neuen Grenzen nach 1918/ 19 zwischen Ungarn, Rumänien und Serbien bzw. zwischen sprachnationalen Mehr- und Minderheiten, für die neue topographische Repräsentationen notwendig werden. „Kartenzeiten stehen“ eben, so Karl Schlögel, „für den Übergang von einer Raumordnung zu einer anderen.“11 ← 20 | 21 →

2. Das Banat als literarisch konstruierter Kulturraum

Die vielschichtige Kultur und Geschichte des Banat bzw. der deutschsprachigen Bevölkerung des Banat ist eines der zentralen Themen der aus dem Banat stammenden rumäniendeutschen Literatur, die einige für Minderheitenliteraturen nicht untypische Phänomene besitzt:

Charakteristisch erscheint das Selbstverständnis der Autoren als Sprecher einer topographisch zuzuordnenden Gemeinschaft,12 worauf schon die Aktionsgruppe Banat verweist.13 Der Autor oder Künstler, um einen berühmten Prager Autor zu zitieren, avanciert zum Repräsentanten einer „kleinen Literatur“, die eine Kohäsionskraft besitze, um die kleine, periphere nationale Gruppe „gegenüber der feindlichen Umwelt“ zu erhalten.14 ← 21 | 22 →

Motiviert wird das literarische Schreiben aus einer Abwehrhaltung gegen die Zumutungen eines unifizierenden Nationalstaats bzw. einer gleichermaßen unifizierenden Ideologie.15

Es erfolgt eine Bezugnahme auf außerliterarische Wirklichkeiten, die als ein historisches Themenreservoir von regionaler Relevanz fungieren16 bzw. bei denen es zu einer „engen Verschränkung von literarischer Ästhetisierung und Geschichte“ kommt.17

Dabei erfolgt ein Bezug auf ein nur bedingt konkret zu verstehendes Territorium, welches auf einer „Landkarte der Sehnsüchte und Erinnerungen“ verortet18 und einer Kartierung fiktionaler Welten unterzogen wird.19

Speziell für die moderne deutschsprachige Dichtung aus dem Banat besteht eine Distanz zum sozialistischen Realismus und zur narrativen Tradition der Regionalliteratur, eine „Emanzipation des thematischen Re ← 22 | 23 → servoires und auch des formalen Vokabulars“, die die Grundlage für die Antiheimatliteratur u. a. bei Herta Müller bildet, zeichnet sich ab.20

Ausgehend von diesen Vorbemerkungen soll anhand der kulturkonstitutiven Essays21 sowie dem Band Niederungen ein Blick auf die kulturpolitisch und erinnerungskulturell gleichermaßen motivierte Raumkonstruktion geworfen. Der lebensweltlich erfahrende Raum Müllers ist durch eine politische und geographische und damit auch kulturelle Randlage geprägt. Die Banater Deutschen verstehen sich als Randbevölkerung des Habsburger Imperiums (Lebensangst 41), einer Region mit der Erfahrung diverser Zäsuren, in denen das Verhältnis von Zentrum und Peripherie nicht nur politisch-geographisch, sondern auch sozial zwischen den ethnischen Gruppierungen der im Banat lebenden Deutschen, Juden, Rumänen, Serben und Ungarn immer wieder neu verhandelt wurde.22 Als territoriale Einheit erst nach der Inbesitznahme durch die Habsburger 1718 in Folge des Friedens von Passarowitz entstanden wurde die Kaiserliche Krondomäne Temeschwarer Banat planmäßig neu besiedelt und 1778 Ungarn eingegliedert.23 Nach 1867, dem Jahr des österreichisch-ungarischen Ausgleichs, verläuft durch den sich intensivierenden Magyarismus, die sprachnationale Magyarisierungspolitik, eine parallel sich verstärkende sprachnationale Orientierung der Minderheiten, zu der auch das ‚nationale Erwachen‘ der Banater Deutschen gezählt werden kann, erkennbar in der semantischen Verschiebung von Deutschungarn zu ungarländischen Deutschen ab etwa den 1880ern. Nach 1918/19 erfolgen Zäsuren durch den Rumänismus, begleitet von entschädigungslosen Enteignungen, steuerlicher Begünstigung rumänischer Organisationen, partiellem Ausschluss der Minderheiten von höherer Bildung durch den Numerus valachicus in den 1930ern sowie von 1939/41 und 1945 durch Nationalsozialismus und Stalinismus.24 ← 23 | 24 →

Eine Reaktion auf diese unterschiedlichen macht- und kulturpolitischen Verschiebungen bilden u. a. die nostalgische Verklärung von Heimat und Heimeligkeit der dörflichen Lebenswelt, die zum Material, ja zur Aufgabe von Dichtung wird:

Es war eine Art Eskapismus, in dem ich einem banat-schwäbischen Dorf nachspürte. Aber diese Ablenkung stach nur in ein anderes verworrenes Nest, in dem die Welt verknäult war durch die eigene sogenannte Tradition und stehengebliebene Zeit. Das Dorf wurde, je länger und tiefer mit dem Kopf in die Kindheit stieg, zu einer Kiste mit Bewohnern, die sich nicht aus den Augen lassen – und nicht ertragen können. (Lebensangst 22 f.)

Herta Müller formuliert implizit Kritik an der Ausblendung hybrider Formen und an der Reduktion interkultureller Interaktionen auf mehr oder weniger ethnozentrisch motivierte Selbst- und Fremdbilder.

3. Destruktion des Wunschbildes Heimat

Gegen das Narrativ einer positiv aufgeladenen deutschen Heimat und der darin impliziten deutschen Kulturleistung der bäuerlichen Lebenswelt als kolonialer Erfahrung bzw. Selbstzuschreibung, das sich als Muster durch „sämtliche Monographien über das Banat zieht“,25 wendet sich Herta Müller schon in den Niederungen, die eine ethnozentrisch orientierte, abgelegene, dunkle (N 38), kalte (N 35), angsteinflößende (N 96, 99), von unbehaglicher Schönheit (N 69) geprägte und durch Auswanderung zum Untergang verurteilte, somit symbolisch sterbende Landschaft repräsentieren. Es ist eine stillstehende Landschaft mit immer gleicher Chronologie der Ereignisse und einer permanenten politischen und sozialen Kontrolle (N 132), aber auch einer erdrückenden Tradition:

Ihre Töchter haben die Tracht nur scheinbar überwunden. In ihren Bewegungen rollen sich die Stoffballen der schwäbischen Kleider auf, und ihre Körper wirken trotz der Dürre so, als passten sie nicht in die Kleider, als befänden sie sich außerhalb der Nähte. Ihre Gehirne aber sind damit angezogen. (N 66 f.) ← 24 | 25 →

Die lebensweltlichen Übergangsriten mutieren zu einem repressiven Zwangssystem,26 das Dorf zum pars pro toto der Diktatur, in der die Postfrau alle „Briefe inwendig und auswendig“ (N 132) kennt:

Das Dorf kam mir immer mehr vor wie eine Kiste, in der man geboren wird, heiratet, stirbt. Alle Dorfleute lebten in einer alten Zeit, wurden schon alt geboren. […] Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt, aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung. Feigheit und Kontrolle – beides war später auch in der Stadt allgegenwärtig. Privat Feigheit bis zur Selbstzerstörung, staatlich Kontrolle bis zur Zerrüttung des Individuums. (Essay 22)

Diese Art von Heimat evoziert Vernichtungsphantasien: „Jeden Abend brennt das Dorf nieder. Zuerst brennen die Wolken.“ (N 122) Gegen die präsupponierte kulturelle Einheitlichkeit des Dorfes und seine nostalgisierende Erinnerungswelt geht es Herta Müller um die Aufdeckung des Verdrängten, um das aus den nationalkulturellen Zuschreibungen Ausgegrenzte, was erbitterte Gegnerschaft hervorruft: „Tendenziöse Verzerrungen der Realitäten im Land, insbesondere im dörflichen Milieu“ (Essay 48), so lautet die Akte der Securitate über den Band Niederungen, zugleich Anlass für die Überwachung durch den Geheimdienst, dessen Maßnahmen allerdings mit der „Intoleranz der Dorfgemeinschaft“27 korrelieren:

Die sogenannten Landsleute aus dem Banat haben mich Nestbeschmutzerin, Hure und Hexe genannt, der Geheimdienst hat mich zum Staatsfeind erklärt. Beide Seiten haben gegen mich gehetzt, Hand in Hand gearbeitet, auch wenn sie es nicht wussten. Sie brauchten keine Absprachen, denn sie hatten die gleichen Gründe: sie hassten das Aufwühlen ihrer geregelten Welt. (Essay 114)

Herta Müller bewegt sich somit an einem doppelten Rand sowohl in regionaler als auch in sozialer Hinsicht. Die Ausgrenzung aus der dörflichen Lebenswelt korrespondiert mit der aus dem staatlich kontrollierten Kollektiv, das aus der Autorin eine Dissidentin macht: „Ich bin doppelt an den Rand gelangt, gleichzeitig an den der Dorfheimat und an den der Staatsheimat.“ (Essay 116) Denn – auch dies erklärt Müller immer wieder:

wer nicht bereit ist, alles an dieser dreihundert Jahre alten, sturen, trägen Heimat zu verklären, der wird von dieser Heimat zum Fremden gestempelt oder gar zum Feind gemacht. (Essay 172) ← 25 | 26 →

In dieser konflikttheoretischen Perspektive Müllers, die sich gegen exklusive Vertretungsansprüche und teleologische Konstruktionen kollektiver Erinnerung entlang ethnischer Grenzziehungen richtet, wird Realität zu einem dehnbaren Begriff, bei dem die Grenzen zwischen Realem und Imaginärem, zwischen Wirklichkeit und traumähnlicher Vision verschwinden.28

Als ich noch in Rumänien lebte, kamen oft Freunde, aber auch Fremde zu Besuch. […] Sie […] wollten das Dorf sehen, aus dem ich kam. Sie sagten mir auch weshalb: sie hatten meine Texte über das Dorf gelesen. Das war mir lästig, da ich wußte, sie wollten nicht das Dorf sehen, aus dem ich kam. Sie wollten in dem Dorf die Niederungen sehen. Sie wollten mit einem flüchtigen Blick des Besuchers, mit eigenen Augen das sehen, was ich aus dem Dorf gemacht hatte. Da schlug ihnen nichts als das leere, taube Licht des Nachmittags zwischen gleich aussehenden spitzgiebligen Häusern ins Gesicht. Das Licht war wie das Dorf: symmetrisch und gewöhnlich bis in seinen letzten Winkel. Und der Blick des Besuchers war irritiert. Nicht selten fiel auf diesen viel zu breiten, viel zu geraden Straßen der Satz: Ich hab mir das Dorf anders vorgestellt. Ich mußte erklären, den Freunden so viel wie den Fremden. Später hab ich mich geweigert, mit den Neugierigen in dieses Dorf zu fahren. Das Dorf gibt es nur in den Niederungen, hab ich gesagt. Sie glaubten mir nicht.29

Mit der Destruktion von Heimat und der Konstruktion einer Anti-Heimatliteratur30 erfolgt bei Herta Müller ein Re-Mapping des Banat von einer „Kopfheimat aus Blasmusik, Trachtenfesten, schmucken Bauernhäusern und geschnitzten Holztoren“ unter Ausblendung fortlaufender totalitärer Traditionen, die mit den Sozialisationen unter den „Diktaturen Hitlers und Ceauşescus“ (Essays 69) verknüpft sind, hin zu den verdrängten, verschwiegenen, tabuisierten Erinnerungskomplexen aus Krieg und Nachkrieg:

Nach allem, was ich über den Nationalsozialismus, den Stalinismus, den poststalinistischen Sozialismus weiß, glaube ich, daß Menschen in allen Diktaturen vor ähnlichen Grundsituationen stehen. (Falle 11)

Es geht Müller somit gerade nicht um die Herstellung von „gemeinschaftlich geteilten territorialen Relationen“31 auf der Basis kommunikativ erzeugter und performativ eingeübter Vorstellungen von Nähe im Rahmen ← 26 | 27 → dörflicher Heimat, sondern im Gegenteil um den Aufbau von Distanz zum Dorf, zu den Bewohnern und zu deren verklärter Geschichte und ihren verdrängten Traumata:

Es lagen immer nur Männer im Krieg. Ich sah lauter Frauen mit verrutschten Kleidern und zerschundenen Beinen auf dem Schlachtfeld liegen. Ich sah Mutter nackt und erfroren in Russland liegen, mit zerschundenen Beinen und grünen Lippen von Futterrüben. (N 102)

Gegen die Verdrängung und gegen die Effekte der nationalistischen Narrative mit ihren Unifizierungstendenzen verweisen Herta Müller, aber auch andere Banater Autoren immer wieder auf die spezifischen Charakteristika der prinzipiell offenen Region, die sich den Zwängen des Staates wie der kollektivierenden Gemeinschaft zu entziehen sucht.32

4. Von der Heimat ins Lager: Herta Müllers Deprivationsliteratur33

Mit ihren Texten sich Herta Müller wie auch andere Autoren aus ihrem Umfeld in eine habsburgisch-kakanische Tradition,34 geht es doch in diesen Essays um die individuelle wie kulturelle Selbst- und Fremdbestimmung, in der eine austriazistische, an Robert Musils Kakanien-Kapitel erinnerende Codierung erkennbar wird.

Der Turnlehrer hat seine Schwierigkeiten beim Einteilen der Schüler. Daher schreibt er sich nach jeder Stunde auf, welchem Volk jeder Schüler angehörte. Wer in der vergangenen Stunde ein Deutscher sein durfte, muss in der kommenden ein Russe sein, und wer in der vergangenen Stunde ein Russe war, der darf in der kommenden ein Deutscher sein. Es kommt vor, dass es dem Lehrer nicht gelingt, die nötige Schüleranzahl zu überzeugen, Russen zu sein. Wenn der Lehrer nicht mehr weiterweiß, sagt er, seid ihr eben alle Deutsche und los. Weil die Schüler in diesem Fall jedoch nicht begreifen, weshalb man da noch kämpfen sollte, teilen sie sich in Sachsen und Schwaben ein. (N 125 f.) ← 27 | 28 →

Herta Müller, die in Wittgensteinscher oder Hofmannsthalscher Tradition „der Sprache nicht“ traut (Essay 98) und somit den sprachnationalen Zuordnungen, problematisiert Konzepte von Identität und Alterität in pluriethnischen und -lingualen Kontexten, um ein Gegenmodell zu staatlicher, ideologischer und folkloristischer Unifizierung zu erhalten:

Wenn ich rumänisch war, war ich rumänisch. Ich war nicht deutsch auf rumänisch, und ich war nicht rumänisch auf deutsch. Sondern ich war entweder das oder das, je nach der Situation, in der ich mich befand. (Lebensangst 40)

Die konservativ-ethnozentrische Dorfkultur dagegen mit ihren Verfahren der Abgrenzung und kulturellen Selbstvergewisserung, mit ihren Mythen und Stereotypen, korreliert mit der totalitären Herrschaft. Beide, Dorf und Staat, werden als korrespondierende Phänomene wahrgenommen, die zugleich die Basis für Müllers anti-nostalgisches Erzählen bilden:

Auf dem Land war der deutsche Frosch der Aufpasser, der Ethnozentrismus, die öffentliche Meinung. Der deutsche Frosch legitimierte diese Kontrolle des Einzelnen mit einem Vorwand: Bewahren der Identität. Im Sprachgebrauch hieß das Deutschtum. Doch wie immer hat auch dieses Auge des deutschen Frosches, da es ein Auge der Macht war, nichts behütet. Identität, die so zwanghaft wachgehalten werden sollte, wurde immer auch Intoleranz.35

Das „unbehaglich schöne“ (N 69) Dorf wird zur ersten erlebten Diktatur,36 die auf frühere totalitäre Erfahrungen zurückweist, wobei bei Müller eine allmähliche Verlagerung von der Dorfgeschichte zum Lagertopos, in der alles Heimische, Vertraute brüchig wird: Der Vater entpuppt sich als Waffen-SS-Mitglied, die dörfliche Lebenswelt ist geprägt von den heldenhaften Erinnerungen an Krieg und den weniger heldenhaften an das Lager, Freunde entlarven sich als Spitzel. Oskar Pastiors Erkenntnis, „Meine Sozialisation ist das Lager“ (Essay 126), lässt sich ohne Weiteres auf Herta Müller übertragen, bei der die Logik des Lagers auch aktuelle lebensweltliche Erfahrungen zu determinieren scheint.

Tragisch an diesem so notwendigen Sieg über Hitler ist, dass man aus diesem Sieg nichts lernen durfte. Er durfte sich für den einzelnen nicht lohnen, als ← 28 | 29 → individuelles Leben und privates Glück. Die Sowjetunion siegte immer weiter, Jahrzehnte über die Freiheit. […] Wer sich ein Stück zivile Würde wünschte, für den gab es den Gulag. (Essay 121 f.)

Details

Seiten
418
Jahr
2014
ISBN (PDF)
9783035106800
ISBN (ePUB)
9783035198621
ISBN (MOBI)
9783035198614
ISBN (Paperback)
9783034313902
DOI
10.3726/978-3-0351-0680-0
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2014 (April)
Schlagworte
Kulturgeschichte Ästhetik Poetologie Widerstand Postkolonialismus
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2014. 418 S., 2 farb. Abb.

Biographische Angaben

Dorle Merchiers (Band-Herausgeber:in) Jacques Lajarrige (Band-Herausgeber:in) Steffen Höhne (Band-Herausgeber:in)

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Titel: Kann Literatur Zeuge sein?- La littérature peut-elle rendre témoignage ?
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