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Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750) IV

Beiträge zur vierten Arbeitstagung in Palermo (April 2015)

von Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)
©2016 Konferenzband 624 Seiten

Zusammenfassung

In Fortsetzung des Arbeitsprogramms der Forschungsgruppe widmet sich dieser Band einer ungewohnten Perspektive der Rezeptionsliteratur, nämlich der Aufnahme von historischen Figuren und literarischen Werken der frühen Neuzeit in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Von der Melusinenlegende bis zu den utopischen Entwürfen des 17. Jahrhunderts wird das Fortleben dieser Stoffe an zahlreichen Beispielen illustriert. Dabei stellt sich heraus, dass geeignete Figuren sehr häufig für die nationalistische Propaganda der Moderne instrumentalisiert werden.
Der Festvortrag von P. Andersen über die staufische Literatur enthält eine bemerkenswerte These zur Identität von Hartmann von Aue.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort (Laura Auteri / Alfred Noe / Hans-Gert Roloff)
  • Die frühneuhochdeutsche Melusine rediviva in literarischen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts (Barbara Lafond-Kettlitz)
  • Das Nibelungenlied und der Hürnen Seyfrid – zwei Fassungen im Wechsel (Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus)
  • Plautus im Nonnenkloster (Alfred Noe)
  • Das Bild Kaiser Maximilians I. in der Literatur der Restaurationsepoche (1815–1830) (Marija Javor Briški)
  • Mutmaßungen über Cäsar: Cesare Borgia im deutschsprachigen Roman des 20. und 21. Jahrhunderts (Roberto De Pol)
  • Die Wiederentdeckung von Hans Sachs und den historischen Meistersingern am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert: Wieland, Goethe, Lortzings Hans Sachs und Wagners Meistersinger von Nürnberg (Danielle Buschinger)
  • Heimito von Doderers Ein Umweg (1940) und Die Dämonen (1956). Ein frühneuzeitliches Diptychon (Daniel Syrovy)
  • Guido Erwin Kolbenheyer und seine Rezeption des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Trilogie des Paracelsus (1917–26) (Laura Auteri)
  • Die Rezeption des Volksbuches vom Doktor Faustus (Winfried Woesler)
  • „Der Doktor von Parisz“ feiert seine Urständ. Bidermanns Cenodoxus im Salzburger Gewand. Hugo von Hofmannsthals Aufzeichnungen zu einem Xenodoxus (Jean-Marie Valentin)
  • „Ich rede nach der Sechsischen cantzley.“ Zur Rezeption von Luthers Ausspruch in der sprachgeschichtlichen Forschung des 19. und des 20. Jahrhunderts (Federica Masiero)
  • Martin Luther als Bühnenfigur im Drama des 19. und 20. Jahrhunderts (Hans-Gert Roloff)
  • Historisch bedingt. Zu den verschiedenen Gestaltungen des Stoffes der Jüdin von Toledo (Isabel Hernández)
  • Der Bauernkrieg in den Singspielen Yaak Karsunkes und Martin Walsers: Bauernoper und Das Sauspiel (Michael Dallapiazza)
  • Es müntzert wieder. Thomas Müntzer in zeitgenössischer Literatur (Natascia Barrale)
  • Das Treffen in Telgte. Die tausend Wege der Rezeption, das Barock und die Postmoderne. Ein Essay (Fausto De Michele)
  • Das Deutschland von Martin Opitz im historischen Roman vor und nach 1945 (Anne Wagniart)
  • Zeitschrift, Verein, Verlag – Wege der Barockrezeption im Schlesien um die Jahrhundertwende und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Tomasz Jabłecki)
  • Zwischen Angst, Traum und Ekstase. Motive und Wege der Barockrezeption im Expressionismus (Kalina Mróz-Jabłecka)
  • Tauchen im Schnee von gestern. Grünbeins Descartes-Lektüren und ihre Folgen (Claus Zittel)
  • Mond-Sucht und Erd-Spiegelung. Durs Grünbein in der Spur von Cyrano de Bergerac (Jörn Münkner)
  • Festvortrag. Ist ‚Hartmann von Aue‘ ein Künstlername Heinrichs VI.? (Peter Hvilshøj Andersen-Vinilandicus)
  • Register
  • Reihenübersicht

Vorwort

Die Veranstalter der Vierten Arbeitstagung zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400-1750), die vom 16. bis 19. April 2015 in Palermo stattfand, legen hiermit die Beiträge zu der interessanten und erfolgreichen Tagung vor. Bei dieser Gelegenheit danken wir der Universität Palermo für die organisatorische und finanzielle Unterstützung der Tagung.

Wie bereits in unseren ersten drei Arbeitstagungen (Eisenstadt 2011, Hundisburg 2013, Wissembourg 2014) ausgeführt, weist die Mittlere Deutsche Literatur zwischen 1400 und 1750 einen beträchtlichen Bestand an deutschsprachiger Rezeptionsliteratur auf, deren statistisches Verhältnis zur originalen deutschen Literatur in Frühneuhochdeutsch und Neulatein noch nicht ausreichend ermittelt ist. Sichtung, Aufarbeitung und bildungsgeschichtliche Wertung dieser Literatur gehören wohl zu den interessantesten und historisch aussagekräftigsten Aufgaben, und zwar in vieler Hinsicht:

Das Thema dieser vierten Tagung war die literarische Rezeption der Frühen Neuzeit in der neueren deutschen Literatur (19.-20. Jh.), um daran den Begriff Rezeption vom Begriff Übersetzung abzuheben. Dargestellt wurde an treffenden Beispielen in chronologischer Reihenfolge und nach Gattungen geordnet die Spannung zwischen der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Vorlage, d.h. dem geschichtlichen Original (soweit es historisch erfasst ist), und deren Problematisierung in der späteren Zeit durch ideologisch bedingte Umsetzungen von Figuren oder Geschehnissen der Frühen Neuzeit durch Missverständnisse der historischen Beschreibung eines Phänomens in der neueren Gestaltung oder durch Neu-Funktionalisierung einer Vorstellung bzw. eines Bildes von einer Gegebenheit der Frühen Neuzeit und deren literarischhistorische Verfälschung im 19.-20. Jahrhundert.

Die dadurch hervorgerufenen Probleme lassen sich an einer Reihe von Fragen ablesen:

Wie wird die sachlich-reale Geschichtsgegebenheit durch die Neugestaltung zum eigenständigen Produkt der schaffenden Person?

Bekommt der Rezeptionsgegenstand emblematischen, symbolischen oder sinnbildlichen Charakter?

Welchen Rückkoppelungseffekt hat die neue Darstellung auf die Bewertung der geschichtlich eigenständigen Gegebenheit und welches Verhältnis zwischen historischer Vorlage und ahistorischer Fiktion ergibt sich daraus? ← 9 | 10 →

Sind die historischen Gattungen in der Literatur eine spezifische Form der Interpretation aus der Kenntnislage späterer Kulturzeit?

Wie weit ist das ‚Historienstück‘ eine Rekonstruktion aller denkbar bekannten Details?

Welche Funktion erfüllt die historische Maske im Verhältnis zur jeweiligen Realität?

Darf im Zuge der Literarisierung die historische Gegebenheit im Namen der poetischen Freiheit verändert, verfremdet, ja sogar missachtet werden?

Dürfen historisch bedeutsame Ereignisse oder Gestalten zu Spielfiguren späterer ideologischer Transformationen in der Fiktion werden?

Die in diesem Band enthaltenen Beiträge folgen dem Programm der Tagung.

Palermo / Wien / Berlin, im Juni 2016

 

Laura Auteri Alfred Noe Hans-Gert Roloff
Universität Palermo Universität Wien Freie Universität Berlin ← 10 | 11 →

Die frühneuhochdeutsche Melusine rediviva in literarischen Diskursen des 19. und 20. Jahrhunderts

Barbara Lafond-Kettlitz (Straßburg)

Zusammenfassung: Der Beitrag untersucht die Rezeption von Thüring von Ringoltingens Melusine (1456) in literarischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts im Hinblick auf Transformation, Neugestaltung und Dekonstruktion. Die Neu-Funktionalisierung des frühneuhochdeutschen Hypotextes soll im intertextuellen Prozess zu verschiedenen Hypertexten eruiert werden: Karl Friedrich Hensler: Das Donauweibchen: Eine romantische Geschichte der Vorzeit (1799) – Ludwig Tieck: Sehr wunderbare Historie von der Melusine (1800) – J. W. v. Goethe: Die neue Melusine (1807/08) – Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811) – Franz Grillparzer: Melusina (1823) – Theodor Fontane: Melusine. An der Kieler Bucht (1878), Oceane von Parceval (1882), Melusine von Cadoudal (1895). – Jakob Wassermann : Melusine (1896) – Jean Hyppolyte Giraudoux: Ondine (1938). – Ingeborg Bachmann: Undine geht (1961) – Hannes Anderer: Unterwegs zu Melusine. Buch 1. (2006), Begegnung mit Melusine. Buch 2. (2007)

Stichworte: Melusine; Undine; Thüring von Ringoltingen; Karl Friedrich Hensler; Ludwig Tieck; Johann Wolfgang von Goethe; Friedrich de la Motte Fouqué; Franz Grillparzer; Paul Heyse; Jakob Wassermann; Ingeborg Bachmann; Hannes Anderer.

Es ist sicher nicht dem Zufall zuzuschreiben, dass ich die Ehre habe, mit Melusine die Arbeitstagung zu eröffnen. Der frühneuhochdeutsche Melusinenroman Thürings von Ringoltingen1 ist ein herausragendes Fallbeispiel der Rezeptionsliteratur, ein Prätext, der als dominante, den deutschsprachigen Raum bestimmende Überlieferungsvariante des Stoffes und dessen Motiv der gestörten Mahrtenehe zahlreiche Bearbeitungen erfahren hat. Aus rezeptionsge ← 11 | 12 → schichtlicher Perspektive erscheint der Ansatz der Mythokritik, die Wahrnehmung der Melusine als Mythos, weniger fruchtbar, obwohl es eine große Anzahl von Werken in der Literatur, Malerei und Musik zum Mythos der Fischfrau und der Wasserfrau – Nymphen, Najaden und Sirenen – gibt. Für unsere vielmehr diachron ausgerichtete stoff- und rezeptionsgeschichtliche Perspektive soll Thüring von Ringoltingens Melusine aus dem Jahre 1456 als Referenzpunkt dienen und wird fortan zitiert mit R. Im 15. und 16. Jahrhundert war sein Prosaroman bereits ein Best- und Longseller, im 17. Jahrhundert vornehmlich Adelslektüre. Mit der Popularisierung des Lesens wurden die alten, prachtvollen Drucke in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch schlichtere, preiswertere Ausgaben erweitert und einem breiteren Lesepublikum zugängig gemacht. Die Melusinengeschichte gelang durch diese sogenannten ‘Volksbücher’, ein heute in der Forschung verpönter Begriff, auch als Puppentheater auf die Marionettenbühne, im 19. Jahrhundert sogar als Bilderbogen unter die Leser.

Entgegen dem Grundsatz der Vollständigkeit fokussiert folgende Untersuchung auf einige repräsentative Neubearbeitungen im 19. und 20. Jahrhundert, wobei insbesondere der Text-Kontext-Bezug, die Interaktion zwischen literarischer Kreation und kulturellem Umfeld, ins Auge gefasst werden soll. Ebenso soll die Neu-Funktionalisierung des frühneuhochdeutschen Hypotextes im intertextuellen Prozess zu verschiedenen Hypertexten eruiert werden; von wesentlicher Bedeutung wird dabei die Spannung zwischen Thürings Referenztext und den verschiedenen Neugestaltungen sein, insofern sie überhaupt noch auszumachen ist. Es soll der Versuch gemacht werden, die einzelnen Bearbeitungen des Stoffes aus ihrer diskursiven Kontext-Gebundenheit und/oder soziokulturellen Verortung heraus zu verstehen. Angesichts der Fülle von künstlerischen Melusinen-Gestaltungen – sei es in der Musik, der Malerei oder in sämtlichen literarischen Gattungen – sollen nur einige repräsentative Fallbeispiele herangezogen werden. Der Corpus beinhaltet:

– Justus Friedrich Wilhelm Zachariä: Die Historia von der edlen und schimgnen Melusine (1772)

– Ludwig Tieck: Romantische Dichtungen. Zweiter Theil: Sehr wunderbare Historie von der Melusina (1800)

– Karl Friedrich Hensler: Das Donauweibchen. Ein romantisch-komisches Volksmährchen mit Gesang in drei Aufzügen, Nach einer Sage der Vorzeit (1801)

– Friedrich de la Motte Fouqué: Undine (1811)

– Johann Wolfgang von Goethe: Die neue Melusine (1817)

– Franz Grillparzer: Romantische Zauber-Oper Melusina (1833)

– Theodor Fontane: Melusine. An der Kieler Bucht (1878), Oceane von Parceval (1882), Melusine von Cadoudal (1895)

– Jakob Wassermann: Melusine. Ein Liebesroman (1896) ← 12 | 13 →

– Ingeborg Bachmann: Undine geht (1961)

– Hannes Anderer: Unterwegs zu Melusine. Buch 1 (2006), Begegnung mit Melusine. Buch 2 (2007).

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Abb. 1: Referenztext Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74.

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Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten Schönen Melusina. Die Melusine (1456) Thürings von Ringoltingen in einer wiederentdeckten Fassung aus dem frühen 18. Jahrhundert

Die Wahrnehmung der Melusine in der gelehrten Schriftkultur (‘culture savante’)1 als subliterarischer Lesestoff erklärt das Fehlen von Neubearbeitungen im 17. und 18. Jahrhundert. Insofern ist die Historische Wunder-Beschreibung von der so genannten schönen Melusina2 aus dem frühen 18. Jahrhundert, die bei unserer letzten Arbeitstagung in Wissembourg 2014 vorgestellt wurde,← 13 | 14 → eine erst vor kurzem entdeckte Variante des Melusinenromans aus dem beginnenden 18. Jahrhundert, um 1725 anzusetzen, eine Ausnahme; sie gehört jedoch noch in den Bestand der Rezeptionsliteratur der Mittleren Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1750 und ist vom genus medium, vom galanten Stil eines literarischen Prestigetextes geprägt, wie die vergleichende Analyse der Makro- und Mikrostrukturen gezeigt hat.

„Melusine” als galantes Lehrgedicht

1772 erfuhr Ringoltingens Melusine die erste Neubearbeitung durch Justus Friedrich Wilhelm Zachariä; in Leipzig erschien das anonyme Bändchen: Zwei schimagesne neue Mimageshrlein als I. Die Historia von der edlen und schimagesnen Melusine, II. Von einer untreuen Braut, die der Teufel hohlen sollen.3 Goethe hat es umgehend für die Frankfurter Gelehrten Anzeiger4 rezensiert, ohne darin eine späte Veröffentlichung des Rokokodichters zu erkennen. Es handelt sich um eine scherzhafte Neugestaltung aus der Perspektive eines ‘gelehrten Bürgers’.5 Er formt die Melusinengeschichte zu einem ‘galante[n] Lehrgedicht’ im Sinne des Rokoko um,6 passt sie den gesellschaftlichen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts an. Das Problem der Mahrtenehe und Melusines Erlösungsbedürftigkeit als Andersweltfrau werden ausgeblendet, diese Verharmlosung ermöglicht eine Didaktisierung, vor allem für den männlichen Leser: Reymund als Negativ-Beispiel, denn er hat es nicht verstanden, seiner Gattin ein kleines Geheimnis zu lassen.7

Melusine im Umfeld der Romantik. Strategien der Romantisierung: Aquatisches und Antikes

Die Romantiker wollten den Aufstieg der Prosaromane in den Rang höherer Literatur fördern und dem Geschmack des gebildeten Bürgertums Rechnung tragen. Die Aufwertung des Melusinenstoffs als literarisches Sujet muss so auch als dessen Funktionalisierung im Kontext der romantischen poetologischen Konzepte verstanden werden.

Ringoltingens Melusine diente Ludwig Tieck dazu, die sogenannte Volkspoesie über eine durchgreifende Bearbeitung zu erneuern, die aufgrund ihrer ‘natürlichen Autogenese’ aus seiner Sicht einem unablässigen Veränderungsprozess unterliegt; insofern verstand Tieck seine Neubearbeitung als ein Weiterdichten der Tradition.9 Dabei stand seine Adaption unter dem Vorzeichen der romantischen Mythenkonzeption. August Wilhelm Schlegel hatte sich in seiner dritten Vorlesungsreihe 1802/03 in Berlin bereits mit Ringoltingens Melusine befasst, nahm zwar die Darstellung der Geschichte des Hauses Lusignan, die Verortung im Poitou und die genealogische Funktion wahr, sah aber vor allem so manches Mythologische”.10 Während Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger in ihren Moralischen Wochenschriften Die Discours der Mahlern11 über den Künstler spotteten, „[…] der den Obertheil einer Sta ← 15 | 16 → tuen biß an die Hüfften zu einer schönen Frauens-Person hauete/ und den untern in einem Fischschwanz zusammenzöge”,12 hatte Goethe, der Melusine auch aus seiner Lektüre des Buch[s] der Liebe 1772 in Leipzig kannte, das Mythische betont. Werther schreibt in seinem Brief vom 10. Mai:

Das ist gleich vor dem Orte ein Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren Schwestern. – Du […] findest dich vor einem Gewölbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben umher die Einfassung macht, die hohen Bäume, die den Platz rings umher bedecken, die Kühle des Orts; das hat alles so was Anzügliches, was Schauerliches.13

„Seine Einführung unter den Melusineneichen reicht aus, um den Brunnen von Wahlheim ein für alle mal mit den mythischen Qualitäten von Bann, Anziehung und Schauer aufzuladen.”14

August Wilhelm Schlegel unterstrich das Ambivalenzfreudige des Melusinenmodells, das Mythische. Der frühromantischen Naturphilosophie entsprechend sah er Melusine als die Personifizierung des Elements Wasser, als Verkörperung der dem Menschen feindlichen, unberechenbaren und dämonischen Aspekte der Natur. Er assoziierte Begriffe wie ‘schwarze Magie’ mit ‘lieblicher Gestalt’, Naturmagisches mit Verführerischem und Dämonisches mit Erotischem, eine Kombination, welche die Melusinenfigur des 19. Jahrhunderts bestimmen wird.

Trotz des Titels seiner 1800 publizierten Sehr wunderbare[n] Historie von der Melusina betont Tieck mehr das Fiktionale, die Nähe zum Märchen, die Kategorie des Wunderbaren, wie es der auktoriale Erzähler einleitend betont: „[…] sehr wunderbare Historie, die vielen nur ein Mährchen dünken möchte, weil einige Umstände zusammentreffen, die fast an das Unwahrscheinliche ← 16 | 17 → gränzen.”15 Tieck hält sich inhaltlich und motivisch eng an den Hypotext, gliedert die 66 Kapitel in drei „Abtheilungen”16 (Kap. I–XV/ Kap. XVI–XXXIX/ Kap. XL/ Kap. LXVI). Die Romantisierung lässt sich auf mehreren Ebenen ablesen. Zunächst an der Figurengestaltung: Melusine wird als Christin dargestellt, doch durch entsprechende Metaphorik eng mit dem aquatischen Element und der antiken Mythologie vernetzt, z. B. Melusines Beschreibung als Braut: „[…] und wie die Sommerlüfte spielend um sie wehten, flossen in zarten Wellen die Falten des Gewandes, als wenn die Göttin aus dem Meere gestiegen wäre und so eben die letzten Wogen von ihr niedergleiten wollten”,17 im Gegensatz zur christlichen Engelsgestalt im Hypotext: „unnd gleich sich baß einem schönen Engel/ denn einem tödlichen Menschen”.18 Die Anspielung auf die schaumgeborene Aphrodite bzw. Venus ist hier unverkennbar.

Das Brautgemach wird durch Wandbilder mit Szenen aus der Mythologie, wie die badende Leda mit dem Schwan, schwimmende Najaden, die badende Galatea zum Bereich des Wassers ästhetisiert und zugleich erotisiert:

Hier stand ein prächtiges Bett, das mit Lilien besteckt war, schimagesne Teppiche und Vorhänge von der seltensten Stickerey zierten das Gemach, nicht minder trefliche Mahlereien. Hier sah man in den lebhaftesten Farben die nackte, badende Leda und den schneeweissen Schwan, der sich liebkosend an sie schmiegte, indeß sie verwundert und entzimagesndet mit durstenden Lippen in der Luft nach erwiedernden Kimgssen suchte: hier entsprang die Gimagestinn der Liebe aus der Flut und schwimmende Najaden brachten ihr Korallen und Lobgesimagesnge entgegen. Dort war Mars im Netze mit der Venus in einer Stellung festgehalten, die die Blicke der limagessternen Gimagestterschar entzimagesckte. Hier badete Galatea und die Wellen schmiegten sich zimagesrtlich zu ihren Fimagesssen und ein schelmischer Widerschein fing das Bildniß der lieblichen Gestalt auf.19

In der Szene des Tabubruchs, als Reymund Melusine durchs Schlüsselloch beobachtet, wird ihre Badekammer in eine Art Venusgrotte verwandelt:

Melusina wird mit Zither als singende Nixe, als Sirene inszeniert; durch die Assoziation mit der Venusgrotte, wie in der Tannhäusersage, „wird das Motiv der dämonischen Versuchung durch erotische Verführung aufgerufen, die Melusinenfigur in die Nähe einer dämonischen Verführerin gerückt.”21 Dabei blendet der Erzähler die traditionelle Beschreibung Melusines als Schlangenund Drachenweib, als semi-theriomorphe Gestalt mit dem bei Ringoltingen „ungehewre[n] Wurmschwantz”22 aus, indem er ihre hybride Gestalt ästhetisiert:

Melusina im Bade, wie sie von oben bis auf den Nabel ein schimagesnes Weib sei, dann sich aber in den Schweif einer bunten gesprengten Schlange endigte, der azurblau war und mit Silberfarben darunter gesprengt, so daß diese Farben wundersam in einander schimmerten.23

Reymund wird im Vergleich zu Ringoltingens Fassung als sehr arglos, fromm und sittsam charakterisiert, z. B. wie er „artig sein Hütlein beim Beten vor das Gesicht zu halten wußte, wie wohl die andern sich auch andächtig bezeigten, nachher zierlich und sauber aß.”24 Beim zweiten Tabubruch insultiert er in seinem Zorn Melusine öffentlich: ← 18 | 19 →

Die Enthistorisierung äußert sich darin, dass präzise geographische Ortsnamen nur vage formuliert werden wie z. B. Poitiers (R, 7) als „in Frankreich”,26 oder das „Schloß Larotschelle”,27 das Melusina nun in Anspielung auf ihren eigenen Namen „Lusinia” nennt.28 Tieck muss auch Zugang zu einer französischen Fassung gehabt haben, weil er einen charakteristischen Übersetzungsfehler Thürings korrigiert: ‘fontaine de soif’ wird nicht als ‘Durstbrunnen’ übersetzt, sondern vom lateinischen ‘sepaes’ (Waldstück) abgeleitet als ‘Waldbrunnen’. Der konfessionell neutrale Wortschatz „Capell” und „Predigt”29 wird durch das katholisch konnotierte Wort „Brautmesse” ersetzt.30 Ebenso tritt auch die genealogische Dimension in den Hintergrund, Glück und Ehre tangiert anders als in Thürings Roman nicht die Familie, sondern die Subjektivität der Person. Die genealogischen Referenzen haben weniger Gewicht, die Heldentaten und Heiraten der in einer kurzen übersichtlichen Tabelle aufgelisteten Söhne sowie Goffroys Missetat sind wesentlich gekürzt. In Tiecks Bearbeitung wird die Familienchronik und Haushistoriographie eines Adelsgeschlelchtes zu einem zeitlosen, überhistorischen ‘Mährchen’. Ganz im Sinne der Romantik werden auch die sentenzartigen, an die Vernunft appellierenden Kommentare des Erzählers in der Ringoltingschen Vorlage, so das Augustinus-Exempel und die Seneca-Referenz weggelassen. Hingegen fügt er einen Bezug zu Boethius ein, als der König von Elsaß sich daran erinnert, dass er Undankbarkeit für eines der größten Laster hält.31 So gibt es auch keine Erzählerkommentare, wenn der Handlungsstrang wechselt, keine Leserlenkung durch den an die Vernunft appellierenden Erzähler wie bei Ringoltingen. Dafür spielen musikalische Einlagen – Brautgesang, Liebeslied und Klagelieder – eine vorrangige Rolle. Die fließenden Grenzen zwischen Musik und Dichtung, zwischen Lyrik und Prosa, zwischen sprachlicher, visuell-malerischer und musikalischer Gestaltung kennzeichnen Tiecks mythologisierende Melusinendichtung als romantische Universalpoesie. ← 19 | 20 →

Melusines Verortung im Donaubereich

Rein chronologisch hätte das bereits 1795 vom Theaterschriftsteller und Direktor des Leopoldstädter Theaters in Wien, Karl Friedrich Hensler (1759–1825), verfasste Libretto folgen müssen: Das Donauweibchen. Ein romantisch-komisches Volksmährchen mit Gesang in drei Aufzügen, Nach einer Sage der Vorzeit 32 verfasst. Doch diese Bearbeitung stellt einen Einschnitt dar, insofern sie den ursprünglich im Poitou verorteten Stoff in den Donaubereich transponiert und weitere Neufassungen beeinflussen wird. Es gilt als das älteste Zeugnis der Bearbeitung des Wasserfrauenthemas in den Wiener Zauberstücken, wurde von Ferdinand Kauer vertont, 1798 in Wien erfolgreich uraufgeführt und erlebte bis 1824 insgesamt 222 Aufführungen.33 Von seiner europaund weltweiten Rezeption und Beliebtheit zeugen auch Inszenierungen in Amsterdam (1801), Temesvàr (Rumänien, 1801), Bern (1803), Budapest (1804) und New York (1859). Hensler wählte als Vorlage den ebenfalls 1795 publizierten Trivialroman von Christian August Vulpius: Die Saal-Nixe: eine Sage der Vorzeit.34 „Vulpius, Goethes Schwager reklamiert in der 1804 erschienen Neuausgabe Hulda oder die Nymphe der Donau eigentlich Saalnixe genannt seine Autorschaft gegen die Wiener Vereinnahmung.”35 Sie wurde am Weimarer Hoftheater zwischen 1804 und 1847 aufgeführt. Spuren der Ringoltingschen Melusine sind noch präsent, da Goethes Schwager seinerseits dem frühneuhochdeutschen Roman Motive entnommen, aber auch aus Paracelsus’ Buch über die Elementargeister geschöpft hat;36 als maßgebend führt er das ← 20 | 21 → neue Motiv Der Mann zwischen zwei Frauen ein. Der Melusinenstoff gelangt sozusagen via Weimar an die Donau; Hensler konzipiert sein Singspiel im Stil der Wiener Kasperl- und Zauberoper mit vielen Gesängen, Tanzeinlagen, Arien, Duetten und Nixenchor. Er konzentriert sich auf die Handlung zwischen dem Ritter Albrecht von Waldsee, dem Donauweibchen Hulda und der Braut Bertha. Das Motiv der Mahrtenehe ist ausgeblendet, denn das Donauweibchen, das schon vor 400 Jahren die Geliebte Siegfrieds, eines Vorahnen des Ritters Albrecht, war, beansprucht nicht die Rolle der Ehefrau, sondern möchte nur drei Tage jährlich den Ritter zum Geliebten. Die Märchenzahl, das Ringmotiv, das Taubenmotiv zeugen vom Einfluss von Mozarts Zauberflöte (1791), so z. B. die Ariette:

Es gibt eine für das Wiener Volkstheater notwendige parallele Dienerhandlung, in der Albrechts Zechmeister, der Kaspar Larifari, von der liebestollen Jungfer Salome, der Erzieherin Berthas, verfolgt wird. Zum Personal gehören auch die Meistersänger, der Minnewart, der Fuchs. Das Donauweibchen Hulda tritt in verschiedenen Rollen auf, als Müllermädchen, Fischertochter, Wirtin; Albrecht allein sieht sie als überirdisches Wesen; doch sie wird entdämonisiert, insofern diabolisierende Äußerungen nur Kasperl in den Mund gelegt werden. Die humoristische Wirkung wird nicht verfehlt, wenn er von Hulda als „Hexe, Teufel, Luzifer, Satan, Belzebub”38 spricht. Der Ritter Albrecht bricht das Schweigeverbot, doch seine Bestrafung bleibt aus, insofern die bereits vollzogene Strafe wieder rückgängig gemacht wird, da ihm Hulda am Schluss verzeiht. Sie fungiert, analog zu Thürings Melusine, als Schutzgeist des Schlosses, und wünscht Albrecht Segen zur Vermählung mit seiner weltlichen Braut Bertha. In der Forschung wird Hulda als „die Ahnfrau aller Undinen und Melusinen der Romantik angesehen.”39 Das happy end ist für das Zaubermärchen und deren Unterhaltungswert unverzichtbar und erklärt so die Popularität des Stückes. Durch diese bekannte Oper war die Donau „zum bevorzuge Wohnort für die Wassergeister mythisiert worden, wozu noch die Donaunixen im wiederentdeckten Nibelungenlied beitrugen.”40 ← 21 | 22 →

Friedrich de la Motte Fouqué: Undine41

1811 erschien das Kunstmärchen Undine von Friedrich de la Motte Fouqué als „Frühlingsheft” der Zeitschrift Jahreszeiten.42 Seine Hauptquelle war das bereits erwähnte, 1566 posthum veröffentlichte Liber de nymphis, sylvis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus von Paracelsus Theophrastus Bombastus von Hohenheim.43 Keiner hatte die Deutung des Paracelsus vorweggenommen, dass die Andersweltfrauen durch die Ehe mit einem Mann eine Seele erhalte, und dieses Motiv, das dann über Fouqués Undine für das Verständnis der Elementarwesen Bedeutung gewann, darf nicht in die Fassungen der Frühen Neuzeit hineinprojiziert werden. Dass Ringoltingens Melusine eine Seele hat, stand nie in Frage – sie ist eine unerlöste Seele, die der Errettung durch einen Nächsten bedarf. Damit verkörperte sie beispielhaft die Erlösungsbedürftigkeit der Schöpfung nach dem Sündenfall: „Fouqués Undine wird als ein Schlüsseltext der Paracelsus-Rezeption gesehen, der das Motiv des nach einer unsterblichen Seele strebenden Elementargeistes nachhaltig in die Literaturund Kulturgeschichte der Moderne einschrieb.”44 Paracelsus’ Deutung der Mahrtenehe als christliches Ehebündnis, durch welches ein Elementargeist eine echte Seele empfängt, war für die Rezeption des Melusinen- vor allem für die des Undinenstoffes maßgebend.

Doch Fouqué war auch, im Zusammenhang mit seinen Mittelalterstudien, auf die Versnovelle Der Ritter von Staufenberg,45 die ein Angehöriger dieses Geschlechts, Egenolf von Staufenberg um 1310 verfasst hatte, gestoßen. Ein grundlegender Unterschied dieser Novelle zu Melusine besteht darin, dass das Motiv der Mahrtenehe fehlt, da das überirdische Wesen als heidnisches Naturwesen an der Ehe als göttlicher und menschlicher Rechtsordnung keinen Anteil ← 22 | 23 → hat und nur nach Buhlschaft sucht. Die Ehelosigkeit des Ritters ist die Bedingung, dass die Geliebte ihm ein unendliches Leben bis zum jüngsten Tag ermöglicht; die Geliebte wird vom Hof als Teufelei dämonisiert; als sich der Ritter dem Willen des Königs beugt und eine Heirat eingeht und somit den Pakt bricht, erscheint sie bei der Hochzeit und er muss sterben:

Fouqué verortet die Handlung in einer historisch realen Umgebung, insbesondere auf der Burg Ringstetten bei den Donauquellen. Er gibt so seine andere Quelle, Das Donauweibchen von Karl Friedrich Hensler, zu erkennen. Nach Undines Eheschließung mit dem Ritter Huldbrand sind ihre koboldhaften Züge getilgt, sie repräsentiert sanfte Ursprünglichkeit, „nicht ohne biedermeierliche Züge”,47 ist entdämonisiert: „Das verstörende Potential der Mahrtenehe-Geschichte ist domestiziert.”48

Huldbrands Treulosigkeit, seine Heirat mit Berthalda, wird durch Undines todbringenden Kuss bestraft, Huldbrand wird sanft totgeweint. Der Liebestod als Erlösung zum eigentlichen Leben, zur Auflösung des Individuums in der Allheit der unendlichen Liebe ist eine für die Romantik und die Liebesdiskussion des beginnenden 19. Jahrhunderts typische Variante.49 Undine wird überwiegend als bedauernswert, weil von ihrem treulosen Ritter verlassen dargestellt. Sie ist das Naturkind, die femme fragile, zu deren Gegensatz ihre Rivalin Bertalda die femme sociale repäsentiert, die prestige-betonte Liebeskonzeption des Ancien régime.50

Fortan muss die Wasserfrauen-Motivik differenziert werden: Melusine hat – im Gegensatz zu Undine – einen Eigen-Namen, einen Eigen-Sinn, auch eine ← 23 | 24 → Seele, sie ist nur unerlöst. Zwar sind beide Mischwesen, doch Melusine löst als schlangen- oder wurmbeschwänzte Wasserfrau, als fliegender Drachen oder Meerfey, im Gegensatz zur Undine-Figur Unbehagen aus. Fouqués Konzeption muss deshalb als eigene Traditionslinie angesehen werden.51 Das Geschlechterdenken, die Identifikation von Weiblichkeit und Natur, von Männlichkeit und Kultur, die das ganze 19. Jahrhundert bestimmen sollte, konnte bildlich dargestellt werden durch die Verbindung von Ritter Huldbrand und dem Elementargeist Undine. Es ist kein Zufall, dass die Figur der mächtigen Mutter und Ahnfrau Melusine mit ihrer dämonischen Potenz an Faszination verliert zugunsten der verletzlicheren Undine. Der dämonologische Diskurs von Parcelsus kombiniert zwei Deutungsmuster: die „nympha” und die Hexe. So erscheint Melusine als dämonische Verführerin. „Die Tabuwahrung, z. B. das Samstagstabu ist die melusinische Form für die Integration und gleichzeitige Anerkennung der andersweltlichen Figur”.52

E.T.A. Hoffmanns Vertonung des Librettos, das Fouqué eigens für ihn als romantische Zauberoper geschrieben hatte, gelangte zur Uraufführung anlässlich des Geburtstages des preußischen Königs Friedrich Wilhelm in Berlin 1816, wobei die von Carl Friedrich Schinkel entworfenen Bühnenbilder nicht wenig zum Erfolg der Oper beitrugen. Inhaltlich hat Fouqué bei seiner dramatischen Bearbeitung nichts Wesentliches geändert, bis auf eine stärkere Betonung des Liebestodes, durch welche der Schluss der Oper versöhnlicher wirkt als der Schluss der Erzählung. Es kam zu 14 Vorstellungen in Berlin, das Opernlibretto wurde in alle Weltsprachen übersetzt und diente bis 1966 rund 30 verschiedenen Opern als Vorlage. Seine Undinen-Konzeption wurde zur Folie, auf der Wasserfrauen, Nixen und Nymphen in der Literatur des 19. Jahrhunderts wahrgenommen werden.

Auch Albert Lortzing hat das Libretto vertont, und seine Oper wurde 1845 in Hamburg erfolgreich uraufgeführt, in Wien wurde sie hingegen als zu „teutsch” empfunden. Mit Lortzings Oper ist eine deutliche Trivialisierung des Undinen-Motivs festzustellen. Er nimmt eine Umwertung ins Volkstümliche, Biedermeierliche vor, der Schluss endet mit einem happy end. Die Vereinigung des Paares, die Fouqué im Symbol der Quelle, die den Grabhügel des Ritters umzieht, gestaltet hatte, wird in einem Tableau eindeutig gemacht: im Kristallpalast des Wasserfürsten Kühleborn, in einer Welt ohne Leid, sind Undine und Hugo in „ewigem Frieden” vereint. Hugo stirbt nicht, sondern lebt mit Undine im Wassererreich weiter, was als eindeutiges Indiz für die Trivialisierung und Banalisierung des Mythos zu werten ist. ← 24 | 25 →

Franz Grillparzer: Romantische Zauber-Oper Melusina53

Franz Grillparzer hatte bereits 1817/19 Entwürfe zu seinem Opernlibretto Melusina verfasst, zunächst als Szenarien zu einem Sprechstück. Auf Bitte Beethovens schrieb er das Libretto zum Singspiel Melusina (zwischen dem 15. und dem 23. März) 1823, doch die geplante Komposition kam nicht zustande, sodass der Komponist Conradin Kreutzer die Oper komponierte, die Uraufführung fand am 9. April 1835 mit nur mäßigem Erfolg in Wien statt.

In der Forschung wird heute angenommen, dass Grillparzers stärkste Anregung Henslers Donauweibchen war, viel mehr als Fouqués Undine.54 Doch Titel und Namen der Figuren rechtfertigen auch den Bezug zum frühneuhochdeutschen Prosaroman.

Grillparzer konzentriert sich auf die Geschichte der anderweltlichen Frau Melusina und des Ritters Raimund, auf das Motiv der Marthenehe, nimmt eine Entgenealogisierung vor, indem er die Nebenhandlungen, die aventiure-Fahrten der Söhne und die Vorgeschichte von Persina, Melusines Mutter, und Helmas ausblendet. Eine grundlegende Umkehrung zeigt sich auch darin, dass eine Bedingung der Beziehung ist, dass das Paar in Melusinas Reich, in der Anderswelt, zusammenleben wird. Eine entsprechende Änderung erfährt die Melusinenfigur, die sich nicht wie Thürings Melusine durch die Heirat in die menschliche Welt integrieren will, um ihre unsterbliche Seele vor ewiger Verdammnis zu erretten. Sie sehnt sich nach menschlicher Liebe und Wärme, übertritt deshalb die Gesetze ihrer Anderswelt. Sie erscheint eher als sinnliche Verführerin, nach dem Modell der Najaden der antiken Mythologie und lockt Raimund in ihr Zauberreich. Ahnung und Traum führen ihn zur Begegnung mit Melusina, wobei das Motiv des Zauberrings – wie bereits erwähnt – ein Requisit des Wiener Volksmärchens als materieller Beweis dient. Melusina verspricht Raimund keinen Reichtum oder soziales Prestige, sondern die Erkenntnis, das Erfahren des großen Zusammenhangs aller Dinge: „Mit der Kontrastierung von Menschenwelt und Geisterreich bemüht Grillparzer utopische Modelle der Romantik, die eine ersehnte, metaphysische Welt und eine als ungenügend empfundene Alltagsrealität einander gegenüberstellen.”55 Das Reich der Geister der „Wesen höherer Art” ist das Reich der Träume, das Reich der Anschauung des Schönen, ein säkularisiertes christliches Paradies. Es ist die romantische Welt der Allverbundenheit in der Ur-Poesie, doch unter Reduzierung der dämonischen Komponente. Raimund findet jedoch nicht die erhoffte ← 25 | 26 → sinnlich-totalitäre Welterfahrung im Melusinenreich, seine Langeweile lässt sein Bedürfnis nach Tätigkeit in ihm aufkommen. Sein Diener Troll erinnert ihn an sein Rittertum und dämonisiert Melusina, die am Sabbat in ihrer Gruft verweilt. Melusina erleidet das Bad und ihre Verwandlung, bei der Arme und Brust sich mit glänzenden Schuppen bedecken, als schrecklich. Wie in Thürings Melusine begeht Raimund einen doppelten Tabubruch, das Seh- und das Redeverbot: er beschimpft Melusina in der Öffentlichkeit als „Ungeheuer”. Doch Grillparzer gibt seiner Melusina eine andere Wendung: er schreibt sie im Sinne des Panzerschen Erzählschemas der gestörten Mahrtenehe fort, womit eine starke Psychologisierung verbunden ist. Raimund versucht, sich von Undine zu lösen durch das Wegwerfen des Ringes, doch er bereut es sofort und will den Ring unter Einsatz seines Lebens zurückholen. Die leidenschaftliche Liebe Raimunds zu Melusine lässt ihn die dritte Probe bestehen, nämlich den Sprung ins Flammengrab. Raimunds Liebestod und Rettung sind relevant für die romantische Auffassung von Liebe und Passion. Im Schlusstableau erscheint Melusina als gekrönte Königin, zu der Raimund aufsteigt:

Eine Interferenz zu Faust besteht, denn „das Ewig-Weibliche zieht uns hinan”, doch im absolut romantischen Sinne: der Mensch soll von der Trivialität seines Daseins erlöst werden durch die höheren Mächte, in denen Natur und Poesie eins sind. Es geht nicht, wie bei Ringoltingen, um die Integration eines andersweltlichen Wesens in die als Norm gesetzte Menschenwelt, um seine Erlösung, sondern die Konstellation ist umgekehrt: Melusina kommt nicht mehr zum sterblichen Mann; er muss zu ihr gehen, sich mit ihr in ihrem Reich zu ewigem Glück verbinden, muss sein Leben aufgeben. Nicht sie gewinnt Sterblichkeit als Zeichen der Erlösung – er gewinnt Unsterblichkeit.

Die antithetische Struktur des Librettos stellt der von Zweckrationalität und Tätigkeitsprinzip bestimmten Menschenwelt die Traumwelt Melusinas ← 26 | 27 → entgegen, eine Sphäre der Ruhe und Muße, in welcher das Prinzip der Passivität gilt. Die Differenzierung in Menschen- und melusinische Anderwelt wird überlagert von der geschlechterspezifischen Polarisierung, männliche Tätigkeitswelt versus biedermeierliche weibliche Welt der Ruhe. Diese Form der Tradierung gibt Aufschluss über das soziale Imaginäre, insofern die Melusinenwelt als ein verfremdetes Abbild biedermeierlicher Lebensverhältnisse gelesen werden kann. Die Dichotomisierung soll „das geschlechterpolarisierende Denken des Bürgertums der Grillparzer-Zeit sichtbar machen.”57 Die binäre Opposition sei auch für Grillparzers kunsttheoretisches Denken, die Trennung von Wissenschaft und Kunst, von Philosophie und Poesie relevant.58

Die Integration von Raimund in Melusinas Traumwelt hat Felix Mendelssohn Bartholdy musikalisch gestaltet. Enttäuscht von Kreutzers Musik, hat er eine eigene Komposition des Melusinen-Mythos geschaffen in seiner Konzertouvertüre Das Märchen von der schönen Melusina op. 32, uraufgeführt 1834. Das Melusinenthema wird zu Beginn vorgestellt, Raimund rhythmisch durch eine stolze ‘ritterliche’ Thematik gekennzeichnet, eine eingängige As-Dur-Melodie könnte als Liebesthema bezeichnet werden. Das Melusinenthema bezwingt die ritterliche Melodie mehr und mehr und behält auch das letzte Wort: die Vereinigung in Melusinas Reich.

Die neue Melusine59 von Johann Wolfgang von Goethe (1821/29)

Goethe kannte den Melusinenstoff von seiner „Volksbuch-Lektüre”. Dem 10. Buch des Zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit ist zu entnehmen, dass er sein Märchen Die neue Melusine bereits 1770 mündlich bei den Brions in Sesenheim vorgetragen hat.60 In seiner Rezension von Zachariäs Melusine forderte er den „Bänkelsängerblick” für die Behandlung des Stoffes; 1797 erwähnt er in einem Brief an Schiller, das Märchen lache ihn „manchmal auch wieder an, er wolle es aber noch recht reif werden lassen.” Erst 1817 und 1819← 27 | 28 → veröffentlichte er Die neue Melusine in zwei Teilen im Taschenbuch für Damen, dann 1821 in der ersten Fassung der Wanderjahre (Kap. 15), schließlich in der zweiten Fassung von 1829 (Kap. 6).

In Goethes Tagebuchaufzeichnungen wird auch der Titel Der neue Raymond erwähnt, was insofern gerechtfertigt wäre, als der Ich-Erzähler, ein junger Galan, aus seiner Perspektive berichtet. Die Illusion der Mündlichkeit wird beibehalten, durch die Erzählrunden, in die das Märchen eingebettet ist. Durch die Titelwahl Die neue Melusine signalisiert Goethe einerseits den intertextuellen Bezug zur Melusine aus Thürings „Volksbuch”, anderseits die bewusste, absichtliche Abweichung von der Vorlage. Die Figurengestaltung ist neu, denn Goethes Melusine stellt eine kuriose Variante des Melusinentypus dar, sie ist eine Zwergin aus dem ältesten Zwergengeschlecht des Königs Eckwald. Goethe nennt sie das „undenische Pygmeenweibchen” (An Schiller 12.8.1797), „er vertauscht die stark unirdisch konnotierte aquatische Sphäre gegen die terrestrische”.61 Auf ihr lastet kein Fluch wie auf der Ahnherrin der Lusignans, vielmehr zwingt sie eine genetische Notwendigkeit, sich einen Ritter zum Ehemann zu wählen. Denn das Blut des sich sonst ständig verkleinernden Geschlechts muss durch die Heirat mit einem Ritter immer wieder neu regeneriert werden. Diese Variante ist typisch für Goethe, der ja auch im Bereich der Naturwissenschaften und Anatomie wichtige Erkenntnisse publiziert hatte. Mit Rückgriff auf die Genesis erzählt die Zwergin, dass Gott ihr Flehen erhört und Ritter zu ihrem Schutz vor der steten Bedrohung durch Drachen und Riesen erschaffen hat. Das eingeführte Märchenmotiv des Zauberrings ermöglicht ihre Metamorphose in eine große, ansehnliche Gestalt. Erscheint ihre Figur mit der Genesis-Variante und deren Vereinnahmung durch ihre patrilineare Genealogie noch humoristisch, so gilt die Satire dem Jüngling Rotmantel, einem verschwenderischen Galan, der hauptsächlich an Melusines Geld interessiert ist. Als Linkshänder in seinem Leben habe er doch „nie etwas rechts” gemacht.62 Durch ihre Gegenwart verhilft Melusine ihm zu Glück und Reichtum. Er muss verschiedene Prüfungen bestehen: ein Kästchen behutsam auf allen Reisen mitnehmen, sozusagen Melusines Miniaturschloss, in welches sie sich periodisch zurückzieht. Doch er verspielt die Gabe durch die Transgression des Seh-Verbots. Bei der Entdeckung eines Risses im Kästchen sieht er Melusines zweite Natur als Zwergin und er „erkennt in dem Frauenzimmer seine schwangere und lesende Frau”.63 Die subtile Wortwahl überspielt das „Unschickliche” der Erzählung, den impliziten vorehelichen Verkehr; das Bild kombiniert Kind und Buch, zeigt Melusine als eine werdende Mutter und als Rezipientin, als ← 28 | 29 → eine kultivierte Frau, folglich als Natur- und Kulturwesen. Auch der zweite Tabu-Bruch, die öffentliche Schmähung als „Zwerg”64, gerade im Moment, als Melusine Laute spielt und dazu singt, führt nicht zur endgültigen Trennung; die Beleidigung ist ein Motiv, das zwar bereits bei Ringoltingen, vor allem aber bei Fouqué auszumachen ist. Peter von Matt spricht diesbezüglich von einem Fouqué-Reflex.65 Goethe schreibt die Geschichte weiter, sozusagen konterkarierend zu den Romantikern: Denn unter der Bedingung, dass der junge Mann sich mit Hilfe des Zauberringes dem Zwergenreich anverwandelt, also Zwergengestalt annimmt und Melusine ehelicht, bleibt seine Transgression folgenlos. Humoristisch wirkt das strenge Zeremoniell, mit dem die Mahrtenehe im königlichen Zwergenreich vollzogen wird, nachdem Rotmantel seine Aversion gegen Heirat und Musik vorerst überwunden hat: „Wie schrecklich ward mir auf einmal zu Mute, als ich von Heirat reden hörte: denn ich fürchtete mich bisher davor fast mehr als vor der Musik selbst, die mir doch sonst das Verhaßteste auf Erden schien.”66 Diese Analogisierung von Ehe und Musik soll die Ausgrenzung der weiblichen Stimme und die Begründung des männlichen Textes ermöglichen.67 Trotz aller Köstlichkeiten treibt den jungen Ehemann nur ein Verlangen, sich aus dem Zwergenreich zu befreien, um wieder seine ursprüngliche Gestalt zu erlangen und in seine Welt zurückzukehren. Die Ironie gilt Rotmantel und seinem Bewusstwerdungsprozess, denn erst zum Zwerg verkleinert, beginnt er über sich zu reflektieren: „Nun begriff ich zum erstenmal, was die Philosophen unter ihren Idealen verstehen möchten, wodurch die Menschen so gequält sein möchten. Ich hatte ein Ideal von mir selbst und erschien mir manchmal im Traum wie ein Riese.”68

Das Kästchen wird im Verlauf der Handlung zur Schatulle, also zu einem Geld- und Schmuckkästchen und zeugt von der suspekten Allianz von Geld und Liebe, wobei eine gesellschaftskritisch intendierte Satire in der Gleichsetzung von Glück und Geld zum Ausdruck kommt. Manche Kritiker sehen Die neue Melusine als symbolische Einkleidung der Motive, die Goethe nach seiner Auffassung zum Bruch mit Friederike Brion bewogen hätten.69 Doch das späte Datum der Publikation lässt den Text vielmehr als eine Replik auf die Modelle der Romantiker erscheinen, er kann kontrapunktisch als ironische ← 29 | 30 → Brechung der romantischen Vorstellung von passionierter Liebe und Liebestod gelesen werden, als Entmythisierung.

Theodor Fontane: Das Melusinische

Die buchstäbliche Nixen- und Nymphenmanie des 19. Jahrhunderts zeigt sich daran, welche große Bedeutung dem Wasserfrauenmotiv in der Dichtung des Bürgerlichen Realismus zukommt, meistens als Projektionsfläche männlicher Weiblichkeitsphantasie. So verkörpert Melusine die verlorengegangene Einheit von nymphenhafter Geliebter und bürgerlicher Ehefrau, sei es bei Paul Heyse,70 Wilhelm Raabe71 oder Theodor Fontane.72 Er teilt die Wasserfrauenbegeisterung seiner Epoche, wobei er jedoch nicht die vormoderne Wahrnehmungstradition ignoriert. Es ist relevant für die nachromantische Zeit, dass die anderweltliche Frau „ins Menschliche transportiert” wird. „Die Wasserfrauen der Tradition fungieren „nur noch als Folie”, auf der Frauen in den literarischen Texten eingeführt werden, um „ihr Anderssein gegenüber der Gesellschaft und ihren Normen, insbesondere gegenüber dem herrschenden Frauenbild, zu markieren.”73 Auch in seiner privaten Korrespondenz bezog sich Fontane immer wieder auf die Melusinengeschichte, vielleicht wegen der gemeinsamen Herkunft aus dem südlichen Frankreich. Er nimmt eine Umkehrung der tatsächlichen Relation zwischen Melusine und dem Haus Lusignan vor, sieht in ihr nicht die Stamm-Mutter dieses Adelsgeschlechts, sondern lässt umgekehrt Melusine von den Lusignans abstammen. In Frau Jenny Treibel macht der Kommerzienrat seine Frau über den Vergleich mit den Lusignans auf die Lächerlichkeit ihres Familienstolzes aufmerksam: „Wir sind weder die Montmorencys noch die Lusignans – von denen nebenher bemerkt, die schöne Melusine herstammen soll, was dich vielleicht interessiert –, wir sind auch nicht die Bismarcks …”74 Ringoltingens ‘Volksbuch’ fungiert als Prätext, insofern das Motiv der gestörten Mahrtenehe einige Erzählungen bestimmt, so die 1881 verfasste Ellernklipp. ← 30 | 31 →

Als Relikte eines Projekts zu einem großen Melusinenroman gibt es drei Fragmente, auf die im Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden kann: Melusine. An der Kieler Bucht (1878), Oceane von Parceval (1882)75 und Melusine von Cadoudal (1895). Der Altersroman Der Stechlin (1898),76 in dem die Melusinenfigur den Namen der mittelalterlichen Fee trägt, Melusine von Barby, kann als Umsetzung der Melusinenthematik gelten. Der Melusinenstoff war Fontane wahrscheinlich aus einer der ‘Volksbuch’-Editionen des 19. Jahrhunderts bekannt und von anderen Bearbeitungen wie die von Goethe und Tieck, mit Sicherheit die von Fouqué. Fouqués Traditionslinie der Undine wird maßgeblich sein. Die Forschung, insbesondere die Mythokritik, hat das ‘Melusinische’ seiner Frauenfiguren als mythisches Element in seinem Erzählwerk entdeckt, das sich nicht mit den der Melusine im Prosaroman zugeschriebenen Attributen deckt, das sich vielmehr als eine ganz spezifische, physisch-psychische Disposition beschreiben lässt. In der jahrhundertelangen Erzähltradition der literarischen Melusine-Figur habe Fontane durch seine melusinischen Frauenfiguren den Melusine-Mythos aktualisiert.77 So kann auch Effi Briest als ‚melusinisches Naturkind’ rezipiert werden;78 die Fontanesche Melusine erscheint als ein genuiner Typus von Weiblichkeit,79 ein Mythologem (Ohl).80 Das Melusinische wird als Verkörperung des Elementaren, aber auch Inkarnation einer höchst modernen Variante von Individualität gesehen, assoziert mit dem Motiv der Fremdheit.81 Die Charaktermerkmale der Wasserfrau bestehen in der Unfähigkeit, Gefühle zu entwickeln, aber trotzdem auf der ← 31 | 32 → Suche nach Wärme und Menschlichkeit zu sein.82 Fontane äußerte sich dazu: „Die Nixe bleibt uns gleichgültig, von dem Augenblick an aber wo die Durchschnitts-Nixe zur Exzeptionellen Melusine wird, wo sie sich einreihen möchte in’s Schön-Menschliche und doch nicht kann, von diesem Augenblick an rührt sie uns. Oceane von Perceval ist eine solche moderne Melusine.”83

Jakob Wassermann: Melusine. Ein Liebesroman84

1896 erschien in München Jakob Wassermanns erster Roman Melusine mit dem Untertitel „Ein Liebesroman”. Nur wenige Spuren des frühneuhochdeutschen Romans sind auszumachen, außer dem Namen Melusine, den die Protagonistin Mely Mirbeth von ihrem Geliebten, einem Medizinstudenten, erhält. Ihr sphinxhaftes Wesen und Zweifel an ihrer Unschuld quälen ihn. Melusines Zwitterwesen artikuliert sich rein psychologisch:

Aber in ihm erwachte das dunkle und drückende Bewußtsein, daß in diesem Weib noch ein ganz andres Wesen stecke, als jenes, das sich ihm jetzt hingab mit aller Macht. Dies eine, gegenwärtige, war ein mädchenhaftes, liebevolles Geschöpf, rein und gut und frevellos. Aber das andere war ein gefährliches, wetterwendisches und unberechenbares Wesen, sphinxhaft und unfaßbar.85

Es besteht eine Art Seh-Tabu, da er ihr nicht in die Villa ihres Oheims, von dem sie finanzielle abhängig ist, nachspüren darf und leidet, da sie ihm stets die letzte Hingabe verweigert: „Aber sie ist ein Rätsel, ein Geheimnis. Nicht umsonst heißt sie Melusine.”86 Als er die grausame Wahrheit durch den Fund eines Brieffetzens des Oheims an Mely erfährt,87 sieht er die Bestätigung dafür in ihrer Melusinenart: „Melusine! – Sie hat diese an Güte so unerschöpflichen Augen, und sie hat mich betrogen. Sie hat diese Augen, strahlend in rührender Kindlichkeit, und sie lügt.”88 Trotz reicher Erbschaft, die er in zwei Jahren verprasst, und Heirat mit der Tochter eines jüdischen Bankiers bleibt eine ← 32 | 33 → „Wunde” in ihm: „Langsam erlosch mit den Jahren die Liebe. Und sie wohnte noch in seinem Herzen, als er selten mehr ihrer gedachte. So frißt sich die Flamme noch im Innern eines abgebrannten Gebäudes fort, wenn die Mauern auch schon längst erkaltet sind.”89 Wassermann wandelt das Melusinenmodell psychoanalytisch ab, er sollte später in der Freud-Rezeption ja eine wesentliche Rolle spielen. Um die seelischen Qualen von passionierter Liebe und Eifersucht zu zeigen, bemüht er die Ambivalenz des Melusinischen: Faszination und Destruktion.

Jean Hyppolyte Giraudoux: Ondine (1938)90

Folgender Exkurs in die französische Melusinen-Tradierung ist gerechtfertigt, insofern als Jean Giraudoux’ Ondine explizit an die Traditionslinie von Fouqué anknüpft, worauf der Untertitel hinweist: „Stück in drei Akten nach der Erzählung von Friedrich de la Motte Fouqué”.91 Giraudoux erwähnt im Vorwort die erste französische Undine-Übersetzung von Isabelle de Montolieu aus dem Jahre 1818, ebenso die 1939 erschienene Neu-Übersetzung von Charles de Polignac und widmet das Stück Charles Andler, seinem Germanistikprofessor „mit französisch-deutscher Seele” an der Sorbonne, dessen Bitte, einen Kommentar über Fouqués Undine zu schreiben, er nach dreißig Jahren endlich nachkommen kann.92 Er soll 1909 als Germanistikstudent in einem Essay über Fouqués Undine Kritik geübt haben an „der bewundernden Anhänglichkeit der Frau an ihren Herrn, die sich durch eine grenzenlose Hingebung kundgibt.”93 1939 schrieb er sein eigenes Drama Ondine mit engster Anlehnung an die Fouquésche Vorlage doch mit dem grundlegenden Unterschied: Undine hat keine Seele und erstrebt auch keine. Sie strebt nach Identitätsgewinn durch völlige Liebeseinheit mit dem Ritter Hans von Wittenstein zu Wittenstein, vor dessen Untreue und Falschheit die Bewohner des Wasserreichs sie gewarnt haben. Ihrem Absolutheitsanspruch und ihrer Vorstellung einer symbiotischen Liebe ← 33 | 34 → kann er nicht gerecht werden, seiner Treulosigkeit wegen muss er dem Gesetz der Wasserwelt gemäß sterben. Hans klagt Ondine nicht wegen ihrer Nixenhaftigkeit an, sondern wegen ihrer übermäßigen Liebe. Ondine verliert ihre Identität, die allein in ihrer Liebe zu Hans begründet war. „Sie wird wieder zum geschichts- und erinnerungslosen Elementarwesen”,94 wird alles vergessen, was sie in der Menschenwelt erlebt hat. Der Treuebruch von Hans führt zu einem unversöhnlicheren Schluss als bei Fouqué, denn die romantischen Motive ‘Vereinigung im Liebestod’ greifen nicht mehr; aus der Sicht des 20. Jahrhunderts ist die Welt für das Vollkommene nicht geschaffen. Nicht mehr Undine will erlöst werden, sondern die Menschen und ihre Welt sind seelenlos und erlösungsbedürftig. Diese Umkehrung bewirkt eine Neu-Funktionalisierung der Marthenehe, die nun sozialkritisch dekliniert, den utilitaristischen Zeitgeist und die Seelenlosigkeit der Gesellschaft bloßlegt.

An dieser Stelle möchte ich kurz den intertextuellen Bezug zu dem 2007 erschienenen Roman Begegnung mit Melusine zeigen, den wir als letzten Text unseres Melusine-Corpus festhalten werden. In diesem Roman macht ein Studienfreund des Protagonisten auf die nicht geringe Anzahl deutscher Orts- oder Eigennamen in Giraudoux’ Ondine aufmerksam: „Rhein, Schwaben, Kreuznach, Grete, Hans, Wolfram von Eschenbach” und vertritt die kühne, doch haltbare These: „[…] in den allegorischen Figuren Ondine und Hans habe Giraudoux auch die unglückliche Liebe zwischen Frankreich und Deutschland darstellen wollen. Giraudoux habe in Berlin und München studiert und sei als französischer Botschafter in Berlin tätig gewesen. Das Theaterstück Ondine sei 1938/39 kurz vor Beginn des zweiten Weltkrieges geschrieben worden in der Vorahnung, dass die Beziehungen der beiden Nationen wieder in einer Katastrophe enden würden.”95 Giraudoux hat seine Ondine aus dem deutsch-französischen Geist konzipiert, ihr eine politische, transnationale Dimension verliehen, die für die damaligen Verhältnisse absolut unzeitgemäß war und deshalb umso mehr Bewunderung verdient.

Ingeborg Bachmann: Undine geht (1959)96

Giraudoux’ Ondine diente Ingeborg Bachmann als Referenztext für ihre Erzählung Undine geht. Übereinstimmungen gibt es bei den Namen, der Mann ← 34 | 35 → heißt ebenfalls Hans,97 wie übrigens auch der Protagonist in Jean Yvan Golls 1922 erschienenem Drama Melusine. Bachmann fokussiert auf die Abschiedsund Abrechnungsszene, die zur Schmäh- und Lobrede wird. Gattungsspezifisch entzieht sich die Erzählung jeder Zuordnung, da „der Text eine Erzählung, die fast ein Gedicht ist, das fast ein Monodrama ist.”98 Es besteht ein Bruch mit der bisherigen Erzähltradition, insofern die Ich-Erzählerin Undine selbst ist und sich direkt an die Leser wendet: „Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit dem Namen Hans! Mit diesem Namen, den ich nie vergessen kann!” Sie thematisiert die Differenz zweier Welten und das Scheitern ihrer Integrationsversuche. Der ursprüngliche Gegensatz zwischen der Menschenwelt und der Anderwelt wird abgewandelt, im Diskurs der Romantiker als Kontrast von wahrem Leben und Philistertum, bei Bachmann als zwei Welten-Struktur. Die Undine-Welt definiert sich als eine Welt der Freiheit und der Ordnungslosigkeit im Gegensatz zur Welt der Anderen, der Ordnung und der Verträge. Doch die Undine-Liebe bewirkt Desintegration, Loslösung aus der bestehenden Ordnung, aus der einer als Entfremdung verstandenen Vergesellschaftung. Undines Fremdheit in der Ander-Welt wird radikalisiert; sie ist nicht mehr das unschuldige Naturkind, sondern sie durchschaut die Welt, die sie als befremdend wahrnimmt, als eine Grenzgängerin, hin- und hergerissen zwischen den Welten, zwischen dem Wunsch nach Liebe und dem Wunsch, endgültig Abschied zu nehmen. Sie verkörpert in der Tradition „die imaginierte Weiblichkeit”,99 die „andere” Frau, die herbeigewünscht und gleichzeitig gefürchtet wird. Das Zentrum dieser Vorstellungsbereiche ist das „Wunschund Schreckbild einer elementaren Weiblichkeit oder, anders formuliert, der Mythos vom Naturwesen Frau”,100 wie er Melusine charakterisiert als der Reiz der Gestalt gewordenen Natur.

Das Moderne der enigmatischen Undine-Figur Bachmanns liegt darin, dass sie auf die Produktion dieses Distanzierungsschemas hinweist. Aquatische Metaphorik und die sirenenhaften Rufe sind konstitutiv für die Ästhetik ihres Diskurses, der sich durch „logische Brüche, Satzfragmente, Antithetik, Ambivalenz, Bildsprache, innovative stilistische und lexikale Kombinationen, eine Fülle lyrischer Elemente auszeichnet. […] Die Sprache Undines bricht ← 35 | 36 → immer wieder ab und setzt neu ein. Undine ist auf der Suche nach einer Sprache.”101 Die dadurch entstehende Bewegung kann als ein „Bild bewegten Wassers”102 gesehen werden, adäquat zu Undines aquatischem Wesen. Der am Ende des Textes wiederholte Lockruf: „Komm. Nur einmal. Komm” bildet eine zirkuläre und scheinbar endlose, also iterativ-durative Struktur. Bachmanns Undine kann nicht nur als Variante, sondern als Kontrafaktur zu anderen Undine-Dichtungen gesehen werden. Die Undine-Liebe ist nicht mehr einmalig, wie bei den Romantikern, sondern wiederholbar; die Kategorien der Diskontinuität und Wiederholbarkeit signalisieren Modernität; nicht die Dauer, die temporale Qualität, sondern „ihre qualitative Dimension macht die Undine-Liebe groß, gibt ihr eine sakrale Nähe, die sich im Hymnenton der Erzählung manifestiert.”103 Angeregt durch die Freundschaft mit Ingeborg Bachmann schrieb Hans Werner Henze 1957 eine Ballettmusik zu Undine.104 Eine allegorische Deutung scheint möglich zu sein, nach den Worten Ingeborg Bachmanns in einem Interview am 5. November 1964: „Die Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern um es mit Büchner zu sagen, ‘die Kunst, ach die Kunst.”105 Der Undine-Text kann auch als eine Chiffre der Bachmannschen Poetologie gelesen werden. Undines „Schmerzton” entspringt dem Leiden an dem vergeblichen Streben nach Einheit in der Liebe wie in der Kunst.

Hannes Anderer: Unterwegs zu Melusine (2006) und Begegnung mit Melusine (2007)106

Im postmodernen Gewand erscheint Melusine in zwei Werken des in Ostbelgien geborenen, später deutschen und deutsch schreibenden Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Jean/Johann Firges, der unter dem Pseudonym Hannes Anderer den Adoleszenz-Doppelroman, die Dilogie Unterwegs zu Melusine im Jahre 2006 und Begegnung mit Melusine 2007 veröffentlicht hat. Im ersten Roman erfolgt die Rezeption der Melusinen-Sage über Fontanes Altersroman Der Stechlin, die Aura der Frauengestalt Melusine von Barby fasziniert ← 36 | 37 → den Protagonisten und weckt die Erwartung einer Begegnung mit ihr.107 Auffallend an der Verarbeitung des Melusinenstoffes im zweiten Roman ist, dass Anderer einen expliziten Bezug zur poitevinischen Melusine108 des Jean d’Arras herstellt, sie als Folie für seinen Roman wählt. Er übergeht Thürings Adaptation und auch dessen Quelle, die Mélusine109 von Coudrette. Jedoch kann man davon ausgehen, dass sie ihm nicht unbekannt waren, mit dem direkten Rückgriff auf die französische Vorlage zeigt er seine interkulturelle Intention. Er transponiert die Melusinengeschichte nach Belgien, nach Verviers, und erzählt sie neu. Der junge Germanistikstudent Hannes – man beachte die autobiographische Konnotation und Anknüpfung an Giraudoux – begegnet Héloïse. Sie ist eine Art Wiedergängerin Melusines, in Poitiers geboren und stammt aus einem kultivierten adligen Milieu, aus hohem aquitanischen Geschlecht. Wie Melusine hat sie eine zweite Identität, nicht als Meerfeye, sondern als Klosterschwester Agatha. Sie nennt den um zehn Jahre jüngeren Studenten Abélard, wie ihren verstorbenen Bruder. Ihre Vorliebe für das Wasser,110 die luxuriöse, mit aquatischen Elementen ausgestattete Villa – der von Héloïse angelegte Brunnen und das unterirdische Schwimmbad111 – betonen ihren Melusine-Charakter. An den Wänden hängen Abbildungen romanischer Kirchen des Poitou, deren Kirchenportale Tympana mit der Figur der Melusine tragen.

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Abb. 3: Beispiel für ein romanisches Tympanon mit Melusinen

Details

Seiten
624
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783034324779
ISBN (ePUB)
9783034324786
ISBN (MOBI)
9783034324793
ISBN (Paperback)
9783034321969
DOI
10.3726/978-3-0343-2477-9
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (April)
Schlagworte
Literatur Frühe Neuzeit deutsche Literatur 19. Jahrhundert deutsche Literatur 20. Jahrhundert Rezeption
Erschienen
Bern, Berlin, Bruxelles, Frankfurt am Main, New York, Oxford, Wien, 2016. 624 S.

Biographische Angaben

Laura Auteri (Band-Herausgeber:in) Alfred Noe (Band-Herausgeber:in) Hans-Gert Roloff (Band-Herausgeber:in)

Laura Auteri (*1953) lehrt Germanistik an der Universität Palermo und ist Präsidentin der IVG. Alfred Noe (*1953) unterrichtet Romanische Literaturwissenschaft und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien. Hans-Gert Roloff (*1932) leitete die Forschungsstelle für Mittlere deutsche Literatur an der FU Berlin.

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Titel: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750) IV
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