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Die kranke Republik

Körper- und Krankheitsmetaphern in politischen Diskursen der Weimarer Republik

von Knut Langewand (Autor:in)
©2016 Dissertation 322 Seiten

Zusammenfassung

Wie eine Demokratie krank gemacht wird, indem sie als siech, Geschwür oder Virus bezeichnet wird, kann man am Beispiel der Weimarer Republik ablesen.
Dieses Buch nähert sich der Verbindung von Krankheit und Krise aus der Perspektive demokratischer Spitzenpolitiker Weimars, die zermürbt von republikfeindlichen Anfeindungen krankheitsbedingt ihr Amt aufgaben.
Metaphern wie die des „kranken Volkskörpers" fanden Verbreitung in zeitgenössischen Debatten über Politik – bei Journalisten und Wirtschaftswissenschaftlern ebenso wie in Medizin, Psychologie oder Biologie. Dem Eindruck einer andauernden Krise der Demokratie wurde so Vorschub geleistet.
Es zeigt sich, dass Krankheitsmetaphern wegen ihres gegen Moderne und Aufklärung gerichteten Bedeutungskerns und ihres Beitrags zu einer Verengung realer Handlungsoptionen für ein Gemeinwesen problematisch, ja gefährlich sind.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhaltsverzeichnis
  • Vorwort
  • Abstract
  • 1. Einleitung
  • 1.1 Aufbau der Arbeit
  • 2. Hinführung
  • 2.1 Stand der Weimar-Forschung
  • 2.2 Krise
  • 2.2.1 Weimars „Krise“
  • 2.2.2 Elemente einer Krisendefinition
  • 2.2.3 Der Krankheitsaspekt der Krise
  • 2.3 Metapher
  • 2.3.1 Metapher: Begriffsklärung und linguistische Genealogie
  • 2.3.2 Politische Metaphern und Organizismus
  • 2.4 Zur Begriffs- und Ideengeschichte
  • 2.5 Diskurs- und Körpergeschichte
  • 2.5.1 Körper
  • 2.5.2 Von der Krankheitsmetapher zur Krankheitserzählung
  • 2.5.3 Biopolitik
  • 2.6 Fragestellungen
  • 3. Metaphorik gegen die Republik
  • 3.1 Zu Aufbau und Quellenauswahl
  • 3.2 Ausgangspunkte
  • 3.2.1 Selbstbeschreibung als Grundkonstante
  • 3.2.2 Das Phänomen des „Volkskörpers“
  • 3.2.3 Von der Körper- zur Krankheitsmetapher
  • 3.3 Naturwissenschaften und Medizin
  • 3.3.1 Medizin und „Leibesübungen“
  • 3.3.2 Eugenik, „Rassenhygiene“ und Sozialhygiene
  • 3.3.3 Psychologie
  • 3.3.4 Biologie
  • 3.3.5 Zusammenfassung
  • 3.4 Krankheitsmetaphern im politischen Denken
  • 3.4.1 Autoren aus dem Umfeld der Konservativen Revolution
  • 3.4.2 Rechts- und jungkonservativer Journalismus
  • 3.4.3 Kleinere Beiträge
  • 3.4.4 „Starrkrampf des Wirtschaftslebens“ – die Ökonomen
  • 3.4.5 Die Ausnahme: Krankheitsmetaphern in der republikanischen Presse
  • 3.5 Die Sprache der politischen Akteure
  • 3.5.1 Republikanische Krankheitsmetaphern?
  • 3.5.2 Linke Krankheitsmetaphern
  • 3.5.3 Die metaphorische Sprache der Nationalsozialisten
  • 3.6 Zusammenfassung
  • 4. Die kranken Männer Weimars
  • 4.1 Einleitung: Krankheit als Metapher
  • 4.2 Quellenbasis
  • 4.3 Diagnose Demokratie – von Kollateralschäden, Märtyrern und Überlebenden der Republik
  • 4.4 „In den Sielen sterben“ – der Fall Gustav Stresemann
  • 4.4.1 Annäherung an den Menschen Stresemann
  • 4.4.2 Stresemanns Krankengeschichte 1918–1928
  • 4.4.3 Die letzten anderthalb Jahre
  • 4.4.4 Fazit: Patriae inserviendo consumor
  • 4.5 „Miasmen der Schmähung“ – der Fall Friedrich Ebert
  • 4.6 Flucht in die Krankheit – der Fall Otto Braun
  • 4.6.1 (Kein) Epilog
  • 4.6.2 Flucht-Punkte
  • 4.6.3 Fazit
  • 4.7 „Im Reiche schlafften die Zügel“ – der Fall Hermann Müller
  • 4.8 „Politik erfordert ein sensitives Nervensystem“ – der Fall Heinrich Brüning
  • 4.8.1 „Zerstörerin des Lebensglücks derjenigen, die sie üben“ – Brünings Veranlagung und Politikauffassung
  • 4.8.2 „Ausgerechnet an diesem Tage“ – von Furunkeln und Zahnschmerzen
  • 4.8.3 Fazit
  • 4.9 Andere Fälle
  • 4.9.1 Kein Fall: Hindenburg
  • 4.9.2 Exkurs: Die kranken Männer Großbritanniens
  • 4.10 Zwischenfazit
  • 5. Schlussbetrachtung
  • 5.1 Nachsatz: Wohin mit den Krankheitsmetaphern?
  • 6. Quellen- und Literaturverzeichnis
  • 6.1 Ungedruckte Quellen
  • 6.2 Zeitschriften und Periodika
  • 6.3 Gedruckte Quellen
  • 6.4 Literatur
  • 7. Personenverzeichnis

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Vorwort

Dieses Buch hat mit seinem Teilgegenstand gemein, dass es in Zeiten tiefempfundener politisch-sozialer Krisen entstanden ist – von ersten Überlegungen im Jahre 2008, während der beginnenden globalen Finanzkrise, bis hin zur Fertigstellung während der Griechenland-, Flüchtlings- und anderer Krisen. Die diversen Krankheitsmetaphern, die während dieser Zeit in Politik und Presse immer wieder zur Ausschmückung der Krisenszenarien auftauchten, konnten mir gewissermaßen als Vergleichsfolie für das Vorhaben dienen, dem Zusammenhang zwischen Krankheit und Krise in Debatten der Weimarer Zeit nachzuspüren.

Vorliegende Studie ist als Dissertation am Department of German Studies der University of Warwick (Großbritannien) angenommen worden. Der größte Dank gilt daher meinem Doktorvater Jim Jordan, der mir in vorbildlicher Form Freiräume zum Forschen und gelegentlich auch abseitigen Lesen und Denken ließ. In zahlreichen Gesprächen hat er mich durch unermüdliche Motivation und mit viel Verständnis unterstützt. So konnten auch die sporadischen Momente der ”crises of graduate school in which the student regresses to infantile fantasies”1 immer erfolgreich überwunden werden. Auch den anderen Kollegen am Warwick Department of German Studies, Christine Achinger, Seán Allan und Birgit Röder, zudem Christoph Mick vom Department of History, danke ich für fachlichen und persönlichen Zuspruch, Helmut Schmitz insbesondere für die Begutachtung der Arbeit und den Hinweis auf Adorno, Lukács und die „erpreßte Versöhnung“.

Volker Depkat (Regensburg) hat mit methodischen, inhaltlichen und strategischen Ratschlägen weit über seine Rolle als Zweitgutachter hinaus zum Erfolg der Arbeit beigetragen. Ihm, bei dem ich noch im alten Jahrtausend als Greifswalder Erstsemesterstudent die Grundlagen wissenschaftlichen Schreibens erlernte, möchte ich ganz herzlich danken. ← IX | X →

Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald), Moritz Föllmer (Amsterdam) und William Niven (Nottingham) verdanke ich wertvolle Anmerkungen, Ermutigungen und Einsprüche.

Die großzügige Promotionsförderung durch ein Warwick Postgraduate Research Scholarship hat die materielle Grundlage für das Zustandekommen dieser Arbeit gelegt. Dafür danke ich insbesondere Erica Carter (jetzt Kings College London). Die German History Society, die Association for German Studies in Great Britain und der Humanities Research Fund der University of Warwick haben mit Forschungsstipendien die notwendigen und ausgiebigen Archivaufenthalte ermöglicht. Den freundlichen Mitarbeitern am Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (Amsterdam) danke ich ebenso wie der Warwick University Library, die mit einer geradezu ruinösen Menge an Fernleihen die Versorgung mit Quellen und Literatur sicherstellte – nach Auskunft einer Bibliotheksmitarbeiterin betrug mein Anteil zeitweise fast die Hälfte des Fernleihaufkommens der gesamten Faculty of Arts.

Ein besonderer Dank geht an meine Freunde in nah und fern: Niels Hegewisch (Greifswald, jetzt Hamburg), Dominic Holdaway (Warwick, jetzt Bologna), Filippo Trentin (Warwick, jetzt Columbus/Ohio), Brian Haman (Warwick, jetzt Suzhou) für den menschlichen, fachlichen und technologischen Austausch während unserer parallel entstandenen Dissertationen, Dirk Mellies (Hamburg) und Achim Reimers (Nordhorn) für vielfachen Zuspruch und freundschaftliche Verbundenheit.

Für ihre Unterstützung danke ich besonders meiner Mutter Elisabeth Langewand und meinem Bruder Ulrich Langewand; sie haben während meiner Zeit in Großbritannien am Telefon viele Male zu meiner Aufheiterung beigetragen. Dankbar erinnere ich mich meines Großvaters Franz Krohner (1910–1998), der mit lebhaften Erzählungen aus seiner Jugend in der Weimarer Zeit in mir ein frühes Interesse an Geschichte im Allgemeinen und an jener Epoche im Besonderen geweckt hat.

Meine Frau Jeanine hat mit viel Herzenswärme, Klugheit und Geduld die Entstehung der Arbeit von Anfang an begleitet. Für ihren unerschütterlichen Rückhalt kann ich nicht genug Dankesworte finden.

Nordhorn/Marburg, im Juni 2016

Knut Langewand ← X | 1 →


1 Peter Loewenberg: Decoding the Past. The Psychohistorical Approach, London 1996, S. 51.

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Abstract

The Sick Republic. Body and illness metaphors in political discourses of the Weimar Republic

The history of the Weimar Republic has most commonly been written from the vantage point of its ultimate failure. Recent trends in historiography have shown that the first German democracy was by no means doomed from the start. Instead, contemporary sources convey a very varied picture of optimistic and pessimistic diagnoses of the times. At the centre of these diagnoses often stood the idea of “crisis” which contained the notion of an open yet problematic future.

This book aims to investigate the use of sickness metaphors in political and related public discourses. More specifically, it analyses in which contexts these have been used, which semantic forms can be found, to which political points of view they can be attributed, and finally which purpose they served within political and journalistic controversies of the times.

Following the introduction, Part II is a methodological outline concentrating on the main theoretical approaches: discourse analysis, metaphorology, and conceptual history.

Part III contains the main investigation of sickness metaphors under three guiding principles/questions: political self-description, the “identitarian” idea of a body politic and the reciprocity of body and sickness metaphors. The analysis proceeds in a threefold way. Firstly I examine the discourses of eugenics, medicine, biology and psychology to demonstrate how experts from scientific disciplines tried to enter into political debates by using medical metaphors. On the one hand, it reveals the mostly pessimistic diagnosis of their times resulting in the suggestion of organicist and anti-democratic therapies, on the other hand, the optimism of scientists and doctors and their ambitious and at times elitist self-perception as political advisers taking up the task of “curing the social body”. Secondly, Part III looks at the sickness metaphors used in political and journalistic texts, mainly by conservative or nationalist authors (not by choice but because, as I show, sickness metaphors have only been employed by such writers). For that purpose I have surveyed several periodicals from the entire political spectrum of ← XI | XII → the Weimar Republic. Especially young, radically anti-democratic authors employed metaphors of poison, fever, paralysis or sepsis to describe state and society of contemporary Germany, or elements thereof. These authors shared an ideal of the state as an organic entity. Moreover, the dichotomy of the (republican) quack and the (nationalist) “social doctor” was used to discredit Weimar’s parliamentary democracy. Thirdly, the language of political actors has been examined. Similarly, very few democratic politicians used sickness metaphors within their political vocabulary. More prominently, Nazi politicians employed a variety of sickness metaphors within their language. In contrast to older, pre-modern body-metaphorical expressions, they rather used a new imagery even more radical than their conservative-nationalist counterparts.

Part IV discusses the phenomenon of the “sick men of Weimar”. Starting from the observation that quite a few leading democratic politicians either died at a young age or had to leave office on health grounds, it looks into the self-perceptions and characterisations of the various physical illnesses and the mental ill-health of five of these politicians. Firstly, I show, using Susan Sontag’s notion of “illness as a metaphor”, how these ailments influenced republican politics in increasingly critical times, thus adding a new aspect to a conventional biographical view of the mentioned politicians. More importantly, though, it deals with the linguistic or rather metaphorical coming to terms with the material aspect of illness, or, as it were, as discursive manifestations of bodily and medical phenomena as interpretations of and within politics. The five case studies relate to the biographies of long-time foreign minister Gustav Stresemann; the republic’s first president Friedrich Ebert who almost tragically passed away after an appendix operation; Otto Braun, the Prussian minister-president who became increasingly depressed and ill in the face of the Nazis’ rise; Hermann Müller, the last Social Democratic chancellor who assumed office in 1928 despite his weak health and whose repeated absence from the political stage of Berlin has further weakened the stability of the already wavering republic; and finally Heinrich Brüning, the hesitant and depressed chancellor during Weimar’s final crisis.

The link between parts III and IV consists in a shared element of a republic “being made sick”, i.e. on the one hand the defamatory description of the republic by right-wing intellectuals, on the other hand the interpretation of real illnesses (and the fact that democrats, as it were, had been “sickened” ← XII | XIII → by their opponents) as a symptom, i.e. metaphor for the decline and crisis of the overall political conditions.

In the conclusion I relate the different forms of sickness metaphors to the topics of crisis and identity. The thesis demonstrates that employing an organicist and holistic worldview (especially the idea of a body politic) did not only mean reducing complexity but denying the constructive character of its metaphors and of a differentiated modern society altogether. Since the semantic notion of a sick republic had always tended to be anti-democratic, the role of the specifically modern illness metaphors in political discourses of the Weimar Republic played, in my view, a decisive role in narrowing down political options and exacerbating the already difficult situation of the first German democracy. ← XIII | XIV →

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1.  Einleitung

„Wie nun ein kränklicher Körper nur einen kleinen Anstoß von außen bekommen darf um ganz darnieder geworfen zu werden, ja bisweilen auch ohne irgend etwas äußeres sich in sich selbst entzweit: so wird auch ein Staat, der sich in gleicher Verfassung befindet, schon aus einer geringen Veranlassung … erkranken und der innere Streit ausbrechen, bisweilen wird er auch ohne etwas äußeres in Aufruhr gerathen.“2 (Platon, Der Staat)

Seit Ausbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise besinnt sich die Berliner Republik wieder auf ihre krisengeschüttelte Vorläuferin. So sehr Kommentatoren bemüht sind, die Unterschiede zwischen beiden geschichtlichen Konstellationen zu betonen, ist Weimar doch plötzlich wieder aktuell. In einem Interview rief 2012 der griechische Ministerpräsident Samaras das abschreckende Beispiel Weimars in Erinnerung, als er über die aktuellen Probleme seines Landes sprach:

„Wirtschaftlicher Kollaps, soziale Unruhen und eine nie dagewesene Krise der Demokratie. Welche Gesellschaft, welche Demokratie könnte das überleben? Am Ende wäre es wie in der Weimarer Republik.“3

Parallel zu solchen historischen Analogien ist in der deutschen Presse die Rückkehr eines Topos auszumachen, der in den Boomjahren der Dotcom-Ära in Vergessenheit geraten war: das Bild des Staates als „krankem Mann“. Wechselnd werden in der Presse die strukturellen oder durch eigene Versäumnisse herbeigeführten ökonomischen, sozialen und politischen Probleme wahlweise von Griechenland4, Frankreich5 oder ← 1 | 2 → Großbritannien6 mithilfe dieser Metapher auf den (allgemeinverständlichen) kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Selbst vor Staatsgrenzen macht die sie nicht halt: „Der neue kranke Mann in Europa ist die EU selbst.“7 Auch die Ursprungsmetapher vom „kranken Mann am Bosporus“, aus dem 19. Jahrhundert stammend und Zar Nikolaus II. zugeschrieben, hat im Zuge der Istanbuler Demonstrationen 2013 in der Verkörperung des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan eine Wiederkehr erfahren.8 Neben dem „kranken Mann“ sind es Metaphern konkreter Erkrankungen, die etwa in der Griechenland-Krise eine neue Konjunktur erfuhren: Die ewig irrlichternde Erika Steinbach bezeichnete auf Twitter im Juni 2015 Griechenland als das „Krebsgeschwür der EU, wenn es im Euro verbleibt“, dem Autor Claudius Seidl erschien die Entscheidung der Regierung Tsipras zugunsten eines Referendums über die Austeritätsmaßnahmen „gerade so, als ob Griechenland ein Patient wäre, der, nach fünf Jahren einer Therapie, welche ihn immer kränker gemacht hat, beschlossen hätte, lieber an der eigenen Krankheit als an einer tödlichen Medizin sterben zu wollen.“9 Die vermeintlichen Ursachen dieser unterstellten Krankheiten sind so vielfältig wie wirr: Als der polnische Außenminister Waszczykowski Anfang 2016 davon sprach, dass seine Regierung „lediglich unseren Staat von einigen Krankheiten heilen [wolle], damit er wieder genesen kann“, bezog ← 2 | 3 → er sich dabei auf eine „Welt von Vegetariern und Radfahrern“10, der nun der Kampf angesagt werde. Auch in den „Krisen-Staaten“ selbst ist ein öffentlicher Gebrauch diverser Krankheitsmetaphern keine Seltenheit: nachdem Silvio Berlusconi 2011 seine Gegner und die ihm zusetzende Justiz als „Krebsgeschwür der Demokratie“ bezeichnet hatte, warnte die führende Tageszeitung La Repubblica, mit einer derart monströsen, die physische Vernichtung von Menschen implizierenden Sprache sei man bei der „psychologischen Vorbereitung des Bürgerkriegs“ angekommen.11 Es scheint, als ob Deutschland aufgrund seiner unerwarteten sozio-ökonomischen Stabilität von dem Verdikt einer Krankheitsdiagnose momentan verschont bliebe – und nach einer Zeit längerer Erholung nun gesund dastehe; der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder stellte 2012 fest, dass Deutschland „nicht mehr der kranke Mann Europas, sondern heute ‚so etwas wie die starke Frau‘“12 sei. Diese Entwicklung schrieb Schröder freilich nicht zuletzt den unter seiner Regierung vor zehn Jahren erfolgten Reformen zu. Ein kurzer Rückblick auf diese Zeit sei hier erlaubt: Im April 2002 sah der FAZ-Journalist Majid Sattar in Deutschlands Reformunfähigkeit den „bakteriell-virale[n] Hintergrund der German disease“.13 In der ebenfalls 2002 erschienenen Essaysammlung Patient Deutschland war von der sozioökonomisch „überfälligen Aufgabe, den deutschen Patienten von seiner ← 3 | 4 → Therapieresistenz zu kurieren“, die Rede.14 Auch die namhafte Zeitschrift „Internationale Politik“ betitelte 2004 ihr Maiheft mit Patient Deutschland. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter äußerte vorsichtige Vorbehalte gegen das Heftthema und den Auftrag

„in die seit Monaten herumgereichte Krisentrompete zu blasen, abermals über den ‚Patienten Deutschland‘ bittere Tränen zu vergießen, ‚the German Disease‘ zu beklagen, … den Qualitätsverfall der ‚Politischen Klasse‘ zu diagnostizieren.“15

Für Walter lag die Misere in der „Ziellosigkeit deutscher Politik“ – da das Land nicht wisse „wohin es geht und … über Alternativen nicht einmal nachdenkt.“16 Dem Gebrauch von Krankheitsmetaphern zugewandter zeigte sich in derselben Ausgabe der medial so präsente Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn. Unter dem Titel Der kranke Mann Europas17 schwadronierte Sinn, auch sonst abstrusen Vergleichen nicht abgeneigt18, über „Diagnose und Therapie der deutschen Krankheit.“ Bemerkenswert an solcher Polemik ist, dass Sinn nicht nur das neoliberale Hohelied von zu hohen Löhnen und ausufernden Sozialleistungen sang, sondern zu den Ursachen der „deutschen Krankheit“ auch den demographischen Wandel zählt: „Unser Land vergreist.“19 Eine sehr ähnlich gelagerte Einkleidung wirtschaftlicher und sozial-demographischer Aspekte in Krankheitsmetaphern ← 4 | 5 → findet sich bereits in verwandten Diskursen der Weimarer Zeit, bei Ökonomen, Demographen, politischen Schriftstellern oder Journalisten, so etwa bei Friedrich Burgdörfer, dessen 1932 erschienenes Buch zum demographischen Wandel den Untertitel Geburtenschwund und Überalterung des deutschen Volkskörpers trug.20

Die vorstehenden Beispiele sollen die fortwährende Wirkung bzw. Nachwirkung von Krankheitsmetaphern aus öffentlichen Diskursen der Weimarer Zeit illustrieren, die zu dem „Weimar-Komplex“21 der alten Bundesrepublik und, in geringerem Maße, dem Fortwirken nach 1990 beigetragen haben. Mit den Analogien hat es dort aber ein Bewenden, wo die Zäsuren deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – 1933, 1945, 1968 und schließlich 1989/90 – zu völlig veränderten politischen und gesellschaftlichen Konstellationen und schrittweise zu einem grundlegenden Wandel von Mentalitäten und Wertevorstellungen geführt haben. Trotz aller verdienstvollen geschichtspädagogischen Erinnerungen an das warnende Exempel des Scheiterns der ersten deutschen Republik, einzelnen tatsächlich bis heute nachwirkenden historischen Kontinuitätslinien und „ritueller Vergangenheitsbeschwörung“22 anlässlich runder Jahrestage ist „Weimar“ langsam aus der „Zeit der Zeitgeschichte“23 herausgetreten. Gilt daher auch für Weimar mittlerweile, was für frühere Epochen längst gilt: “The past is a foreign country: they do things differently there”?24 Oder besteht eine bleibende Verbindung zur Gegenwart, zwar weniger auf politischem oder rechtsgeschichtlichem, sondern vielmehr kulturellem und mentalitätsgeschichtlichem Gebiet, wie Detlev Peukert vor nunmehr 25 Jahren elegant formulierte: ← 5 | 6 →

„Wir entdecken in den zwanziger Jahren mit den Zügen der klassischen Moderne das Heraufkommen unserer eigenen Lebenswelt. Wir betrachten eine Gesellschaft an der Scheidelinie zwischen gegenwärtig Vertrautem und befremdend Vergangenem – eine Gesellschaft, die unsere Ängste und Hoffnungen teilte und deren eigene Phantasien und Phobien uns doch ein irritierendes Zerrbild unserer Alltagsnormalität entgegenhalten“?25

Es ist die Untersuchungsabsicht dieser Arbeit, zu einer Rekonstruktion dieser „Phantasien und Phobien“, ihrer Genese und ihren Ausdrucksformen am Beispiel der Krankheits-, Heilungs- und Körpermetaphern in politischen Diskursen der „Krisenjahre der klassischen Moderne“ beizutragen.

1.1  Aufbau der Arbeit

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. In einer ausführlichen methodologischen Hinführung wird im zweiten Kapitel eine begriffliche Klärung des Begriffs der Krise vorgenommen, der in verschiedener Hinsicht eine innere Verbindung zu Krankheitsmetaphern hat. Ferner wird der gegenwärtige Forschungsstand rekapituliert und die theoretischen Kontexte von Metaphorologie, Begriffsgeschichte, Diskursanalyse, Körpergeschichte und Biopolitik überblickt.

Die eigentliche Darstellung beginnt – methodisch-theoretisch weniger Interessierte können mit ihrer Lektüre direkt hier einsetzen – im dritten Kapitel mit der quellengestützten Untersuchung von Krankheitsmetaphern in verschiedenen politikbezogenen Diskursen der Weimarer Republik, so u. a. in journalistischen Texten, der politischen Theorie und nicht zuletzt dem biologischen und medizinischen Schrifttum. Der vierte Großabschnitt ist den „kranken Männern“ Weimars gewidmet: in mehreren Fallstudien werden die zeitgenössischen Selbstzeugnisse und Außenwahrnehmungen führender demokratischer Politiker, die auf unterschiedliche Weise erkrankt waren oder unter psychischen Belastungen litten, unter dem Blickwinkel des auf Susan Sontag zurückgehenden Diktums von der „Krankheit als Metapher“ betrachtet. Eine Schlussbetrachtung überblickt schließlich die Ergebnisse der Untersuchung. ← 6 | 7 →

Die Formulierung der leitenden Interessen und Forschungsfragen dieser Arbeit soll erst auf der Grundlage einer ausführlichen Darstellung von Begrifflichkeiten, Forschungskontexten und methodischer Basis im Anschluss erfolgen. Zur Quellenauswahl werden jeweils zu Beginn der beiden quellengestützten Kapitel einige Erläuterungen vorgenommen. ← 7 | 8 →


2 Platon: Der Staat, Achtes Buch, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher; Platons Werke, Dritten Theiles erster Band, Berlin 1828, S. 424.

3 Antonis Samaras im Interview; Paul Ronzheimer: „Die Drachme wäre eine Katastrophe für uns“, Bild-Zeitung v. 22.8.2012, Online-Ausgabe (http://www.bild.de/politik/ausland/antonis-samaras/griechenlands-premier-ueber-schulden-sparen-und-euroausstieg-25779000.bild.html). [15.8.2013]

Details

Seiten
322
Jahr
2016
ISBN (PDF)
9783631698372
ISBN (ePUB)
9783631698389
ISBN (MOBI)
9783631698396
ISBN (Hardcover)
9783631698365
DOI
10.3726/978-3-631-69837-2
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Oktober)
Schlagworte
Sprache Krise Politische Kultur Demokratie Moderne Burnout
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2016. XIV, 322 S., 5 Abb.

Biographische Angaben

Knut Langewand (Autor:in)

Knut Langewand ist Historiker und Archivar. Seit 2017 leitet er das Kreisarchiv Warendorf.

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Titel: Die kranke Republik
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