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Das Erstanmelderprivileg im Versammlungsrecht

Zur subsidiären Anwendbarkeit des Erstanmelderprivilegs bei der Lösung konkurrierender Versammlungen

von Wonkyu Park (Autor:in)
©2017 Dissertation 206 Seiten

Zusammenfassung

Nach Art. 8 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich zu versammeln. Wenn aber mehrere Versammlungen für die gleiche Zeit an demselben Ort angemeldet werden, ist die uneingeschränkte Ausübung der Versammlungsfreiheit faktisch unmöglich. Der Autor untersucht, wie der einschreitende Staat dabei die Ausübung der Versammlungsfreiheit ermöglicht, und fragt, nach welchen Kriterien der Staat gegen wen einschreiten darf. Das Erstanmelderprivileg, das bisher die versammlungsrechtliche Praxis häufig bestimmt, hat dazu geführt, dass die Veranstalter durch frühzeitige Anmeldungen beliebige Plätze reservieren. Der Autor stellt diese zweifelhaften Auswirkungen des Erstanmelderprivilegs infrage und schlägt eine verfassungskonforme Lösung des Problems vor.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Teil: Der Grundrechtskonflikt zwischen Versammlungen
  • A. Der Grundrechtskonflikt
  • I. Der Begriff
  • II. Auflösung von Konflikten
  • 1. Grundlage des staatlichen Einschreitens
  • a) Grundrecht als Schutzpflicht?
  • b) Grundrecht als Abwehrrecht
  • c) Stellungnahme
  • 2. Konfliktlösungsmodelle
  • a) Die Normbereichsanalyse
  • b) Die Güterabwägung im Einzelfall
  • c) Die praktische Konkordanz als Optimierungsgebot
  • d) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • aa) Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
  • bb) Unterschied zwischen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der praktischen Konkordanz?
  • cc) Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung
  • (1) Gegenüberstellung konkurrierender Grundrechte?
  • (2) Kritik und Stellungnahme
  • e) Ergebnis
  • 3. Konfliktlösungssubjekt
  • a) Judikative Entscheidung im Einzelfall?
  • b) Legslative Regelung der Konflikte
  • c) Stellungnahme
  • III. Ergebnis
  • B. Vorhandene Regelungen zur Lösung konkurrierender Versammlungen
  • I. Die Versammlungsfreiheit und ihre Grenze (Art. 8 GG)
  • 1. Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG
  • a) Begriff der Versammlung
  • aa) Mindestteilnehmerzahl
  • bb) Gemeinsamer Zweck
  • cc) Ergebnis
  • b) „Friedlich und ohne Waffen“
  • aa) Friedlichkeit
  • bb) Waffenlosigkeit
  • cc) Ergebnis
  • c) Vor- und Nachwirkung der Versammlungsfreiheit
  • 2. Schranken
  • a) Versammlungen „unter freiem Himmel“
  • b) Versammlungen „in geschlossenen Räumen“
  • c) Schranken-Schranken
  • d) Ergebnis
  • II. § 15 Abs. 1 VersG als primäre Regelung zur Lösung konkurrierender Versammlungen unter freiem Himmel
  • 1. Präventive Maßnahmen nach § 15 Abs. 1 VersG
  • a) Voraussetzung: Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung
  • b) Versammlungsrechtliche Auflagen
  • c) Verbote als Ultima Ratio
  • 2. Anwendung der Vorschrift bei konkurrierenden Versammlungen
  • III. Notwendigkeit rangbestimmender Kriterien
  • IV. Ergebnis
  • C. Resümee: Leitlinie für die gesamte Untersuchung
  • 2. Teil: Begriff und Ursprung des Erstanmelderprivilegs
  • A. Der Begriff des Erstanmelderprivilegs
  • B. Der Ursprung des Erstanmelderprivilegs
  • I. Das Prioritätsprinzip
  • 1. Begriff
  • 2. Geschichte des Prioritätsprinzips
  • a) Bis zum Mittelalter
  • b) Im heutigen Recht
  • 3. Ergebnis
  • II. Das Gefahrenverursacherprinzip als Ursprung des Erstanmelderprivilegs?
  • C. Resümee
  • 3. Teil: Die Anwendbarkeit des Erstanmelderprivilegs im Versammlungsrecht
  • A. Die versammlungsrechtliche Anmeldung
  • I. Begriff und Zweck der versammlungsrechtlichen Anmeldepflicht
  • II. Geschichtliche Entwicklung
  • a) Von der „Frankfurter Reichsverfassung“ von 1848 bis zum „Reichsvereinsgesetz“ von 1908
  • b) „Weimarer Reichsverfassung“ von 1919
  • c) Die Versammlungsfreiheit in der NS-Zeit
  • d) Ergebnis
  • III. Verfassungsmäßigkeit der Anmeldepflicht des § 14 VersG
  • 1. Rechtsprechung
  • 2. Meinungsstand
  • 3. Stellungnahme
  • IV. Rechtswirkung der Anmeldung
  • 1. Unterscheidung zwischen Erlaubnis und Anmeldung
  • 2. Rechtswirkung der Anmeldung
  • V. Ergebnis
  • B. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Erstanmelderprivilegs
  • I. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG
  • 1. Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG
  • a) Wesentliche Gleichheit und Ungleichbehandlung
  • b) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nach dem BVerfG
  • 2. Prüfung der aus dem Erstanmelderprivileg resultierenden Ungleichbehandlung nach dem allgemeinen Gleichheitssatz
  • a) Rechtfertigung der Ungleichbehandlung, insbesondere hinsichtlich ihres Zwecks
  • b) Zulässigkeit des Differenzierungskriteriums der zeitlichen Reihenfolge von Anmeldungen
  • aa) Zweckmäßigkeit des Erstanmelderprivilegs
  • bb) Leistung und Bedürfnis des Erstanmelders
  • cc) Praktikabilität, Klarheit und staatliche Neutralität
  • dd) Versammlungsautonomie
  • ee) Motivierung rechtzeitiger Anmeldung
  • ff) Ergebnis
  • 3. Ergebnis
  • II. Vereinbarkeit mit der Chancengleichheit
  • III. Ergebnis
  • C. Diskussionen über das Erstanmelderprivileg
  • I. Meinungsstand in Rechtsprechung und Schrifttum
  • 1. Analyse der einschlägigen Rechtsprechung
  • a) BVerfG, Beschluss vom 6.5.2005
  • b) OVG Koblenz, Beschluss vom 21.11.2003
  • c) VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.4.2002
  • d) VG Berlin, Urteil vom 23.2.2005
  • e) VG Berlin, Beschluss vom 24.9.1996
  • f) VG München, Beschluss vom 2.11.2005
  • g) VG Braunschweig, Urteil vom 28.2.2007
  • h) Ergebnis
  • 2. Schrifttum
  • a) Kritische Meinung
  • b) Zustimmende Meinung
  • 3. Stellungnahme
  • II. Diskussionen im Bundestag und in den Landtagen
  • 1. Bundestag
  • 2. Landtag Bayern
  • 3. Landtag Schleswig-Holstein
  • 4. Landtag Sachsen
  • 5. Landtag Baden-Württemberg
  • 6. Sonstige Landtage
  • 7. Ergebnis
  • III. Ergebnis
  • D. Voraussetzungen für die Anwendung des Erstanmelderprivilegs
  • I. Konkurrenz um begrenzt zur Verfügung stehende öffentliche Plätze
  • 1. Allgemeines
  • 2. Die Unterscheidung zwischen echter und unechter Konkurrenz
  • II. Nichtvorhandensein wertender Kriterien: die subsidiäre Anwendbarkeit des Erstanmelderprivilegs
  • III. Handlungszwang der Versammlungsbehörde
  • IV. Ergebnis
  • E. Kritik und Ergänzung zum Erstanmelderprivileg
  • I. Problemstellung: Kritik am Erstanmelderprivileg
  • 1. Vorsorgliche bzw. Scheinanmeldungen
  • 2. Das Problem gleichzeitiger Anmeldungen
  • II. Ergänzung zum Erstanmelderprivileg
  • 1. Grundsatz: subsidiäre Anwendung des Erstanmelderprivilegs
  • 2. Modifizierung des Erstanmelderprivilegs
  • a) Das versammlungsrechtliche Gruppenprinzip
  • b) Lösung der Konkurrenz innerhalb einer Gruppe
  • aa) Absprache zwischen Versammlungsanmeldern
  • bb) Losverfahren als Ultima Ratio
  • (1) Problemstellung
  • (2) Anwendungsbereich des Losverfahrens
  • (3) Rechtfertigung des Losverfahrens im Versammlungsrecht
  • (4) Kritik und Ergänzung des Losverfahrens
  • (5) Ergebnis
  • 3. Sanktionierung der wesentlich unrichtigen Anmeldung als Ordnungswidrigkeit
  • III. Ergebnis
  • F. Resümee
  • 4. Teil: Primäre Kriterien bei der Lösung konkurrierender Versammlungen
  • A. Wertende Kriterien als primär anzuwendende Kriterien
  • B. Wertende Kriterien im Versammlungsrecht
  • I. Verursacherprinzip
  • 1. Bedeutung des Verursacherprinzips im Versammlungsrecht
  • 2. Unmittelbare Gefährdung als versammlungsspezifischer Gefahrenbegriff
  • a) Unmittelbarkeit im temporalen oder kausalen Sinne
  • b) Unmittelbare Gefährdung – eine qualifizierte Gefahr?
  • 3. Erweiterung bzw. Ausnahme des Verursacherprinzips
  • a) Zweckveranlasser
  • b) Polizeilicher Notstand
  • 4. Grenze der Problemlösung durch das Verursacherprinzip
  • 5. Ergebnis
  • II. Bedeutung des Ortes und Zeitpunktes für die Verfolgung des Versammlungszwecks
  • III. Wichtigkeit des Versammlungsthemas?
  • IV. Teilnehmerzahl?
  • a) Im Regelfall
  • b) Ausnahme
  • C. Rangordnung der wertenden Kriterien
  • I. Die praktische Konkordanz als Leitlinie
  • II. Das Verursacherprinzip als zuerst zu prüfendes Kriterium
  • III. Ausgleich anhand anderer wertender Kriterien: Kommt eine beschränkende Verfügung dem faktischen Verbot gleich?
  • D. Resümee
  • 5. Teil: Zur Normierung des Erstanmelderprivilegs und anderer Konkurrenzlösungskriterien im Versammlungsgesetz
  • A. Problemstellung: Rechtsunsicherheit wegen des weiten behördlichen Ermessens
  • B. Grundrechtsschutz durch das versammlungsrechtliche Verfahrensrecht
  • I. Konkurrenzlösung aufgrund des Versammlungsverfahrensrechts
  • 1. Die grundrechtssichernde Funktion des Verfahrensrechts
  • 2. Das Verfahren und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
  • 3. Das Verfahren und die Chancengleichheit
  • II. Gegenwärtige Rechtslage über das Erstanmelderprivileg und andere Konkurrenzlösungskriterien
  • 1. § 15 Abs. 1 VersG als primäre Regelung bei der Konkurrenzlösung
  • 2. § 22 VwVfG als Rechtsgrundlage des Erstanmelderprivilegs?
  • 3. Ergebnis
  • III. Ergebnis
  • C. Beispiel: Das Erstanmelderprivileg im koreanischen Versammlungsgesetz
  • I. Überblick
  • II. Das Erstanmelderprivileg des § 8 Abs. 2 des koreanischen VersG
  • III. Meinungsstand in der koreanischen Rechtsprechung und Literatur
  • 1. Rechtsprechung
  • a) Kor. VerfG, Beschluss vom 29.5.2008
  • b) Kor. OGH, Urteil vom 11.12.2014
  • c) VG Seoul, Urteil vom 24.11.2011
  • d) Ergebnis
  • 2. Literatur
  • 3. Stellungnahme: Kritik an der Regelung des KVersG
  • D. Vorschlag zur Normierung versammlungsgesetzlicher Konkurrenzlösungskriterien
  • I. Problemstellung
  • II. Gesetzesvorschlag und Begründung
  • 1. Gesetzesvorschlag
  • 2. Begründung der einzelnen Vorschriften
  • a) Zu § 14 Abs. 3 – Mitteilungspflicht
  • b) Zu § 15a – Konkurrenzlösungskriterien
  • aa) Zu Abs. 1 – Das Verursacherprinzip als ein Grundsatz
  • bb) Zu Abs. 2 – Wertende Kriterien zur Herstellung praktischer Konkordanz
  • cc) Zu Abs. 3 – Das Erstanmelderprivileg als ein subsidiäres Kriterium
  • dd) Zu Abs. 4 – Die Absprache und das Losverfahren als Ultima Ratio
  • c) Zu § 29 Abs. 1 – Sanktionierung als Ordnungswidrigkeit
  • Zusammenfassung der Ergebnisse
  • Literaturverzeichnis

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Einleitung

Nach Art. 8 GG haben alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit spielt in einer mittelbaren Demokratie eine wesentliche Rolle, weil auch politische Minderheiten durch dieses Grundrecht am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen können. Die Versammlungsfreiheit ist also für eine freiheitliche demokratische Ordnung konstituierend.1

Wenn aber mehrere Versammlungen für die gleiche Zeit an demselben Ort angemeldet werden, kann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung entstehen. Insbesondere bereiten rechtsextremistische Versammlungen große Probleme, weil sie häufig Gegenversammlungen durch Linksextremisten oder andere Bürger provozieren. Dabei muss die Versammlungsbehörde einschreiten, um die Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren und die Versammlungsfreiheit zu garantieren. Die Versammlungsbehörde kann dabei hauptsächlich durch versammlungsrechtliche Auflagen oder Verbotsverfügungen des § 15 Abs. 1 VersG die Konkurrenz zwischen Versammlungen auflösen.

Hier taucht aber die Frage danach auf, welche Maßnahme die Versammlungsbehörde nach welchen Kriterien gegen wen erlassen soll. Hinsichtlich konkurrierender Versammlungen hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 6.5.2005 Folgendes ausgeführt:

„Kommt es zu konkurrierenden Nutzungswünschen, ist eine praktische Konkordanz bei der Ausübung der Grundrechte unterschiedlicher Grundrechtsträger herzustellen. Dabei kann die Behörde aus hinreichend gewichtigen Gründen unter strikter Berücksichtigung des Grundsatzes inhaltlicher Neutralität von der zeitlichen Reihenfolge der Anmeldung einer Versammlung abweichen.“2

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll also eine Konkurrenz zwischen Versammlungen grundsätzlich so gelöst werden, dass eine praktische Konkordanz zwischen konkurrierenden Versammlungsfreiheiten hergestellt wird. Dabei soll möglichst alle Versammlungsfreiheit verwirklicht werden. Die Behörde kann aber bei Vorliegen hinreichend gewichtiger Gründe vom Erstanmelderprivileg abweichen. Nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts gilt also das Erstanmelderprivileg grundsätzlich, aber nicht absolut. ← 15 | 16 →

Im Hinblick auf diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Tendenz zu beobachten, die Bedeutung des Erstanmelderprivilegs abzuschwächen. Aus Sicht der Kritiker scheint das Erstanmelderprivileg unlogisch und irrational zu sein. Ferner kann das Erstanmelderprivileg in der Versammlungspraxis zu unerwarteten Nachteilen führen, etwa zur frühzeitigen oder flächendeckenden Anmeldung zur Reservierung öffentlicher Plätze oder zur Verhinderung anderer Versammlungen. Außerdem hat das Erstanmelderprivileg keine Rechtsgrundlage im Versammlungsgesetz. Zwar kann die Versammlungsbehörde bei der Lösung einer Konkurrenz nach pflichtgemäßem Ermessen erforderliche Maßnahmen gemäß § 15 Abs. 1 VersG erlassen,3 jedoch ist diese Regelung bei der Konkurrenzlösung zu unbestimmt und unzureichend. Demnach ist im Hinblick auf eine grundrechtsbeschränkende Wirkung der staatlichen Konkurrenzlösungsentscheidung und auf eine grundrechtssichernde Funktion des Verfahrensrechts die Normierung des Konkurrenzlösungsverfahrens im Versammlungsgesetz erforderlich.4

Es soll also aufgeklärt werden, ob, wie und unter welchen Voraussetzungen das Erstanmelderprivileg im Versammlungsrecht angewendet werden kann. Obwohl das Erstanmelderprivileg bei konkurrierenden Versammlungen viel erwähnt wird, sind all diese Fragen bis jetzt beinahe unbeantwortet geblieben. Im Bereich des Zivilrechts5 und der staatlichen Güterverteilung6 gibt es mehrere ausführliche Untersuchungen über das (ursprüngliche) Prioritätsprinzip. Aber in der Literatur zum ← 16 | 17 → Versammlungsrecht wurde das Prinzip nur am Rande7 und dementsprechend inhaltlich unzureichend untersucht. Unsicherheit beherrscht also die Anwendung des Erstanmelderprivilegs. Es bedarf einer Klärung. Ferner ist es fraglich, ob das Erstanmelderprivileg, wie das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat, bei der Konkurrenzlösung grundsätzlich gilt. Ziel der Untersuchung ist es demnach, herauszufinden, ob das Erstanmelderprivileg bei der Konkurrenzlösung zwischen Versammlungen angewendet werden kann und, wenn ja, wie und unter welchen Voraussetzungen es angewendet werden darf. Diese Arbeit beschränkt sich dabei auf Versammlungen „unter freiem Himmel“, weil nur diese Versammlungen nach § 14 VersG anmeldepflichtig sind.

Die Untersuchung wird in fünf Teile gegliedert. Zunächst wird im ersten Teil untersucht, worum es sich bei der Konkurrenz zwischen Versammlungen handelt. Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung erklärt hat, geht es hier um eine Rechtsgüterkollision unterschiedlicher Grundrechtsträger.8 Um die Problematik konkurrierender Versammlungen anschaulich zu machen, soll die Rechtsfigur des Grundrechtskonflikts zunächst erörtert werden. Danach werden im zweiten Teil Begriff und Ursprung des Erstanmelderprivilegs untersucht. Erst nach der Aufklärung von Begriff und Ursprung des Erstanmelderprivilegs können weitere Untersuchungen durchgeführt werden. Aufgrund des im vorigen Teil entwickelten Verständnisses wird im dritten Teil untersucht, ob das auf dem Prioritätsprinzip beruhende Erstanmelderprivileg im Versammlungsrecht angewendet werden kann. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass das Erstanmelderprivileg nur subsidiär anwendbar ist. Im vierten Teil soll daher der Frage nachgegangen werden, welche Kriterien bei der Lösung konkurrierender Versammlungen als primäre Kriterien herangezogen werden können. Schließlich wird im fünften Teil untersucht, ob die Konkurrenzlösungskriterien einer speziellen Norm im Versammlungsgesetz bedürfen.


1 BVerfGE 69, 315 (345).

2 BVerfG, NVwZ 2005, 1055 (1057).

3 Nach der Rechtsprechung des OVG Koblenz (NVwZ-RR 2004, 848) obliegt die Abwägung, ob und inwieweit gegenläufigen Interessen die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit rechtfertigen, allein den Behörde und Gerichten.

4 Vgl. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 86.

5 Stürner, Prinzipien der Einzelzwangsvollstreckung, ZZP 99 (1986), 291 ff.; Schlosser, Vollstreckungsrechtliches Prioritätsprinzip und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz, ZZP 97 (1984), 121 ff.; Neuner, Der Prioritätsgrundsatz im Privatrecht, AcP 203 (2003), 46 ff.; Siebert, Das Prioritätsprinzip in der Einzelzwangsvollstreckung, 1988; Welbers, Vollstreckungsrechtliches Prioritätsprinzip und verfassungsrechtlicher Gleichheitssatz, 1991; Becker, First in time, first in right. Das Prioritätsprinzip im deutschen und US-amerikanischen Zwangsvollstreckungsrecht, 1999.

6 Voßkuhle, „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“ – Das Prioritätsprinzip als antiquierter Verteilungsmodus einer modernen Rechtsordnung, Die Verwaltung 32 (1999), 21 ff.; Berg, Die Verwaltung des Mangels. Verfassungsrechtliche Determinanten für Zuteilungskriterien bei knappen Ressourcen, Der Staat 15 (1976), 1 ff.; Tomuschat, Güterverteilung als rechtliches Problem, Der Staat 4 (1973), 433 ff.; Gethmann/ Kloepfer/Reinert, Verteilungsgerechtigkeit im Umweltstaat, 1995; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008.

7 Kniesel/Poscher, in: Lisken/Denninger, HPolR, Kap. K Rn. 257 f.; Ullrich, Typische Rechtsfragen bei Demonstration und Gegendemonstration, DVBl 2012, 666 (667); Waechter, Maßgaben für neue Versammlungsgesetze der Länder, Verwaltungsarchiv 2008, 73 (92); Jenssen, Die versammlungsrechtliche Auflage, 2009, S. 146 ff.; Hobbeling, Präventives Einschreiten gegen Demonstrationen, 1973, S. 127 ff.

8 BVerfG, NVwZ 2005, 1055 (1056 f.).

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1. Teil: Der Grundrechtskonflikt zwischen Versammlungen

Bei der Problematik konkurrierender Versammlungen handelt es sich um einen Grundrechtskonflikt verschiedener Versammlungen. Wenn also zwei oder mehrere Versammlungsveranstalter ihr Grundrecht der Versammlungsfreiheit an einem bestimmten Ort gleichzeitig ausüben wollen, wird der tatsächliche Konflikt ausgelöst. Die Ausübung einer Versammlungsfreiheit wird in diesem Fall durch die Ausübung anderer Versammlungsfreiheit bedroht.9 Wenn dieser Konflikt durch beteiligte Versammlungsveranstalter bzw. -teilnehmer nicht zu lösen ist, soll der Staat einschreiten, um ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen.10 Wie diese Probleme zu lösen sind und insbesondere ob das Erstanmelderprivileg im Versammlungsrecht anzuwenden ist, ist Gegenstand dieser Untersuchung.

Vor der Untersuchung der Anwendbarkeit des Erstanmelderprivilegs soll aber zunächst aufgeklärt werden, worum es sich bei dieser Problematik handelt und wie sie gelöst werden kann (A). Im Anschluss daran erfolgt die Erörterung, wie und nach welchen gesetzlichen Regelungen die Konkurrenz zwischen Versammlungen bisher geschlichtet worden waren (B). Durch diese Analysen wird gezeigt, wohin die gesamte Untersuchung geführt werden soll.

A. Der Grundrechtskonflikt

Wie schon erwähnt, handelt es sich bei konkurrierenden Versammlungen um den Grundrechtskonflikt. Im Folgenden soll daher der Frage nachgegangen werden, was der Grundrechtskonflikt ist (I) und wie er zu lösen ist (II).

I. Der Begriff

Der Grundrechtskonflikt stellt Dreieckskonstellationen dar, an denen zwei (oder auch mehrere) Grundrechtsberechtigte und der Staat teilnehmen. Dabei treffen gleiche11 oder verschiedene12 Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger ← 19 | 20 → zusammen und werden die Ausübungen beider Grundrechten gegenseitig beeinträchtigt.13 In dieser Situation soll der Staat als Grundrechtsgarant konkurrierende Grundrechtsposition der Bürger ausgleichen.14

Häufig bezeichnet man diese Situation als Grundrechtskollision.15 Kollisionen in diesem Sinne sind die faktische Kollision zwischen Menschen, die aus dem wildwüchsigen Gebrauch von Freiheiten resultieren.16 Es soll aber der Frage nachgegangen werden, ob die faktische Kollision der Grundrechtsträger als Grundrechtskollision bezeichnet werden kann. Grundsätzlich können Grundrechte als Abwehrrechte aber nicht miteinander kollidieren, weil sie sich nur gegen den Staat richten.17 Es soll also die „faktische Beeinträchtigung des Lebensbereichs“18 durch Private und staatliche Grundrechtseingriff unterschieden werden. Zwar können die Interessen der Grundrechtsträger miteinander kollidieren, es können jedoch die gegen den Staat gerichteten Grundrechte nicht miteinander kollidieren.19 Weil der Adressat des Grundrechts nicht die Private, sondern der Staat ist. Aus diesem Anlass wird die Problematik in dieser Arbeit nicht als „Grundrechtskollision“, sondern als „Grundrechtskonflikt“ bezeichnet.20

Details

Seiten
206
Jahr
2017
ISBN (PDF)
9783631700723
ISBN (ePUB)
9783631705582
ISBN (MOBI)
9783631705599
ISBN (Paperback)
9783631699225
DOI
10.3726/b10574
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (November)
Schlagworte
Prioritätsprinzip im Versammlungsrecht Grundrechtskollision Praktische Konkordanz Güterabwägung Anmeldepflicht Scheinanmeldung
Erschienen
Frankfurt am Main, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2017. 206 S.

Biographische Angaben

Wonkyu Park (Autor:in)

Wonkyu Park studierte Rechtswissenschaft in Korea und Freiburg. Er verbrachte einen Forschungsaufenthalt an der Universität Heidelberg und wurde an der Universität Freiburg promoviert. Der Autor ist als Wissenschaftler am Korean Police Science Institute tätig.

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